Stadtgeschichte Der Leipziger Matthäikirchhof: Vom Franziskanerkloster zur Stasi-Zentrale
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04. April 2022, 20:13 Uhr
Slawische Siedlung, Franziskanerkloster, neugotische Kirche, schließlich eine Festung der Stasi: das Terrain rund um den Matthäikirchhof am Rand der Leipziger Innenstadt hat eine höchst wechselhafte Geschichte. Auch als Filmkulisse – beispielsweise für die Krimiserie "ZERV"- wird das Areal genutzt. Aktuell soll das Gelände umgestaltet werden. Die Idee der Stadt: ein "Forum für Freiheit und Bürgerrechte" zu errichten.
Wie ein schlafender Riese, direkt am Leipziger Innenstadtring liegt ein imposanter Gebäude-Komplex mit dunkler Vergangenheit. Während sich Leipzig in den letzten Jahrzehnten komplett veränderte, scheint im Matthäikirchhof die Zeit still zu stehen.
Von dort aus überwacht ab den 1950er-Jahren die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit die Einwohner im gesamten Bezirk Leipzig. Noch Wochen nach dem Mauerfall verschanzen sich in der Stasi-Zentrale Mitarbeitende und vernichten Unterlagen. Erst am 4. Dezember 1989 erzwingen Demonstranten den Zutritt und besetzen das jahrzehntelange Machtzentrum Leipzigs.
Matthäikirchhof: ein historisches Areal
Doch nicht nur vom Überwachungs-Apparat der Staatssicherheit erzählt dieses Gelände. Kaum ein Ort in Leipzig steht für die wechselvolle Stadtgeschichte wie der Matthäikirchhof. Nahe der Kreuzung von Via Regia und Via Imperii gelegen - den wichtigsten Handelswegen des Mittelalters - wird an dieser Stelle Burg und Siedlung der "urbs libzi" gegründet. Mit ihr beginnt auch die Geschichte der Stadt.
Leipzigs erste Erwähnung geht auf einen eher düsteren Zufall zurück. Thietmar von Merseburg – Bischof und Geschichtsschreiber – vermerkt dazu in seiner Chronik: "Dann erkrankte der wackere Bischof Eid, der eben mit großen Geschenken aus Polen zurückgekehrt war, und gab am 20. Dezember (1015) in der Burg Leipzig (in urbe libzi) Christus seine treue Seele zurück."
Auf den Resten der Burg gründen Franziskaner, die als Bettelorden auch die "Barfüßer" genannt werden, im 13. Jahrhundert ein Kloster. Der Name des angrenzenden "Barfußgäßchens" erinnert noch heute daran. Aus dem Kloster wird im 17. Jahrhundert die "neue Kirche" errichtet. Sie wird 1879 in Matthäikirche umbenannt.
Nur noch wenige Menschen – wie Monika Gerbeth aus Berlin oder Christa Merseburger aus Leipzig – verbinden reale Erinnerungen mit der Matthäikirche und den Häusern des damaligen Viertels.
Das bewegt mich natürlich außerordentlich, dass ich nach 78 Jahren nahezu an der Stelle bin, wo meine Großmutter in größter Armut neun Kinder großgezogen hat.
Der 4. Dezember 1943 wird zum Inferno für die Leipziger Innenstadt. Ein britischer Bombenangriff zerstört auch die Matthäikirche und die meisten der angrenzenden Häuser.
Wenige hundert Meter entfernt, übersteht – wie durch ein Wunder – die weltberühmte Thomaskirche den Bombenangriff nahezu unbeschadet. Wichtige Dokumente aus der Matthäikirche können in ihrem Archiv gerettet werden.
Tobias Hollitzer und Peter Fischer vom Museum in der "Runden Ecke“ wollen neben ihrer Arbeit in der Stasi-Gedenkstätte, künftig mehr über die Vorgeschichte des Geländes erzählen können. Monika von Seggern vom Thomaskirchen-Pfarramt unterstützt die beiden bei ihren Recherchen. Sie öffnet den Mitarbeitern das Archiv der Thomaskirche und präsentiert eine echte Überraschung. Über 80 Jahre alte Farbdias lassen die verschwundene Schwesterkirche plötzlich ganz real und erstmals in Farbe erscheinen.
Jetzt die Matthäikirche in Farbe zu sehen, das ist mehr, als wir zu hoffen gewagt haben. Es erfüllt mich ein bisschen mit Ehrfurcht, dass wir den Matthäikirchhof auch als historischen Ort – als Wiege von Leipzig – wahrnehmen.
Den Bombenangriff von 1943 übersteht nur die Gebäudezeile, die heute als "Runde Ecke" bekannt ist. Die umliegenden, zerstörten Häuser und die Reste der Kirche werden später abgerissen. In den 1950-Jahren übernehmen Stasi und Polizei das Areal und erbauen bis in die 1980er-Jahre ihre "Zwingburg der SED-Diktatur".
Polizei- und Stasi-Zentrale – mit einer Mauer dazwischen
Was heute im Volksmund meist nur Stasizentrale genannt wird, ist eigentlich eine Stasi- und Polizeizentrale. In der Mitte des Areals geteilt, sitzt links die Stasi und rechts die Bezirksverwaltung der Volkspolizei. Beide Behörden bekommen je einen deckungsgleichen Neubauflügel und feiern gemeinsam beim Richtfest Anfang der 1980er-Jahre den Ausbau ihres Überwachungsapparats.
Mehr Gemeinsamkeiten gibt es jedoch nicht. Eine Mauer im Innenhof trennt die Stasi strikt von der Polizei. Und auch unter der Erde setzt sich das fort. Die Polizei bekommt eine Tiefgarage im Keller, während sich die Stasi einen Bunker errichtet. Hermetisch abgeriegelt, auf mehr als anderthalbtausend Quadratmetern, entsteht so ein Rückzugsort für den Ernstfall mit Luftfilteranlage, Etagenbetten und vielem mehr.
Tobias Hollitzer von der Stasi-Gedenkstätte erklärt: "Die Fläche war insgesamt für 750 Personen vorgesehen. Eigentlich unvorstellbar, wie diese Masse an Menschen hier hätte unterkommen sollen. Es gibt Funktionsräume, einen Raum mit 12 Trocken-WCs für 750 Menschen. Ein Raum, wo die Waffen abzugeben waren, eine Küche und eine Trinkwasserreserve."
Isolierungslager für Oppositionelle
Im Herbst 1989 bekommt der Luftschutzbunker eine zusätzliche Aufgabe. Unter dem zunehmenden Druck der Proteste in Leipzig verlagert die Stasi hierher besonders sensible Akten. Tobias Hollitzer gehört zu den Bürgerrechtlern, die später als erste diese Unterlagen sichten. Dabei findet er auch seinen Namen: "Es sind wirklich brisante Dinge dabei gewesen. Wir haben als Bürgerkomitee Listen gefunden, die festlegten, dass – wäre der 9. Oktober nicht friedlich ausgegangen – Oppositionelle und andere in Isolierungslager der Staatssicherheit eingesperrt werden sollten. Diese Listen sind wirklich erst am Vorabend, also in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober erarbeitet worden."
Das war schon ein eigenartiges Gefühl, eine Liste zu finden, auf der man selber steht und sich sagt: Aha, das wäre dein Platz im Lager gewesen.
Stasi-Zentrale wird Arbeitsamt und Filmkulisse
In den wilden 1990er-Jahren gibt es auf dem ehemaligen Stasi-Gelände Leerstand und Zwischennutzungen. Das erste Arbeitsamt nach der Wiedervereinigung zieht hier ein. Und der Speisesaal der Stasi wird über viele Jahre zur Diskothek umfunktioniert.
Das halb vergessene Areal im Leipziger Stadtzentrum ist auch immer wieder interessant für Film-Crews. Hier werden mit Vorliebe Themen aus DDR-Zeiten filmisch in Szene gesetzt oder die chaotischen Nachwendejahre beleuchtet. Auch die aktuelle ARD-Krimiserie ZERV hat den Ort als ihr Hauptquartier entdeckt.
Doch bleibt die ehemalige Stasizentrale ein ewiges Provisorium und dient weiterhin nur als Filmkulisse? Was aus dem Gebäude-Komplex und seinen unterirdischen Etagen in Zukunft werden soll, wird lebhaft diskutiert.
Umgestaltung mit Bürgerbeteiligung erwünscht
2021 hat die Stadtverwaltung den offiziellen Startschuss für die Um- und Neugestaltung ihrer Geburtsstätte gegeben. Auch die Bürger Leipzigs können ihre Meinungen und Vorstellungen für diesen wichtigen Ort der Geschichte einbringen. Beschlossen ist bereits, dass auf dem Gelände in Zukunft alle Stasiunterlagen aus Sachsen in einem neuzubauenden Archiv zusammengeführt werden.
Ein Drittel der Fläche ist reserviert für eine zentrale Bildungs- und Forschungsstätte, das "Forum für Freiheit und Bürgerrechte". Es soll ein internationales Leuchtturmprojekt werden, mit dem Museum in der "Runden Ecke", dem "Archiv Bürgerbewegung", der "Stiftung Friedliche Revolution" und dem "Leipziger Schulmuseum".
Die angehenden Architekten Julia Fiedler, Quentin Pagés und Robert Zweigle von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) haben gut anderthalb Jahre zum Ort, seiner Geschichte und den heutigen Anforderungen recherchiert.
Neben vielen interessanten Ansätzen für die Umgestaltung, gibt es eine besondere Idee, die das Bild von Leipzig in der Zukunft stark prägen würde. Ein bis zu 115 Meter hohes Gebäude soll nach der Vorstellung der Studierenden sämtliche Stasiakten aus Sachsen enthalten. Der weithin sichtbare Turm wäre Archiv und Mahnmal in einem.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke, wo du lebst | 15. Februar 2022 | 21:00 Uhr