Reportage: Die Palastretter von Probstzella
Das "Haus des Volkes" in Probstzella gilt als größtes Bauhaus-Ensemble in Thüringen. Vor 20 Jahren ersteigerten Antje und Dieter Nagel das sanierungsbedürftige ehemalige Treuhand Objekt, um es vor dem Abriss zu retten. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Zeugnis deutscher Geschichte Wie das "Haus des Volkes" in Probstzella gerettet wurde

22. Juli 2023, 05:00 Uhr

Schon mal drüber nachgedacht, einen Kulturpalast zu erwerben, hoch wie eine Burg und mitten in der Thüringer Provinz? Genau das haben Antje und Dieter Nagel vor 20 Jahren bei einer Versteigerung getan, um das "Haus des Volkes" in Probstzella vor dem Abriss zu retten. Da wussten sie noch nicht, dass es das größte Bauhaus-Ensemble im Freistaat ist – und wie viel durch und durch deutsche Geschichte darin steckt, in einem Ort, der zu DDR-Zeiten Sperrzone war.

Autorin: Katrin Schlenstedt
Autor: Dirk Schneider

20 Jahre ist das her, Dieter Nagel erinnert sich dennoch genau an "die Stunde der Wahrheit": Mit seiner Frau Antje reist er aus der thüringischen Provinz in die Hauptstadt. Ihr Ziel: die Auktion eines ehemaligen Treuhand-Objektes im Schöneberger Rathaus. Zum Gebot steht ein riesiger Kulturpalast in ihrem Heimatort Probstzella, stark sanierungsbedürftig und vom Abriss bedroht.

Vor 20 Jahren: Versteigerung eines Kulturdenkmals

Nach einem kleinen Bieter-Gefecht heißt es bei gut 28.000 Euro: "Herzlichen Glückwunsch!". Sie haben den Zuschlag "für alles, wie es da steht und liegt". Eine Formulierung, die Dieter Nagel besonders beeindruckt: "Ich hab' gedacht, hoffentlich steht's und liegt noch nicht." Nicht wenige halten sie für verrückt, denn sie erwerben ein steinernes Labyrinth: "Es gab Räume, da bin ich erst nach zehn Jahren gewesen."

Reportage: Die Palastretter von Probstzella
Antje und Dieter Nagel halten sich bei der Restaurierung an das originale Form- und Farbkonzept von Alfred Arndt, der in den 1920er-Jahren am Bauhaus Dessau studierte. Sie lassen auch die Lampen nachbauen und weihen den einstigen Blauen Saal 2005 wieder als Hotel-Restaurant ein. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Zu DDR-Zeiten: Parteizentrale und Event-Location

Im Prospekt ist damals von einem Kulturdenkmal die Rede, mit Hotel und Gaststätte und auch einem Theatersaal für 1.000 Menschen, diverse Nebengebäude inklusive. Aber die besondere Geschichte des Ensembles kennt kaum noch jemand, weil Probstzella zu DDR-Zeiten in der Sperrzone an der innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen und Bayern liegt: "Manche denken immer noch, das sei eine Art Palast der Republik gewesen", lacht Dieter Nagel.

Tatsächlich ist das Haus zu DDR-Zeiten Parteizentrale und Event-Location. Karat und die Puhdys treten hier auf, groß gefeiert wird Karneval, die Büttenreden nimmt der SED-Parteisekretär ab.

"Brot und Spiele für die Abgeschnittenen" in der DDR-Sperrzone

"Brot und Spiele für die Abgeschnittenen", sagt Dieter Nagel und erinnert sich auf der hoch gelegenen Terrasse mit dem einstigen Café-Pavillon, dass er als Kind der Familie seines Onkels auf dem westlichen Hügel gegenüber zuwinkte und dachte: "Dorthin, wo die jetzt stehen, werde ich niemals in meinem Leben kommen!"

Reportage: Die Palastretter von Probstzella
Dieter Nagel blickt vom einstigen Café-Pavillon über das Loquitztal auf die bayrischen Hügel gegenüber, früher winkte er von dort aus seinen Verwandten im Westen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Probstzella, einst wichtiges Eisenbahndepot an der Strecke München-Berlin, ist zu DDR-Zeiten Grenzbahnhof. Unten im Loquitztal verlaufen bis heute die Gleise. Oben im Garten hinter dem Kulturpalast treten zum 1. Mai die DDR-Grenztruppen an. Auch sonst herrscht in der Sperrzone ein besonderes Regime. Wer sich verdächtig macht, läuft Gefahr, über Nacht ausgesiedelt zu werden. Auch daran kann sich Dieter Nagel gut erinnern: "Das hat natürlich die, die zurückgeblieben sind, verängstigt. 'Aussiedeln' war immer das wichtigste Argument, um die Leute hier in Schach zu halten." Seine Frau Antje, die wie er Medizintechnik in Jena studiert, darf ihn vor der Hochzeit nur einmal mit besonderer Genehmigung in Probstzella besuchen:

Wenn man das heute jungen Menschen berichtet, die denken, man erzählt Märchen. An diesem Grenzabschnitt sind aber über 17 Menschen erschossen worden!

Dieter Nagel

Grenzbahnhof Museum Probstzella
Eine Sicherheitsschleuse zwischen Ost und West war der Grenzbahnhof von Probstzella zu DDR-Zeiten. Zwischen 1949 und 1990 passierten ihn rund 20 Millionen Reisende, inklusive ausgiebiger Pass- und Zollkontrolle. Darüber informiert heute das Grenzmuseum.  Bildrechte: IMAGO/Eberhard Thonfeld

Verbaut und vermüllt: Thüringens größtes Bauhaus-Ensemble in Probstzella

Wer, wie Antje und Dieter Nagel, an einem solchen Ort aufwächst oder lange lebt, der kann seiner Geschichte nicht so einfach ausweichen. Und einige fangen an, immer tiefer darin zu graben, so wie die Nagels. Vor 20 Jahren entdecken sie zunächst wohl gefüllte Kühltruhen in ihrem neuen Besitztum, das ehemals auch der DDR-Zoll als Standort nutzt: "Das war ein sehr appetitliches Arbeiten, interessant vor allem für Mikrobiologen." Dieter Nagel weiß anschaulich zu berichten, wie er und seine Frau damals im "Nebenjob" daran gehen, ein sehr spezielles Objekt nicht nur zu retten, sondern 1:1 zu restaurieren: denkmalgeschützt, aber zu DDR-Zeiten verbaut und verkeimt zu Treuhand-Zeiten.

Blick auf die Pavillon-Ruine neben dem "Haus des Volkes" in Probstzella.
Blick auf die Pavillon-Ruine neben dem "Haus des Volkes" in Probstzella vor der Restaurierung Bildrechte: Antje und Dieter Nagel

"Wir wussten eigentlich nix"

Bald stellt sich heraus, dass es das größte Bauhaus-Ensemble in Thüringen ist –  auch wenn es von außen nicht gleich so aussieht: "Wir wussten eigentlich nix. Wir wollten keine Fehler machen", sagt Dieter Nagel und berichtet über den Anfang der Recherchen mit einem Rundgang durch das weltberühmte Berliner Bauhaus-Archiv, entworfen von Walter Gropius, dem Begründer der Bauhaus-Bewegung. Dabei stoßen sie auf ein sensationelles Dokument und Alfred Arndt, den Mann, der für das moderne Form- und Farbkonzept im Kulturpalast von Probstzella verantwortlich ist.

Industriepionier und Sozialdemokrat: Ittings Vision vom "Haus des Volkes"

Als Dieter Nagel in der Ausstellung Arndts Entwürfe fotografieren will, wird er von der Aufsicht fast herausgeworfen, weil man seiner Geschichte aus der Thüringer Provinz nicht recht glauben will und ihn wohl für einen Aufschneider hält. Für die Restaurierung des Café-Pavillons, ein verglaster, zweistöckiger Anbau mit Flachdach, reduzierter Fassade und Fenstern mit Messingrahmen, werden die Nagels später einen Architekturpreis erhalten. Überhaupt wissen sie bald mehr als der Denkmalschutz selbst über das vielgestaltige Bauhaus-Ensemble auf dem Schieferberg – und vor allem über den Mann, der den jungen Bauhaus-Studenten Alfred Arndt in den 1920er-Jahren nach Probstzella holte: Franz Itting, geboren 1875 in Saalfeld, Elektroingenieur, Unternehmer und Sozialdemokrat.

Reportage: Die Palastretter von Probstzella
Über den Thüringer Industriepionier und Sozialdemokraten Franz Itting hat Roman Grafe ein Buch mit dem Titel "Mehr Licht!" geschrieben. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der Industriepionier sorgt damals von Probstzella aus für die Elektrifizierung einer bäuerlich geprägten Region von Ostthüringen bis nach Bayern. Zu DDR-Zeiten wird er als "Spinne" und übler Kapitalist verleumdet: "Nur um die Leute zu verdummen", kommentiert Dieter Nagel. Denn Itting sei alles andere als ein Mann gewesen, der sich nur selbst bereicherte. "Seine Wanderjahre führten ihn bis nach Russland, dort sah er bittere Not. Als er zurück kam nach Deutschland, stand für ihn fest: 'Meinen Angestellten soll es mal besser gehen'", erklärt Roman Grafe, der seit langem zu Itting forscht und ein Buch über ihn geschrieben hat. 1909 geht Ittings Elektrizitätswerk ans Netz, das bald 60 umliegende Gemeinden mit Strom versorgt.

Haus des Volkes in Probstzella
Das "Haus des Volkes" in Probstzella in einer Aufnahme aus demn 1930er-Jahren, der Schriftzug mit dem Namen ist bereits entfernt. Bildrechte: imago images/Arkivi

Chronologie: Das "Haus des Volkes" in Probstzella und seine Geschichte

  • 1925 Bau-Beginn für das "Haus des Volkes"
  • Franz Itting engagiert den Bauhaus-Schüler Alfred Arndt.
  • 1925-1927 Alfred Arndt stellt in Zusammenarbeit mit den Werkstätten des Bauhauses u.a. mit seiner Frau Gertrud Arndt das Hotel fertig
  • 1927 Am 1. Mai wird das Hotel feierlich eröffnet
  • Nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 kommt Franz Itting in Schutzhaft
  • 1936 Schriftzug "Haus des Volkes" muss entfernt werden
  • 1937 Der als "Rote Itting" bekannte Sozialdemokrat wird nach einer Auseinandersetzung mit dem NSDAP-Kreisleiter inhaftiert und kommt für einige Wochen in das KZ Bad Sulza, später nach Buchenwald. Er kommt im August 1944 frei.
  • Nach 1945: Einzug der DDR-Zollverwaltung, Gaststätte und Veranstaltungssäle weiterhin genutzt.
  • 1948 Itting kommt für 14 Monate in Untersuchungshaft in das Geraer Gefängnis Amthordurchgang, später Marstall-Gefängnis in Weimar.
  • 1949 Prozess am Landgericht Rudolstadt wegen des Vorwurfs, ein "wesentlicher Nutznießer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" gewesen zu sein, anschließend Verurteilung, Familie Itting wird enteignet
  • 1950 Itting flüchtet mit seiner Familie nach Ludwigsstadt in Bayern
  • 2003 Dieter und Antje Nagel ersteigern das Objekt, Sanierungsarbeiten am "Haus des Volkes" beginnen
  • 2005 Das hoteleigene Restaurant eröffnet
  • 2008 Eröffnung des Hotels
  • 2013 Das Hotel erhält seinen Schriftzug "Haus des Volkes" zurück

Verfolgt durch die Nazis und in der DDR

Seit 1919 sitzt er für die SPD im Kreisrat von Saalfeld, in seinem Unternehmen führt er trotz Krisenzeiten die 40-Stunden-Woche ein, er verfolgt genossenschaftliche Ideen und als Mann, der sich aus armen Verhältnissen hocharbeitete, auch eine Vision: Bildung, Kunst, Sport für alle. Dafür soll es einen Ort geben, ein "Haus des Volkes". Seine Kinder, selbst Bauhaus-Schüler in Dessau, halten Itting ab, den ersten historisierenden Entwurf dafür weiterzuverfolgen. Sie empfehlen ihren 28-jährigen Kommilitonen Alfred Arndt, dem Itting das Großprojekt anvertraut. Im Frühjahr 1927 eröffnet das "Haus des Volkes". Mit Hotel und Theatersaal, Café-Pavillon und Park wird es zum Anziehungspunkt für die ganze Region. Selbst aus Leipzig kommen Sonderzüge.

Reportage: Die Palastretter von Probstzella
Die Nazis enteignen Franz Itting, der Unternehmer und Sozialdemokrat wird in der System-Presse als "marxistischer Millionär" verfemt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Bis die Nazis 1933 die Macht übernehmen, das Bauhaus schließen und den "marxistischen Millionär" verfolgen. Mit Glück überlebt Franz Itting Schutzhaft und das KZ Buchenwald, um dann 1948 als "Nutznießer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" verhaftet zu werden. Auch die neue Macht ist scharf auf sein Eigentum und verfemt seinen "Itting-Sozialismus". 1950 gelingt ihm die Flucht ins bayerische Ludwigsstadt, das nur sechs Kilometer entfernt von Probstzella liegt.

Ittings Erben in Probstzella: "Freudig lebe, aufwärts strebe!"

"Freudig lebe, aufwärts strebe!" Ittings Spruch steht heute wieder über der Bühne im Roten Saal. Dort spielt beispielsweise die Theatertruppe der "Druidensteiner" aus dem benachbarten Oberloquitz. Nagels haben das "Haus des Volkes" von Franz Itting wieder belebt, als Bauhaushotel samt Blauem Saal, auch den Kino-Vorführraum mit den alten Projektoren aus den 1920er-Jahren von Carl Zeiss gibt es noch oder die Kegelbahn. Mehr über Itting und die staunenswerte Geschichte des Hauses ist in einer Ausstellung zu erfahren. Ins Bauhaushotel kommen heute Radwanderer, die das Grüne Band, den ehemaligen Todesstreifen an der innerdeutschen Grenze erkunden. Und inzwischen auch Bauhaus-Fans von überall.

Reportage: Die Palastretter von Probstzella
Wieder genutzt werden kann seit der Sanierung auch der Rote Saal. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Thüringer Verdienstorden für die Palast-Retter

20 Jahre nach der Versteigerung in Berlin haben Antje und Dieter Nagel im Mai 2023 einen Thüringer Verdienstorden erhalten, überreicht durch Ministerpräsident Bodo Ramelow persönlich. Gewürdigt wurde damit ihr besonderer Einsatz für das Gemeinwohl. 

Nirgends auf der Welt ist irgendetwas Großes in Work-Life-Balance zustande gekommen. 

Antje Nagel

Über den Wagemut, sich auf eigenes finanzielles Risiko durch die vielen Schichten eines steinernen Labyrinths zu graben, sagt Dieter Nagel im Rückblick lakonisch: "Ein Zufall jagt den anderen, und so wird am Ende ein Leben draus!" Antje Nagel gesteht, dass das Palast-Projekt mehr sei als ein "Nebenjob", die heute viel diskutierte Work-Life-Balance sei bei ihnen eben nie so richtig im Fokus gewesen.

Buch- und Ausstellungstipp Roman Grafe
Mehr Licht — Das Lebenswerk des Roten Itting
Halle 2012

Haus des Volkes
Bahnhofstraße 25
07330 Probstzella

Über Itting und die Geschichte des Hauses informiert eine kleine Ausstellung, die Roman Grafe konzipiert hat.

Öffnungszeiten
Montag bis Freitag: 16 bis 22 Uhr
Samstag: 14 bis 22 Uhr
Sonntag: 11 bis 21 Uhr

Der barrierefreie Zugang ist nur teilweise gewährleistet. Es gibt aber einen Fahrstuhl, der Besucher in alle Etagen bringt.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke wo du lebst | 18. Juli 2023 | 21:00 Uhr

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