Militärgeschichte Mitteldeutschland Atomare Waffen in Sachsen? Flugplatz Großenhain und seine Geheimnisse
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02. August 2021, 12:28 Uhr
Fast 90 Jahre lang war der Flugplatz Großenhain bei Dresden eine militärische Sperrzone. Im deutschen Kaiserreich, während der NS-Zeit und in der DDR hieß es hier: "Zutritt streng verboten. Von der Schusswaffe wird Gebrauch gemacht". Heute ist der Ort ein Eldorado für Geschichtsverrückte und Flugenthusiasten wie Marcel Reichel. Der gelernte Steinmetz kaufte 1998 einen Bunker, den die Sowjetarmee errichtete. Was dort einst gelagert wurde, diesem Geheimnis ist er seitdem auf der Spur.
Manche sind stolz auf ihr Eigenheim, andere auf den Bungalow: "Und ich habe halt einen Bunker", sagt Marcel Reichel. Der Großenhainer kaufte das Bauwerk der Marke Granit 1998 gleich neben den Landebahnen des Freistaates Sachsen.
Besuch vom Pentagon
Als Fan des russischen Militärs und alter Funktechnik war er eigentlich nur auf der Suche nach einer Art Garagenobjekt für seine ausufernde Sammlung. Seitdem arbeitet er daran, den Koloss originalgetreu zu restaurieren. Dass er da nicht irgendeinen Bunker erworben hatte, merkte er schnell:
Es gab schon eigenartige Besucher. Einer fragte: 'Darf ich mal ein Loch in ihr Tor bohren. Ich möchte die Späne analysieren. Und: Wie dick ist eigentlich die Wand?' Dann kamen zwei, die sich offiziell mit Visitenkarte vom Pentagon bei mir angemeldet haben. Das ist doch Abenteurer pur!
Eingeschlossen in "Granit"
Platz für Abenteuer gibt es tatsächlich genug in Großenhain, die Landebahnen sind zweieinhalb Kilometer lang, denn gebaut wurden sie für superschnelle Düsenjäger. Zu DDR-Zeiten war das Areal militärische Sperrzone der Roten Armee. Mindestens 6.000 Menschen – Soldaten und technisches Personal – waren in Großenhain stationiert, mit ihnen 40 Jagdbomber vom Typ "Suchoi".
Nach Marcel Reichels Recherchen gab es damals außerdem eine Truppe, die ein Sonderwaffenlager bewachte, auf den Spitznamen "Die Taubstummen" hörte und einen direkten Draht nach Moskau hatte. All das weiß der passionierte Amateurfunker, der früher Steinmetz war, aus seinen Nachforschungen über Funk und Chats, die ihn auch in Kontakt zu ehemaligen Militärangehörigen brachten. Gemunkelt wurde schon früher, dass in Großenhain taktische Atomwaffen lagern. Die Frage, ob diese auch hinter den 26 Tonnen schweren Stahltüren seiner "Garage" lagerten, treibt Reichel um.
90 Jahre lang militärische Sperrzone
Erst heute offenbart der Flugplatz Großenhain so langsam seine Geheimnisse. Fast 90 Jahre war das Gelände militärische Sperrzone. Schon im deutschen Kaiserreich und in der NS-Zeit hieß es: Zutritt streng verboten. Im Frühjahr 1914 hoben in Großenhain die ersten Maschinen ab. Von Anfang an starteten Militärflieger auf dem streng bewachten Areal. Jadgpiloten wurden hier ausgebildet und so genannte Beobachter, deren Aufgabe es später war, zu bombardierende Gebiete zu fotografieren. Im Luftkampf waren sie die Assistenz des Piloten. Doch nicht wenige der jungen Flugschüler überlebten schon die Ausbildung nicht. Fast 90 starben in Großenhain bis 1920. Schließlich gab es noch keinen Funk und die Fluglehrer konnten nicht eingreifen, die Flugzeuge waren noch aus Holz, bespannt mit Leinen, ohne Fahrwerksdämpfung und entsprechend bruchanfällig, wie Ronald Größner erklärt.
Zu seiner Sammlung aus der Zeit gehören bislang unveröffentlichte Bilder von den Abstürzen der Flugschüler. Die Namen dieser Opfer sind heute vergessen. Nur einer hat überdauert: Manfred von Richthofen, der berühmt-berüchtigte Jagdpilot des Ersten Weltkrieges absolvierte in Großenhain einen Kurs zum Beobachter. Die örtliche Fliegerkneipe trägt noch seinen Namen.
Stichwort: Flugplatz Großenhain
Der Flugplatz Großenhain liegt einen Kilometer nördlich des Großenhainer Stadtzentrums. Von 1913 bis 1919 war der Flughafen Königlich-Sächsische Militärfliegerstation. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs erhielt auch Manfred von Richthofen, genannt der "Rote Baron" hier seine Beobachterausbildung.
Von 1919 bis 1945 fungierte das Areal als deutscher Fliegerhorst. Die sowjetischen Luftstreitkräfte nutzten den Flughafen von 1945 bis zum Abzug 1993. Auf dem Geländer gab es Sonderwaffenlager, in dem Kernwaffen gelagert wurden.
Heute gibt es auf dem Zivilflugplatz eine Flugschule, im Hangar zu sehen sind Originale der Luftfahrtgeschichte, im Bunker 1 wird die Nutzung zu DDR-Zeit dokumentiert.
Eldorado für Flugenthusiasten und Geschichtsverrückte
Heute ist der Flugplatz ein Eldorado für Geschichtsverrückte und Flugenthusiasten, wie Marcel Reichel oder Ronald Größner, der einst als Mechaniker bei der Interflug arbeitete. Größner kaufte das größte Gebäude auf den Flugplatz: den gigantischen Hangar, in dem schon Militärflieger, aber auch Passagierflugzeuge standen. Mit Hilfe von Spenden und der Unterstützung vom Sächsischen Verein für historisches Fluggerät konnte er die Halle sanieren, in der nun Oldtimer parken. Maschinen, wie die "Bücker Jungmann", die im Berlin der 1930er-Jahre entworfen wurde und in der NS-Zeit das Schulungsflugzeug für angehende Jagd- und Bomberpiloten war, haben dort ihren Platz.
Obwohl nach dem Ersten Weltkrieg den Deutschen auch jegliche Luftwaffe verboten war, begann 1935 die illegale Wiederbewaffnung. In diesem Zusammenhang entstand auch die Riesenhalle auf dem Flugplatz von Großenhain. Größner forscht, ob der erste einsatzfähige Düsenbomber weltweit, die "Arado 234", in "seiner" Halle mit Funk nachgerüstet wurde: Fest steht, dass die hypermodernen Bomber von Großenhain aus an deutsche Kampfgeschwader ausgeliefert wurden.
Die sogenannten Strahler sollten das Kriegsglück nochmal wenden. Dafür waren es aber viel zu wenige, viel zu spät. Gott sei Dank.
Beinahe-Katastrophe nach Absturz in Folbern
Anfang Mai 1945 besetzten sowjetische Truppen das Flugplatzgelände. Ohne Gegenwehr übernahmen Jagdfliegereinheiten die Gebäude und die Landebahnen.
Wie auch in der Stadt gab es auf dem Flugplatz selbstkaum Schäden. So mutmaßt Größner, dass auch die Technologie hinter der "Arado" zur Kriegsbeute geworden sein könnte. Nur ein Jahr später starteten die ersten sowjetischen Düsenjäger mit baugleichen Triebwerken. Die Nachfolgemodelle hoben später auch in Großenhain ab. Dafür wurde der Flugplatz komplett umgebaut und verlängerte Landebahnen geschaffen.
So lag das 300-Seelen-Dorf Folbern direkt in der Einflugschneise. Über den immensen Fluglärm habe sich damals niemand offiziell beschwert, berichtet Manfred Tenner als Zeitzeuge im Gespräch mit Marcel Reichel. Doch am 14. Mai 1966 sei etwas passiert, das sich nicht mehr habe verschweigen lassen.
Der heute 85-Jährige beobachtete, wie eine "Suchoi Su-07", die zum üblichen Patrouillen- und Übungsflüg gestartet war, an Höhe verlor und im Ort eine Schneise der Verwüstung schlug. Wie durch ein Wunder kam keiner der Einwohner ums Leben. Als Wehrleiter der Freiwilligen Feuerwehr eilte er damals zum Absturzort. Mit Wasser aus dem Flüsschen Röder seien die umliegenden Gebäude gekühlt worden, damit sie nicht Feuer fangen. Schließlich sei das brennende Flugzeug nicht nur voll betankt, sondern vermutlich auch voll aufmunitioniert gewesen. Akten fand Reichel zu dem Vorfall kaum. Bis heute bleibt auch der verunglückte Pilot, der beim Absturz umkam, namenlos. Die private Erinnerungstafel sei schnell verschwunden, erzählt ihm Tenner.
Atomwaffenlager in Großenhain?
Über atomare Waffensysteme zu sprechen, sei für Militärs bis heute tabu, weiß Reichel. Er will dennoch herausfinden, ob Atomwaffen vielleicht sogar in seinem Bunker lagerten und bittet den renommierten Militärhistoriker Matthias Uhl in Moskau um seine Expertise:
Man kann davon ausgehen, dass spätestens seit 1962 in Großenhain Nuklearwaffen gelagert wurden, und das war im Prinzip die Hauptaufgabe dieser Granitbunker.
Uhl geht davon aus, dass zwei bis drei Maschinen in Großenhain mit Atombomben aufmunitioniert gewesen sein könnten:
Die Aufgabe der Jagdbombereinheiten war es ja, die Nuklarwaffeneinheiten auf der Gegenseite, also der Bundeswehr und der US-Streitkräfte auszuschalten. Das bedingt natürlich eine hohe Einsatzbereitschaft.
Hingegen schließt Uhl aus, dass die bei Folbern abgestürzte Maschine mit Atomwaffen bestückt gewesen sei. Anders als die Amerikaner, die oft auch Übungseinsätze mit Nuklearwaffen an Bord geflogen hätten, hätten auf sowjetischer Seite die Sicherheitsüberlegungen überwogen, wonach Nuklearwaffen nur im Ernst- bzw. Spannungsfall an die für den Einsatz vorgesehenen Flugzeuge montiert worden seien.
Ausblick: Abheben als Gewerbegebiet?
Das letzte Kapitel der militärischen Geschichte des Flugplatzes Großenhain hat Marcel Reichel in seinem Bunker, der seit 2004 unter Denkmalschutz steht, akribisch dokumentiert. Die Ausstellung, die er zum Denkmalstag 2007 in seinem Bunker eröffnete, zeigt Dokumente genauso wie Technik oder Uniformen. Zehn große Schautafeln informieren über die ganze Historie seit 1913. Sie zu überliefern ist ihm wichtig, denn irgendwann könnten die letzten Zeitzeugen nicht mehr selbst Auskunft geben, so Reichel.
Zumal die ganze Region mit Hilfe des alten Flugplatzgeländes schon länger abheben will, um dessen Vergangenheit hinter sich zu lassen. Das größte Gewerbegebiet Ostdeutschlands soll hier entstehen. Das dürfte noch eine Weile dauern. Das Flugplatz-Erbe wirkt nach: Die teilweise schwer mit Kerosin-verseuchten Böden müssen noch saniert werden.
Flugplatz Großenhain
Nach Abzug der sowjetischen Luftstreitkräfte vom Flugplatz Großenhain 1993 erfolgte die Rückgabe dieser Liegenschaft. Im Jahr 2004 unter Denkmalschutz gestellt und dank engagierter Militärhistoriker, insbesondere durch Marcel Reichel, schrittweise wieder in den Originalzustand versetzt, beherbergt in Bunker 1 die Ausstellung zur Geschichte des Flugplatzes Großenhain von 1913 bis zur Gegenwart und in Bunker 2 den Sonderfunkstandort der Amateurfunker Großenhain. Die Ausstellung zeigt die ehemalige Verwendung und genaue Lage von Objekten an einem großen Geländemodell.
Flugplatz Großenhain
Zum Fliegerhorst 25
01558 Großenhain
Bunker GRANIT 1
Zum Fliegerhorst 21
01558 Großenhain
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke wo du lebst | 03. August 2021 | 21:00 Uhr