Wintersport in Klingenthal Zukunft fürs Skispringen im Vogtland
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08. Januar 2024, 14:00 Uhr
Skispringen in Klingenthal hat eine lange Tradition. Die berühmte Aschbergschanze ist Geschichte, dafür steht in der Nähe eine der modernsten und schönsten Anlagen Europas. Errichtet wurde sie ab 2003 nach zähem Ringen. Ebenso lange hatten im Vogtland keine großen Wettkämpfe mehr stattgefunden. Der Wintersport stand vor dem Aus – und erlebte mit der Vogtland Arena eine Renaissance. Heute liegt die Herausforderung im Klimawandel, beim Skisprung-Weltcup im Januar 2023 erlebte der Geschäftsführer vom VSC Klingenthal mit der Absage seinen "emotionalsten Moment". Doch in Klingenthal aka Sankt Anlauf sind sie gut darin, Tradition neu zu interpretieren und den Spaß an der Sache nicht zu verlieren:
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"Dass wir bekloppt sind mit dem, was wir hier tun, wissen wir!" Sagt Alexander Ziron, Geschäftsführer der Vogtland Arena. Gerade demontieren seine Leute das 5.000 Quadratmeter große Schneehaltenetz, das im Auslauf der Sprungschanze auf den Matten liegt. Eine schweißtreibende Arbeit, denn gearbeitet wird "bergan", in der Juni-Hitze und mit gebücktem Rücken. Das Netz muss weg für den Sommer Grand Prix, im Winter hält das Geflecht, das genau genommen aus 12 jeweils rund 15 bis 25 Meter langen Netzen besteht, den Schnee, so dass er nicht von den darunter liegenden Matten rutscht.
Dass wir bekloppt sind mit dem, was wir hier tun, wissen wir!
Nur ist da letzten Winter nicht viel festzuhalten und Alexander Ziron steht vor der Entscheidung, erstmals einen Weltcup abzusagen: "Das war für mich der emotionalste Moment überhaupt in meiner beruflichen Karriere."
Klimawandel im "Kälteloch"
Eigentlich sollen sich am 14. Januar 2023 die weltbesten Nordischen Kombinierer im sächsischen Klingenthal versammeln. Der Saisonhöhepunkt für die Vogtländer – auf den sie seit einem halben Jahr hinarbeiten. Ein eingeschworenes Team rund um den VSC mit dutzenden ehrenamtlichen Helfern. 10.000 Besucherinnen und Besucher werden erwartet.
Doch anstelle von Schnee fällt Regen. Statt klirrender Kälte zeigt das Thermometer fünf Tage vor dem Termin acht Grad. Untrügliches Zeichen, dass der Klimawandel auch vor dem Vogtland nicht Halt macht und dass Menschen, deren berufliche Existenz am Wintersport hängt, vor einer riesigen Herausforderung stehen.
Wir befinden uns hier an einer der kältesten Stellen in Klingenthal. Es ist ein richtiges Kälteloch. Wir haben hier hochmoderne Beschneiungsanlagen, wir könnten also unseren Schnee selbst produzieren. Aber wenn nichts kommt an Kälte, sind auch uns die Hände gebunden.
Vogtland Arena: Topadresse des Wintersports
Dabei ist die zwischen 2003 und 2006 errichtete Vogtland Arena eine Topadresse. Die Schanze ist gespickt mit feinster Sensorik, um Sprünge digital zu analysieren. Bläst der Wind zu stark, können seitlich Segel, 300 Quadratmeter große Windnetze aufgespannt werden, was den Wettkampf für die Sportler sicherer und fairer macht. Herumgesprochen hat sich im internationalen Skisprungzirkus laut Alexander Ziron auch, dass die Gäste hier gut umsorgt werden, von den Semmelengeln über die Spurreiniger, die mit Laubbläsern auch im Sturm den Anlauf trocken und sauber halten – bis zum Geschäftsführer.
Der steht im Januar dann plötzlich vor der Aufgabe, sein Team zu einer neuen Höchstleistung anzuspornen, als sich eine Woche nach der Absage doch noch Kälte und Schnee einstellen sollen und der Internationale Skiverband in Klingenthal anfragt, ob die Vogtland Arena bereit sei einzuspringen, für einen Weltcup der Nordischen Kombinierer, der gerade in Frankreich buchstäblich ins Wasser gefallen ist. Allerdings bleiben für die Vorbereitungen nur fünf Tage.
Klingenthal: 100 Jahre Skisport-Tradition und Leidenschaft
"Klingenthal hat immer wieder gezeigt, dass mit der Manpower, auch mit dieser Leidenschaft, mit der sie hier diese Veranstaltungen stemmen, dass sie da immer wieder ein sehr, sehr gutes Händchen haben und da wirklich alles reinlegen", sagt Eric Frenzel, der im Sommer mit dem Nationalkader in Klingenthal trainiert und ein halbes Jahr zuvor eben dort in der Vogtland Arena den letzten Weltcup seiner erfolgreichen Karriere absolviert.
Und Topathleten von einst stehen im Januar mit als Helfer am steilen Anlauf, um den Wettkampf doch noch möglich zu machen. Auch VSC-Präsident Manfred Deckert, der 1980 olympisches Silber in Calgary holt und 1982 die Vierschanzentournee gewonnen hat. Deckert verweist auf die lange Tradition, aus der sich Leidenschaft und Können in Klingenthal speisen:
Also wir sind ja über 100 Jahre hier in Klingenthal mit dem Skisport unterwegs. Und wenn man überlegt, gab es früher in fast jedem Ort ringsum eine Schanze!
Zu DDR-Zeiten ist Klingenthal eins von drei Skisprung-Zentren. 1959 wird die große Aschbergschanze eröffnet. Wintersportlegende Harry Glas springt hier als erster. Die Wettkämpfe, DDR-Meisterschaften und auch ein internationaler Weltcup, locken bis zu 50.000 Zuschauer ins Steinbachtal. In den 1980er-Jahren sind es Manfred Deckert, Klaus Ostwald, Holger Freitag oder Jens Weißflog, die von hier aus an die Weltspitze fliegen. Eine Tradition, die mit der Wende abrupt zu enden droht: "Die Aschbergschanze wurde unmittelbar nach der Wende gesprengt, weil sie baufällig war", erklärt Deckert und Alexander Ziron weiß noch, wie es am Tag der Sprengung schulfrei gibt: "Es hieß, die Schanze wird jetzt gesprengt und dann wird da eine neue hingebaut. So waren die damaligen Aussagen, an die sich leider nach der Betätigung des Sprenghebels keiner mehr erinnern konnte."
Schanzen-Neubau: "Man braucht eine Vision!"
Fast 20 Jahre lang gibt es im Vogtland keine großen Wettkämpfe mehr. Zu einer Renaissance kommt es, weil die Tradition offenbar auch bei den Jüngeren noch verwurzelt ist. Die Enkel des langjährigen Schanzenwartes am Aschberg, Hans Rostock, sorgen dafür: Axel und Jörg Rostock studieren Architektur an der TU Dresden. 1996 entwerfen sie in ihrer Diplomarbeit eine Ski-WM-Arena fürs Vogtland:
Wir haben erkannt, dass der Wintersport hier in der Region wirklich dem Untergang geweiht ist. Es war weit und breit kein Neubau in Sicht. Und diese Diplomarbeit hat dann in einer Wanderausstellung unheimlichen Anklang gefunden. Man brauch' ja was zu zeigen, eine Vision.
Die Rostocks eröffnen in London ein Architekturbüro, mit einem neuen Entwurf für die Vogtland Arena gewinnen sie den Wettbewerb in der alten Heimat. Nach zähem Ringen um Fördergelder starten die Bauarbeiten 2003 und binnen drei Jahren entsteht eine moderne Großschanze, die mit ihrem eleganten Anlaufbauwerk und der frei schwebenden Kapsel zum Wahrzeichen für das Vogtland wird. Auch wenn es durchaus Bedenken gegen das 19 Millionen teure "Raumschiff" gibt. Eigentlich keine große Summe für so ein Bauwerk, wie Jörg Rostock betont. Deswegen sei nur ein Stahlbau in Frage gekommen, der durch Materialeffizienz und Ästhetik gleichermaßen bestechen sollte: "Die Leichtigkeit des Skispringens, des Fliegens sollte in der Architektur einen Ausdruck finden."
Bis hin zur gefühlt frei schwebenden, in der sich die Athleten aufwärmen könne. Zugleich trage die Form, etwa der besonders sanft geneigte Anlaufradius, dem veränderten Sprungstil, "wo die Ski quasi wie ein V aufgespreizt werden", Rechnung, so Rostock. Die Sportler fliegen entlang der Hanglinie und landen sanfter im Auslauf mit dem großen Gegenradius. Anders als bei den früheren Fallschanzen.
Klimawandel in der Männerdomäne: Frauen im Anflug für den VSC Klingenthal
Offenbar reicht es also nicht, eine Tradition zu haben, es kommt darauf an, sie neu zu interpretieren. Dass im Nachwuchszentrum des VSC Klingenthal inzwischen Jungen und Mädchen gemeinsam trainieren, ist auch Pionierinnen wie Ulrike Gräßler vom VSC Klingenthal zu verdanken. Auf ihrer Heimatschanze in Eilenburg startet sie im Alter von sechs Jahren. Vor fast 30 Jahren ist das alles andere normal: "Da sind Aussagen getroffen worden wie zum Beispiel, dass die Gebärmutter reißt, dass Frauen nicht standhalten können." 2009 findet im tschechischen Liberec die erste WM der Skispringerinnen statt. Ulrike Gräßler wird erste Vizeweltmeisterin, "ein fantastisches Gefühl", sagt sie, auch wenn sie anders als die Männer in diesem Fall keine Prämie bekommt und der Verband noch nicht so recht weiß, wie er damit umgehen soll, jetzt eine Vizeweltmeisterin zu fördern.
Selina Freitag ist froh, dass Sportlerinnen wie Ulrike Gräßler ihr den Weg geebnet haben. Der ist bei ihr allerdings schon familiär vorgezeichnet, denn ihr Vater ist Holger Freitag, Weltcupsieger in Harrachow 1983. Angefangen hat sie bei Herbert Neudert in Pöhla, "beim gleichen Trainer, der schon Jens Weißflog groß gemacht hat", wie Holger Freitag erklärt, viele Stürze und auch Tränen gab es anfangs trotzdem. 2022 ist Selina Freitag Weltmeisterin im Teamspringen geworden. Im Sommer freut sie sich auf den Grand Prix in der Vogtland Arena, "weil es in der Heimat ist".
Hybride Zukunft für Sankt Anlauf
Heimat sind die Vogtland Arena und der VSC für viele ehemalige Aktive, so wie Christel Meinel-Stumpf, 1978 holt sie als Staffel-Schlussläuferin l Silber bei der WM in Lahti. Dann endet ihre Karriere wegen einer Liebesbeziehung zu einem DDR-Athleten. Die Funktionäre sehen bei internationalen Wettkämpfen Fluchtgefahr. Lange will sie vom Wintersport nichts mehr wissen. Heute ist sie mit zur Stelle, wenn die Rennleitung von Klingenthal aka Sankt Anlauf ruft. Als der Weltcup im verrückten Januar 2023 dann doch noch stattfindet, obwohl plötzlich Sturm und Schneetreiben herrschen, versorgt sie als Semmelengel die Athleten und fiebert in der Vogtland Arena mit:
Es krabbelt im Bauch. Irre. Man weiß, was das bedeutet, diese Anstrengung. Also ich bin mit Herzblut dabei!
Sie teilt die Leidenschaft mit den anderen im Team, die alles dafür geben, dass der Skisport im Vogtland eine Zukunft hat." Ob im Schnee oder auf Matten. VSC-Chef Alexander Ziron sagt im Rückblick: "Ja, wir haben gezockt, Gott sei Dank haben wir uns in den letzten 15 Jahren so eine gute Struktur aufgebaut, dass hier jeder weiß, mit wem er was zu besprechen hat. Dass man sich auch blind aufeinander verlassen kann!" Er hofft auf eine hybride Zukunft und baut vor, mit Netzen auf Matten.
Besuch in der Vogtland Arena
Vogtland Arena
Falkensteiner Str. 133
08248 Klingenthal
Öffnungszeiten
Täglich, 10 bis 17 Uhr
Führungen sind nach Voranmeldung für Gruppen ab 10 Personen möglich. Der 90-minütige Rundgang führt durch die komplette Schanzenanlage und beinhaltet eine Fahrt mit dem "WieLi" den Anlauf hoch sowie eine Besichtigung des Schanzenturmes und der schwebenden Kapsel.
Der Artikel erschien erstmals 2023.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke wo du lebst | 26. September 2023 | 21:00 Uhr