Abgestufte Chancengleichheit Nicht alle Parteien werden gleich berücksichtigt
Hauptinhalt
02. August 2021, 09:22 Uhr
Bei den Bundestagswahlen am 26. September 2021 können 53 Parteien antreten. Das sind noch einmal mehr als beim letzten nationalen Urnengang 2017, als sich 42 Parteien um die 598 Sitze im Parlament bewarben. Doch längst nicht alle von ihnen schaffen den Einzug in die großen Wahlsendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Was ARD, ZDF und Deutschlandradio hier zu beachten haben, regelt das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Prinzip der "abgestuften Chancengleichheit“.
Denn für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gelten in der politischen Berichterstattung - und bei Wahlen ganz besonders - bestimmte Spielregeln. Natürlich bleiben die journalistischen Kriterien, was berichtenswert ist, in Kraft. Der MDR darf aber nicht - wie zum Beispiel Zeitungen oder andere Medien - "Partei" ergreifen und sich beispielsweise für eine bestimmte Partei, eine politische Gruppierung oder deren Kandidatinnen und Kandidaten aussprechen. Er muss vielmehr ausgewogen und überparteilich über die Themen berichten, die im Zusammenhang mit den anstehenden Wahlen von Bedeutung sind. Dabei muss er die einzelnen Parteien und ihre Vertreterinnen und Vertreter fair und angemessen behandeln.
Der bisherige Erfolg einer Partei spielt eine große Rolle
Hierzu gibt es das Prinzip der "abgestuften Chancengleichheit". Wie das "abgestuft" schon andeutet, bedeutet es gerade nicht, dass öffentlich-rechtliche Medien die Parteien alle völlig gleich behandeln müssen. Vielmehr ist eine Abstufung nach der Bedeutung der Parteien zulässig. Um diese Bedeutung einer Partei zu ermitteln, schauen die öffentlich-rechtlichen Medien zunächst das Ergebnis bei der letzten vergleichbaren Wahl an. Auch die Erfolge der Parteien bei anderen Wahlen auf Bundes- und Landesebene werden berücksichtigt. Außerdem spielen noch weitere Kriterien eine Rolle, etwa wie lange es eine Partei schon gibt und wie regelmäßig sie sich zur Wahl stellt. Nach diesen Kriterien werden alle Parteien dann in mehrere Kategorien eingeteilt. Alle innerhalb einer Kategorie vertretenen Parteien müssen vergleichbar behandelt werden. Zwischen den verschiedenen Kategorien ist dagegen eine Abstufung zulässig.
Nach der Faustregel sind in der ersten Gruppe die "großen" Parteien, die schon in den Parlamenten vertreten sind. Auf Bundesebene sind das CDU/CSU, SPD, FDP, B90/Grüne, Die Linke und die AfD. Wenn es zum Beispiel eine Elefantenrunde zur Wahl mit den Spitzenkandidatinnen und -kandidaten gibt, müssen alle eingeladen werden.
In der zweiten Gruppe finden sich die zumeist kleineren Parteien wieder. Auch hier gilt: Über sie und ihre Kandidatinnen und Kandidaten muss vergleichbar berichtet werden. Sie kommen aber nicht so detailliert im Programm vor wie die Parteien der ersten Gruppe. Hier genügt, wenn über sie kurz und knapp berichtet wird.
Auch Wahlumfragen und Prognosen werden berücksichtigt
Welche Kriterien benutzt werden können, um die "Bedeutung" der Parteien festzustellen, hat der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestag 2018 nochmal in einem Papier über die "Präsenz politischer Parteien in Wahlbeiträgen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" beschrieben.
Die Faustregel lautet: Ist eine Partei bislang nicht im Parlament vertreten und schafft nach aktuellen Wahlumfragen auch nicht die Fünf-Prozent-Hürde, ist es zulässig, dass diese Partei auch bei Medienbeiträgen wie beispielsweise Interviewrunden zur Wahl nicht mit einem Vertreter repräsentiert ist.
Das Prinzip stammt aus der alten Bundesrepublik und hat schon knapp 60 Jahre auf dem Buckel. 1962 fühlte sich die FDP in Nordrhein-Westfalen vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) benachteiligt, weil dieser ihr nicht die gleiche Sendezeit im Programm einräumen wollte wie SPD und CDU.
Mit "Sendezeit" waren dabei nicht von den Parteien produzierte Wahlwerbespots (Wahlwerbung) gemeint, sondern wie oft und wie lange die Partei bzw. ihre Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker in den Sendungen des WDR vorkamen. Damals gab es zwar noch keine TV-Duelle, aber durchaus vergleichbare Runden in Fernsehen und Hörfunk. Am Ende entschied das Gericht, dass die jeweilige Bedeutung der politischen Parteien bis zu einem gewissen Grade "auch (…) im Rundfunk durch eine Abstufung der Sendezeiten" deutlich gemacht werden könnte und gab dem WDR Recht.
Alle Parteien, die zur Wahl antreten, müssen berücksichtigt werden
Das heißt aber nicht, dass kleinere Parteien, denen die Umfragen wenig Chancen auf einen Einzug in das zu wählende Parlament vorhersagen, komplett außen vorgelassen werden können. So ein Ausschluss wäre nicht zulässig: "Insbesondere dürfen kleine Gruppen, die zur Teilnahme an der Wahl im Sendebereich zugelassen sind, nicht von der Rundfunkpropaganda gänzlich ausgeschlossen werden", schrieben schon 1962 die Verfassungsrichter. Das gilt bis heute.
Kritische Stimmen monieren allerdings, dass es neue Parteien durch diese Regelungen schwer haben. Denn der Sprung aus der Gruppe der kleinen Parteien in eine höhere Kategorie gelingt im Prinzip fast immer erst mit dem Einzug in ein Landesparlament oder den Bundestag. Die Piratenpartei kann ein Lied davon singen und musste selbst lange auf diesen "Aufstieg" warten. Die 2006 gegründeten Piraten verstehen sich als Partei der digitalen Informationsgesellschaft und erzielten ab 2009 erste Wahlerfolge auf kommunaler Ebene. Ab Herbst 2011 zog sie dann in die Landesparlamente in Berlin, im Saarland, in Schleswig-Holstein und zuletzt im Mai 2012 in Nordrhein-Westfalen ein. Erst mit den Wahlen in NRW gehörten sie dann so richtig dazu.
Journalistische Erfordernisse können die abgestufte Chancengleichheit brechen
Allerdings kamen die Kandidatinnen und Kandidaten der Piraten schon vorher durchaus häufiger in den öffentlich-rechtlichen Medien vor als die anderer, kleiner Parteien. Denn die abgestufte Chancengleichheit hebelt nicht einfach mal journalistische Bewertungskriterien aus. Wenn eine Partei oder ihr Personal einen besonderen Nachrichten- oder Neuigkeitswert haben, sind diese für die Redaktionen natürlich relevant und werden thematisiert. Dies war bei den Piraten unter anderem der Fall, weil sie ein damals völlig neues Politikfeld - die Digitalisierung - in den Mittelpunkt stellten.
Nicht zu verwechseln ist diese Wahlberichterstattung über Parteien mit den Wahlwerbespots der Parteien. Diese haben vor Landtags- und Bundestagswahlen das Recht, kurze Werbeclips im privaten wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu zeigen. Doch auch hier gilt die abgestufte Chancengleichheit und regelt, wer wie oft zum Zuge kommt.
Zu den Wahlen zum 20. Deutschen Bundestag bietet der MDR schon in der Vorwahlphase ein umfangreiches Angebot. Es stellt zum Beispiel Wahlaussagen auf den Prüfstand und bietet einen Überblick über die Kandidatinnen und Kandidaten und auch eine Fakt ist! – Wahlarena ist geplant. Neben der tagesaktuellen Berichterstattung wird der MDR am Nachmittag zur Bundestagswahl eine Wahl-Staffel der Reihe Pommes mit Meinung. Vier Mal ist dann der MDR mit der mobilen Imbissbude auf Marktplätzen in Mitteldeutschland unterwegs und sucht den Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern. Denn beim gemeinsamen Essen lässt es sich ins Gespräch kommen und zusammen diskutieren. Den genauen Überblick über das Angebot und den Ablauf des Wahlabends am 26. September bietet das Wahlberichterstattungskonzept des MDR.