Rechtsbruch Ungarn: Rassismus in der Grundschule

24. Januar 2020, 09:09 Uhr

Ein ungarisches Gericht spricht Opfern von rassischter Diskriminierung Schadensersatz zu, doch der Staat weigert sich zu zahlen. Regierungschef Orbán droht deshalb eine Klage.

Recht gilt in Ungarn offenbar nicht gleichermaßen für alle. Zu diesem Schluss kommen 60 Roma, denen ein Gericht Schadenersatz wegen Segregation – also der Trennung von Roma und weißen Kindern in separaten Klassen - an ihrer Schule in Gyöngyöspata zugesprochen hatte. Die Richter im ostungarischen Debrecen hatten den Staat bereits im September 2019 dazu verdonnert, 100 Millionen Forint (knapp 300.000 Euro) Schadenersatz an die Schüler zu zahlen. Doch der mauert. Ministerpräsident Orbán hat gerade erst angekündigt, das Urteil ignorieren und das Geld nicht auszahlen zu wollen.

Gyöngyöspata. Ortsschild mit rechtsradikalem Aufkleber und Polizei. Der Ort war zuvor unter Druck verschiedener rechtsradikaler Milizen geraten.
Gyöngyöspata: Kein guter Ort für Roma in Ungarn Bildrechte: imago images/EST&OST

Getrennte Toiletten

Die Zustände, unter denen die Roma-Kinder lernen mussten, erinnern an die Behandlung Schwarzer in den USA in den 1950er-Jahren. In der Grundschule in Gyöngyöspata gab es getrennte Klassen für Roma, die in einem anderen Stockwerk unterrichtet wurden. Betroffene berichteten dem Nachrichtenportal index.hu, es sei ihnen sogar verboten gewesen, dieselben Toiletten zu benutzen wie die weißen Ungarn. Auch am Schwimmunterricht hätten sie nicht teilnehmen dürfen. Ein Schüler berichtet davon, dass der Schuldirektor ihm erklärt habe, Roma könnten keine Polizisten werden.

Grundschule im ungarischen Gyöngyöspata
In dieser Grundschule wurden die Roma getrennt von anderen ungarischen Kindern unterrichtet. Bildrechte: facebook.com/laszlo.horvath.31

Mieser Unterricht

Aber auch die Qualität des Unterrichtes selbst war wesentlich schlechter. In den Roma-Klassen seien mehrere Altersstufen gemeinsam unterrichtet worden – was zu Lasten der Älteren gegangen sei. So hätten die Achtklässler nur den Stoff der fünften Klasse vermittelt bekommen. Die Zustände in der Schule waren seit Jahren bekannt.    

Die Zukunft verbaut

"Das Geld kann uns nicht dafür entschädigen, dass  unser ganzes Leben zerstört wurde", sagt eine Betroffene, die eigentlich Hebamme werden wollte, aber aufgrund ihrer schlechten Schulbildung scheiterte. "Es war nicht ihre Aufgabe, Roma und Ungarn zu trennen. Das sind genauso Kinder wie die Ungarn. In unseren Ausweisen steht nicht: Staatsbürgerschaft: 'Zigeuner', sondern Staatsbürgerschaft: Ungarisch. Wir sind auch hier geboren, wir sind genauso Ungarn wie sie."

Orbán kritisiert Urteil als ungerecht

Der Fall war auch ein Thema bei der alljährlichen Pressekonferenz von Ministerpräsident Viktor Orbán am 9. Januar. Der erregte sich allerdings nicht über die Diskriminierung an der Schule, sondern über das Urteil dagegen.  

Es sei nicht gut, wenn das Rechtsempfinden der Bürger verletzt würde, sagte der Ministerpräsident und schloss eine zutiefst irreführende Schilderung des Falles an.  Wäre er ein Bürger von Gyöngyöspata, so Orbán weiter, würde er sich wundern, "dass eine ethnische Minderheit, die mit mir in einem Dorf lebt, eine stattliche Summe bekommt, ohne irgendwie dafür gearbeitet zu haben, während ich den ganzen Tag schufte, und ich für dieses Geld wie viele Tage, Wochen oder Monate arbeiten muss. Und ich glaube, diese Menschen haben recht." Man werde dafür sorgen, dass den Menschen in Gyöngyöspata Recht geschieht, so Orbán. Damit waren aber nicht die geschädigten Kinder gemeint.

Georgeta Munteanu 5 min
Georgeta Munteanu Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dass Schadensersatz grundsätzlich nicht für Arbeit, sondern für erlittenes Unrecht gezahlt wird, ließ der studierte Jurist Orbán unerwähnt, genau wie die Tatsache, dass es sich bei den Opfern der Diskriminierung um Grundschüler handelt, die ja nicht arbeiten, sondern in die Schule gehen sollen. Auch die Tatsache, dass Gerichte in einem Rechtsstaat ihre Urteile auf der Grundlage von Gesetzen und nicht irgendeines diffusen Gerechtigkeitsempfindens sprechen, blieb unerwähnt.   

Viktor Orban, Ministerpräsident von Ungarn
Ungarn Regierungschef Orbán: Kein Geld für die Roma! Bildrechte: imago images / PuzzlePix

Die Verwaltung verweigert den Roma das Geld

Doch nicht nur der Ministerpräsident selbst stellt sich offen gegen das Gerichtsurteil. So weigert sich die zuständige Kommunalverwaltung, die Entschädigung an die Roma auszuzahlen. Stattdessen wollen sie den Geschädigten Unterrichtsstunden anbieten, sagte der Parlamentsabgeordnete des Wahlkreises auf einer Pressekonferenz. Das Urteil, so László Horváth, sei "rechtskräftig, aber ungerecht, einseitig, überzogen und zerstörerisch." Und auch Orbán selbst kündigte in einem Radiointerview einen glatten Rechtsbruch an: "Wir geben alles, aber Geld können wir nicht geben." Genau das hat aber das Gericht verlangt.

Ungarn höchstes Gericht erneut angerufen

Am 17. Januar lief die Frist zur Zahlung der Entschädigungssumme ab, Geld habe aber niemand erhalten, teilte die Roma-Selbstverwaltung von Gyöngyöspata mit. Sie äußerte sich "erstaunt" über die Aussagen des Ministerpräsidenten und des Abgeordneten und fügte hinzu: "Wir erwarten, dass die Rechtstaatlichkeit geachtet wird."

Die Kúria, Ungarns höchstes Gericht, hatte bereits im Jahr 2015 geurteilt, dass die Segregation der Roma-Schüler in Gyöngyöspata illegal war und so den Weg für den Schadensersatzprozess eröffnet. Nun wurde die Kúria erneut angerufen, kann aber jetzt nur noch die Höhe der Schadensersatzzahlungen revidieren. Dass es Schadensersatz geben muss (und dass dieser in Geld ausbezahlt wird) ist hingegen beschlossen. Deshalb gilt das Debrecener Urteil nach ungarischem Verständnis als rechtskräftig.

Klage gegen den Ministerpräsidenten

Orbáns Aussagen könnten allerdings auch für ihn ein juristisches Nachspiel haben. Der Vorsitzende eines ungarischen Roma-Interessensverbandes, Aladár Horváth, hat Klage gegen den Ministerpräsidenten eingereicht: Wegen Beleidigung und Amtsmissbrauch. Horváth sagte, Orbáns Aussagen würden Hass gegen die Roma in Gyöngyöspata schüren. Außerdem habe auch der Ministerpräsident rechtsgültige Urteile zu achten.   

Gyöngyöspata. Rechtsradikale Milizen patrouillieren über Wochen durch das Romaviertel des Ortes, um ihre Ordnungspolitik zu demonstrieren.
2011 terrorisieren rechte Milizen wochenlang die Roma in Gyöngyöspata. Bildrechte: imago images/EST&OST

Das Muster wiederholt sich

Dies ist nicht der erste entsprechende Vorfall in Gyöngyöspata, der überregional Beachtung findet. Im Frühjahr 2011 erregte die nordungarische  Gemeinde international Aufmerksamkeit, als eine paramilitärische Neonazi-Gruppe über Wochen die Roma-Bevölkerung terrorisierte, ohne dass die staatlichen Behörden einschritten.    

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 10. Januar 2020 | 17:30 Uhr

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