Porträt von Christian P. Hoffmann. 7 min
"Die Vorstellung, dass Bürger unbescholten im Internet rumsurfen, eine Falschmeldung sehen und dann in ihrem politischen Weltbild erschüttert werden, ist unplausibel", sagt Christian P. Hoffmann. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Universität Leipzig Tobias Tanzyma

Interview mit Christian P. Hoffmann Ist die Angst vor Fake News übertrieben?

25. Juli 2024, 15:50 Uhr

Im Interview erklärt Christian P. Hoffmann, Professor für Kommunikationsmanagement, warum sich viele Menschen um Fake News Sorgen machen, obwohl sie kaum damit in Kontakt kommen. Und warum er diese Angst für übertrieben hält.

MEDIEN360G: 84 % der Deutschen sehen Desinformation als großes Problem für unsere Gesellschaft an. Wie bewerten Sie diese Sorge?

Christian P. Hoffmann: Ja, schon ein bisschen Verwunderung. Aber es ist halt so, dass sich dort der mediale und der öffentliche Diskurs einfach niederschlägt. Man sieht, dass halt seit 2016 sehr intensiv diskutiert wird über das Thema Fake News und Desinformation. Und dieser öffentliche Diskurs prägt offensichtlich die Sicht der gesellschaftlichen Funktionseliten auf das Thema. Das sieht man an diesem Risikobericht, also dass dort Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger das Thema inzwischen an der Spitze der Agenda sehen und dann trickled (Anm. der Red.: engl. "trickle", zu dt. tröpfeln) das sozusagen runter auf die Bevölkerung. Und auch die Bürgerinnen und Bürger übernehmen dann diese Sichtweise. Aber ob das gerechtfertigt ist oder nicht, das steht auf einem anderen Blatt.

MEDIEN360G: Warum machen sich so viele Menschen in Deutschland Sorgen um Desinformation?

Christian P. Hoffmann: Also unsere Umfragen zeigen auch, dass sehr, sehr viele Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, laufend Desinformation im Internet zu begegnen. Also das ist ein sehr zentraler Treiber dieser Sorgen. Und die Frage ist dann eigentlich: Was meinen die Bürgerinnen und Bürger eigentlich, wenn sie über Desinformation oder Fake News sprechen? Und da wird es dann halt sehr schnell diffus. Also wenn man halt ein sehr breites und unklares Verständnis davon hat, was Desinformation ist, dann ist irgendwie klar, dass ich auch viel davon sehe. Es gibt Befragungen, die dann zum Beispiel versuchen herauszufinden: Wen meinst du, wenn du sagst, du siehst Desinformation verbreitet durch einen Akteur in den sozialen Medien? Und das Ergebnis ist: An der Spitze stehen Politikerinnen und Politiker, gefolgt von politischen Aktivisten, NGOs und so weiter und an dritter Stelle schon kurz dahinter Journalisten. Das heißt, es ist ein, wie gesagt sehr diffuses Verständnis von Desinformation.

MEDIEN360G: Wie intensiv kommt denn der Normalbürger im Alltag mit Desinformationen in Kontakt?

Christian P. Hoffmann: Also ich glaube, je mehr man sich tatsächlich nur aus dem Internet informiert, desto höher ist dieser Prozentsatz. Aber selbst bei jungen Menschen, die zum Beispiel sehr viel sich aus Social Media informieren, sprechen wir vielleicht von einem Prozent. Und bei Bürgerinnen und Bürger, die eine breitere Mediennutzung haben, von etwa 0,15 Prozent laut den amerikanischen Daten. Und dazu muss man sagen, dass diese amerikanischen Daten vermutlich höher sind, als das in Deutschland der Fall ist, weil wir unterscheiden in der Forschung auch zwischen der Anfälligkeit von Ländern für Mis- und Desinformation.

Und da gibt es verschiedene Einflussfaktoren, wie zum Beispiel: Hat man ein Zwei-Parteien-System, das eben stärker polarisiert ist oder ein Mehrparteiensystem? Ist das Mediensystem polarisiert? Wie hoch ist das Institutionenvertrauen? Und nach vielen diesen Indikatoren sind eigentlich die USA so was wie ein Extremfall im Westen, die recht anfällig sind für ein bisschen Desinformation.

Und in Deutschland stehen wir eigentlich deutlich besser da. Wir haben ein sehr vielfältiges Mediensystem, hohes Institutionenvertrauen im Verhältnis, kein polarisiertes Parteiensystem. Und so gesehen ist die Resilienz, wie das so schön genannt wird, in Deutschland eigentlich höher. Deswegen würde ich davon ausgehen, dass diese Prozentzahlen bei uns eigentlich sogar noch etwas tiefer sind als in den USA.

Wenn wir uns diese Durchschnittswerte anschauen von, sagen wir weniger als einem Prozent, dann müssen wir dazu sagen: Das ist in der Bevölkerung sehr ungleich verteilt. Also ich beschreibe das immer als so eine Art exponentielle Kurve. Das heißt, wir haben sozusagen eine kleine, kleine Minderheit von Bürgerinnen und Bürgern, die sehr intensiv so was wie Fake News konsumieren, weil sie es wollen, weil sie aktiv danach suchen, weil sie unzufrieden sind mit den Institutionen, auch mit den Medien, eine bestimmte Weltsicht haben, die vielleicht in den Medien nicht abgebildet wird. Und dann suchen die nach Alternativen und landen eben bei qualitativ fragwürdigen Quellen.

Und das heißt, Untersuchungen zum Beispiel zum Einfluss russischer Trolle während des Präsidentschaftswahlkampfs 2016 zeigten, dass auf Twitter ich meine 70 Prozent des Konsums dieser Inhalte bei einem Prozent der Nutzer konzentriert waren. Also das heißt, wirklich wenige konzentrieren bewusst, weil sie es wollen, relativ viele Fake News. Aber das bedeutet natürlich, dass für den Rest nicht mehr viel übrigbleibt. Das heißt, diese, sagen wir weniger als ein Prozent, sind ja ein Durchschnitt. Und wenn wir sehen, dass ein großer Teil davon von ganz wenigen konsumiert wird, heißt das, dass die breite Bevölkerung wirklich so gut wie keine Fake News konsumiert.

Die Vorstellung, dass Bürgerinnen und Bürger unbescholten im Internet rumsurfen, eine Falschmeldung sehen und dann in ihrem politischen Weltbild erschüttert werden, ist aus mehreren Gründen unplausibel. Also erstens ist es so, dass wir bei Wirkungen unterscheiden müssen zwischen Wissen, Einstellungen und Verhalten. Wissen ist relativ einfach zu beeinflussen, wobei selbst da gibt es natürlich viele psychologische, wie soll man sagen, Widerstände. Wenn ich mir halt schon ein bestimmtes Wissen aufgebaut habe, dann hinterfrage ich das nicht jedes Mal komplett, wenn ich was Neues höre. Einstellungen sind schon sehr viel schwieriger zu beeinflussen und Verhalten nochmal schwieriger zu beeinflussen.

Und das heißt, wenn ich über eine Fake News stolpere, ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein Wissen sich verändert, schon klein. Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Einstellungen oder Verhalten sich verändern sehr, sehr, sehr klein. Und insofern ist diese Virus-Analogie, die wir oft sehen, Menschen stolpern über eine Falschinformation und werden von der angesteckt, sehr irreführend.

Vielmehr ist es eigentlich so, dass wir oft beobachten, dass Menschen richtige Informationen ablehnen. Also das heißt, die Wahrscheinlichkeit ist eigentlich höher, dass ich im Internet herumsurfe, etwas sehe, was wahr ist, aber keine Lust habe, dazuzulernen und deswegen eine richtige Information ablehne. Und das ist, glaube ich, eine völlig andere Art, über das Problem nachzudenken.

MEDIEN360G: Werden also die Gefahren, die von Fake News ausgehen, überbewertet?

Christian P. Hoffmann: Also aus meiner Sicht, und da mögen mir andere widersprechen, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Wir betreiben seit Jahren Panikmache, was dieses Thema angeht und die erstgenannten Zahlen, die Sie erwähnt haben, 80 Prozent der Bevölkerung usw. zeigen ja, dass diese Panik auch inzwischen auf die Bevölkerung übergesprungen ist. Mich wundert das, muss ich sagen, aus einer Perspektive der Forschung sehr, weil wir eigentlich in der Kommunikations- und Medienwissenschaft schon lange sagen, dass Medienwirkungen relativ klein sind, dass persuasive Wirkungen von Medien sehr schwierig zu erzielen sind. Wir wissen auch, dass zum Beispiel politische Werbewirkungen sehr, sehr klein sind. Und jetzt kommt dieses Thema Fake News in Social Media auf und wir werfen alle diese Erkenntnis auf einmal weg und glauben auf einmal: Menschen sind wie ein Fähnchen im Wind und sind unglaublich leicht zu beeinflussen. Die ganze Prämisse dieser Diskussion ist aus meiner Sicht schon unplausibel.

Und inzwischen haben wir ja auch sehr viel Forschung, die zeigt, wie gering die Verbreitung ist, wie schwierig solche Überzeugungseffekte sind, gerade was Einstellungen und Verhalten angeht. Aber diese Erkenntnisse dringen im öffentlichen Diskurs nicht durch. Und ich glaube, da haben wir schon ein gewisses Problem im Medien-Agenda-Setting, im Framing dieser Debatte.

Und wir haben auch ein bisschen ein Problem, was die gesellschaftlichen Funktionseliten angeht. Also wenn Politikerinnen und Politiker die ganze Zeit sagen, überall ist Fake News, überall ist Desinformation, dann müssen die sich vielleicht auch mal überlegen: Was löst das eigentlich aus? Nicht nur Angst, sondern das löst auch eine Delegitimierung der Politik aus. Also, wenn Bürgerinnen und Bürger glauben, dass wir alle ständig von Fake News umgeben sind und davon beeinflusst werden, dann führt das ja recht schnell dazu, dass ich dann Wahlergebnisse nicht mehr akzeptiere, weil ich sage: Na ja, die Leute, die diese Partei gewählt haben, die sind halt zum Opfer von Fake News geworden. Also, dass Institutionenvertrauen, das Vertrauen in die Medien, das Vertrauen in die Politik wird geschwächt durch diese allzu ängstliche Diskussion um die vermutete Beeinflussbarkeit von Mitbürgern.

Sicher in der digitalen Welt

Ein Politiker steht vor Mikrofonen, lächelt in die Kamera und reckt beide Daumen nach oben. Das Foto hat mehrere digitale Bildfehler.
Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen meint, Desinformation gefährde die Demokratie. Manche Experten halten die Angst vor Fake News für übertrieben. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Kinder arbeiten im Unterricht auf ihren Tablets.
Ab dem nächsten Schuljahr werden Schulkinder in Thüringen im neuen Fach Medienbildung und Informatik unterrichtet. Bildrechte: IMAGO / Funke Foto Services
Ein Mann und eine Frau posieren mit ihrem Säugling für ein Selfie.
Bevor Kinder fünf Jahre alt sind, sind bereits durchschnittlich 1500 Bilder von ihnen im Netz, so eine Studie. Und einmal online, haben die Eltern keine Kontrolle mehr darüber, wie die Bilder verwendet werden. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Zwei Kleinkinder sitzen nebeneinander und haben ein Smartphone und ein Tablet in der Hand.
Der Medienkonsum von Kindern kann mittels verschiedener Apps besser von den Eltern kontrolliert werden. Bildrechte: Panthermedia | MDR MEDIEN360G

Medien im Fokus

Ein Mann ist in drei Situationen abgebildet: in nachdenkender Pose, mit einem Tablet in der Hand, mit einer Kamera in der Hand. Im Hintergrund ist eine Fernsehregie zu sehen.
Reporter wie Olaf Nenninger arbeiten oft unter Zeitdruck, damit ein Nachrichtenbeitrag noch am selben Tag gesendet werden kann. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: Daniela Dufft
Eine Person hat ein Smartphone in den Händen. An den Handgelenken ist die Person mit einer Kette gefesselt.
Ob Bahnticket oder Arzt- und Behördentermin – ohne Smartphone und Internet geht fast nichts mehr. Wer sich dem verweigert, läuft Gefahr, abgehängt zu werden. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Ein Mann im Rollstuhl spricht in eine Kamera auf einem Stativ.
Aus dem digitalen Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen mit einer Krankheit machen, können Betroffene Hoffnung und Mut schöpfen. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Ein Reporter steht in kniehohem Wasser und spricht in ein Mikrofon. Eine Person mit Kamera filmt ihn.
Der Klimawandel beeinflusst alle Lebensbereiche. Die Herausforderung für Journalisten ist es, das Thema als Teil ihrer Berichterstattung anzusehen und lösungsorientiert zu berichten. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | dpa

Rundfunk, Presse und Politik

Im Hintergrund sitzt eine Person. Sie ist nicht erkennbar. Im Vordergrund ist ein Mikrofon zu sehen.
Lokaljournalisten, die in Dörfern und Kleinstädten arbeiten, laufen Gefahr, dass sich ihr Berufsleben auch auf ihr Privatleben auswirkt. Sie haben Sorge vor Übergriffen, weil nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Wohnorte oder Autos häufig bekannt sind. Bildrechte: MDR MEDIEN360G
Stilisierte Grafik zur ARD-Reform mit dem ARD-Logo am Haken eines Krans und einem grafisch dargestellten Baugerüst mit einem Bauarbeiter sowie Geldscheinen im Bildhintergrund. mit Video
Was soll der Öffentlich-Rechtliche leisten? Was soll er kosten? Darüber wird derzeit viel diskutiert. Dass es Reformbedarf gibt, das ist weitgehend Konsens. Nicht nur in der Politik, auch in den Rundfunkanstalten selbst. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G