Geschichte Sachsen-Anhalts Giftgas-Granaten und Selbstschussanlagen: Die geheime Waffenschmiede bei Oranienbaum
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Von der Rüstungsschmiede zum UN-Leuchtturmprojekt
27. August 2023, 05:00 Uhr
In und um Oranienbaum, dem beschaulichen Ort in Sachsen-Anhalt, bündelt sich deutsche Geschichte wie unter einem Brennglas. In unmittelbarer Nähe vom Schloss, einst für eine Prinzessin aus den Niederlanden gebaut, birgt der umliegende Wald ein dunkles Geheimnis: Während der NS-Diktatur befüllten dort Zwangsarbeiter Granaten und Bomben mit Giftgas, zu DDR-Zeiten wurden in versteckten Werkhallen Tretminen und Selbstschussanlagen für die innerdeutsche Grenze montiert.
Autor: Jan Dörre
Autor: Michael Erler
Oranienbaum: das kleine Stückchen Niederlande mitten in Sachsen-Anhalt. Landschaftlich eingebettet in den Auen von Mulde und Elbe, liegt der kleine Ort im Biosphärenreservat Mittelelbe und ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Vor genau 350 Jahren schuf dort der Baumeister Cornelius Ryckwaert für Prinzessin Henriette Catharina von Nassau-Oranien ein barockes Ensemble aus Stadt, Schloss und Park – mit Pagode, chinesischem Teehaus und einer der längsten Orangerien Europas.
Die Orangen - Das Symbol der Stadt
Ursprünglich hieß Oranienbaum Nischwitz. Erstmals wird das Dorf 1179 im Besitz des Klosters Nienburg erwähnt. Um das Jahr 1500 liegt das Dorf wüst, es ist nicht mehr bewohnt.
Dies bleibt auch so bis in den Dreißigjährigen Krieg. Die Felder sind an die Bauern des benachbarten, kursächsischen Dorfes Goltewitz verpachtet. 1660 geht der Ort in den Besitz von Prinzessin Henriette Catharina von Oranien-Nassau, der Frau des Fürsten Johann Georg II. von Anhalt-Dessau über.
Seit 1673 trägt der Ort den Namen Oranienbaum. Die Prinzessin aus den Niederlanden erschafft eine blühende Gemeinde mit Orangenlikörfabrik, Brauereien, Tabakunternehmen und Schule. 1695 erhält Oranienbaum Marktrecht. 1712 wird die evangelische Stadtkirche erbaut.
Großbetrieb für die Herstellung von Giftgas-Munition im 2. Weltkrieg
Doch unweit des Schlosses, verborgen im Wald, spielen sich über 250 Jahre später ganz andere Begebenheiten ab. Sie beginnen 1935 mit der Übernahme von 200 Hektar Wald bei Kapen-Oranienbaum durch die Wehrmacht. Im Eiltempo entsteht eine Heeresmunitionsanstalt mit Fabrikationshallen, Lagerbaracken und Bunkern.
Hunderte dienstverpflichtete Frauen bauen dort Bomben und Granaten für den Krieg. 1938 entwickelt sich Kapen zu einem Großbetrieb für die Herstellung von Giftgasmunition. Nun sind es über 1.000 Frauen, unter ihnen zahlreiche Zwangsarbeiterinnen, die Bomben und Granaten mit "LOST" befüllen. Es ist das berüchtigte Giftgas - im Ersten Weltkrieg noch als "Senfgas" bekannt - das Angst und Schrecken verbreitet.
Was ist Senfgas (LOST)?
Senfgas bezeichnet die Chemikalie Bis(2-chlorethyl)sulfid und ist ein hautschädigender chemischer Kampfstoff. Es ist auch als Schwefellost, S-Lost, Gelbkreuzgas, Yperit oder Schwefelyperit bekannt. Typisch für den Kampfstoff ist sein Geruch nach Senf oder Knoblauch.
Senfgas gelangt leicht über die Haut in den Körper und wirkt als schweres Zellgift. Es führt zu inneren Blutungen, verminderter Herzleistung und zu Entzündungen der Schleimhäute des Magen-Darm-Traktes.
Seine Verwendung als Kampfstoff ist auf die beiden deutschen Chemikern Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf (beides Mitarbeiter von Fritz Haber am Kaiser-Wilhelm-Institut) zurückzuführen.
Erstmals wird Schwefellost von den deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 1917 eingesetzt.
LOST wird wegen seiner entstellenden Verletzungen im letzten Kriegsjahr zu einer der gefürchtetsten Waffen. Oft trugen die Überlebenden dauerhafte Schäden davon, unter denen sie ein Leben lang zu leiden hatten: Erblindung, Hautverätzungen, Lungenschäden und Krebs.
Quelle: bpb, chemie.de
1945 lagern in den Bunkern rund um Oranienbaum noch zehntausende dieser Giftgasbomben. Zum Einsatz kommen sie glücklicherweise nicht.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs übernimmt die Sowjetische Besatzungszone das brisante Erbe. Ende der 1940er-Jahre werden in Kapen sämtliche Giftgasbomben und -granaten gezielt gesammelt, entschärft, verbrannt, entsorgt oder in großen Transporten einfach in der Ostsee versenkt.
Selbstschussanlagen (Schützenabwehrminen SM 70) aus Oranienbaum
Anfang der 1950er-Jahre baut man die alten Produktionshallen um. Auf dem Areal entsteht - getarnt als Chemiewerk - eine neue, geheime Waffenfabrik.
Nur einen Kilometer Luftlinie vom Schloss entfernt werden dort Waffen entwickelt, die an der innerdeutschen Grenze Flüchtende abhalten sollen, die DDR zu verlassen. Wie zum Beispiel die berüchtigten "Schützenabwehrminen SM 70", die Selbstschussanlagen der DDR an der innerdeutschen Grenze.
Die Schützenabwehrmine SM 70 (Selbstschussanlage)
"SM 70" steht für Splittermine 70, sie wurden seit 1971 am Grenzzaun zur Bundesrepublik in drei verschiedenen Höhen angebracht und perfektionierten das Grenzsicherungssystem der DDR.
Spanndrähte lösten die Splitterminen aus und sollten Flüchtlinge so schwer verletzen, dass sie nicht mehr in der Lage waren, den letzten Grenzzaun zu überwinden.
Die Schussrichtung war zur DDR-Seite gerichtet und bewies damit eindeutig, dass die Grenzsicherungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung und nicht dem Schutz gegen "ausländische Aggressoren" dienten.
Quelle: Gedenkstätte Point Alpha/Geisa
"Die Geschichte der SM 70 ist eigentlich ein bisschen verstrickt. Zu DDR-Zeiten durften ja eigentlich keine Waffen oder Munition hergestellt werden. Also hat man die Sachen hier zwar entworfen, aber dann wurden sie ausgelagert. Speziell die SM 70, die ging in die Tschechei, wurde dort ein halbes Jahr bearbeitet. Dann kam sie zurück und wurde hier zusammengebaut“, weiß der Geschichtsforscher Gerhard Pix zu berichten.
Die Tschechoslowakei setzte die Minen nicht an ihrer Westgrenze ein, aber die DDR. Ab 1970 lauern diese Selbstschussanlagen an über 400 Kilometern innerdeutscher Grenze auf Flüchtende.
Viele Jahre wurde die Existenz der SM 70 geleugnet. Niemand weiß bis heute genau, wie viele Menschen durch Stahlsplitter aus diesen Todesautomaten ums Leben kamen.
DDR-Waffenproduktion im "VEB Chemiewerk Kapen"
Zu DDR-Zeiten arbeiten mehr als 500 Menschen in der Waffenschmiede, die offiziell "VEB Chemiewerk Kapen" heißt. Die meisten Arbeiter kommen damals aus Oranienbaum. Noch heute, Jahrzehnte nach Ende der Waffenproduktion, wollen nur wenige darüber sprechen.
Eine von ihnen ist Hannelore Schmidt. Sie arbeitete seit 1974 in der Waffenfabrik:
"Wir haben hier schönes Geld verdient. Wenn wir einmal Aushilfe gemacht haben und mit Sprengstoff in Berührung kamen, haben wir gelbe Finger gehabt. Das hat man dann nicht so ganz abgekriegt."
Die Arbeit ist gefährlich. In den Werkhallen arbeiten vor allem Frauen und auch die gelernte Dreherin Hannelore Schmidt setzt die Todesautomaten zusammen. Was sie da genau zusammenbaut, erfährt sie nicht:
"Diese Trichter waren wahrscheinlich für die Grenze, wir wussten es auch nicht. Uns haben sie das nicht gesagt. Viele haben lieber geschwiegen. Wer darüber gesprochen hat, der durfte gehen, die sind entlassen worden", so die ehemalige Mitarbeiterin.
Auf dem geheimen Areal existiert ein riesiger Komplex aus Transportwegen, Lagerbunkern und Werkhallen. Heute ist es nur noch eine Geisterstadt. Für ihre Arbeit damals finden viele Mitarbeiter eine Rechtfertigung.
Und dann haben wir ja uns immer gesagt, in Westdeutschland, die haben dort auch ihre Rüstungsindustrie.
Hannelore Schmidt lebt schon seit vielen Jahre als Rentnerin in Oranienbaum. Heute genießt sie lieber die schönen Seiten der Stadt und deren Umgebung.
Biosphärenreservat "Oranienbaumer Heide" mit freilebenden Konik-Pferden und Heckrindern
So wie das Biosphärenreservat "Oranienbaumer Heide". Die Landschaft rund um Oranienbaum wurde Jahrzehnte lang als sowjetischer Truppenübungsplatz militärisch genutzt.
Nach Abzug der Sowjetarmee im Jahr 1992 konnte sich Flora und Fauna wieder neu entfalten.
Diese Entwicklung nutzten Wissenschaftler der Hochschule Anhalt Bernburg: Gemeinsam mit dem Bundesforst und Naturschützern entstand ein einzigartiger, vielfältiger Lebensraum, in dem heute unter anderem freilebende Konik-Pferde und Heckrinder zuhause sind. Ein unwirtliches, ehemals abgesperrtes Gebiet wandelte sich so zu einer der artenreichsten Landschaften in Sachsen-Anhalt.
Wohl kaum jemand ahnte, dass die Renaturierung der Oranienbaumer Heide so erfolgreich sein würde. So konnte im Frühjahr 2023 Bundesumweltministerin Steffi Lemke dieses einzigartige Projekt als ein UN-Leuchtturmprojekt zur Wiederherstellung von Ökosystemen auszeichnen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke, wo du lebst | 29. August 2023 | 21:00 Uhr