Grauen von Ďáblice Tschechien: Prag will Tote aus Massengräbern exhumieren
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21. Februar 2020, 18:24 Uhr
Im Prager Stadtteil Ďáblice wuden Opfer der NS-Besatzung neben Opfern des kommunistischen Regimes in Massengräbern verscharrt. Die Stadt Prag will ihre sterblichen Überreste nun exhumieren und steht dabei vor großen Herausforderungen.
Zdena Mašínová kann ihrer Vergangenheit nicht entkommen. Ein Blick aus ihrem Fenster genügt, um an sie erinnert zu werden. Nur ein paar Meter über die Straße stehen die hohen Mauern des Untersuchungsgefängnisses von Olmütz (tschechisch Olomouc). Hinter einem der vergitterten Fenster wurde sie verhört. Hinter welchem genau, weiß sie nicht, denn zu ihren Verhören wurde sie mit verbundenen Augen gebracht.
1953 kam sie in Sippenhaft. Ihre Brüder Josef und Ctirad Mašin hatten in einer Widerstandsgruppe gegen das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei gekämpft und waren anschließend nach Westdeutschland geflohen. Ihre Mutter, die ebenfalls Zdena hieß, starb in einem Arbeitslager.
Leichen kamen auf dem LKW nach Ďáblice
Mit nun 86 Jahren erinnert sich Zdena an eine schreckliche Reise nach Prag, als sie 1956 auf der Suche nach den sterblichen Überresten ihrer Mutter war: Sie fragte in Krankenhäusern und Gefängnissen. Dort wurde ihr gesagt, dass sie die Leiche ihrer Mutter niemals sehen werde. Als sie ratlos auf der Straße stand, flüsterte ihr ein Fremder etwas im Vorbeigehen zu. Sie solle nach Ďáblice gehen, zu einem Friedhof im Norden der Stadt.
Ein Mitarbeiter ließ sie dort in eine Liste mit Namen von Gefangenen schauen, die auf dem Friedhof in geheimen Massengräbern begraben wurden. "Er sagte, dass er einen Lastwagen gesehen hatte, der mit etwa 40 Leichen beladen war", erinnert sie sich. Er ließ Zdena schwören, niemandem je etwas davon zu erzählen. Der Name ihrer Mutter stand auf der Liste.
Kommission im Prager Stadtrat stellt Nachforschungen an
Jahre später wurde der Ort um die Massengräber auf dem Friedhof zur Müllkippe, zugewachsen mit Büschen und Sträuchern. Nach der Samtenen Revolution und dem Ende des Kommunismus begann Mašínová, sich für die Rehabilitierung ihrer Mutter und die Exhumierung ihrer sterblichen Überreste einzusetzen. Sie wandte sich an den Bürgermeister von Prag und Tschechiens damaligen Präsidenten Václav Havel. "Alle haben mich ignoriert", sagt sie.
Mittlerweile haben sich die Zeiten geändert. Die Prager Stadträtin Milena Johnová hat Mašínovás Kampf wieder aufgenommen und arrangierte ein Treffen mit ihr und Vertretern der Stadt. "Zdena Mašínová hat mich dazu bewegt, etwas zu unternehmen". Nun stellt eine Kommission Nachforschungen zu den Massengräbern an, deren Geschichte erst 1992 an die Öffentlichkeit kam.
Nazi-Kollaborateure liegen neben ihren Opfern
Die Aufgabe ist eine Herausforderung, denn die Geschichte von Ďáblice geht über die Verbrechen des kommunistischen Regimes hinaus. In den Massengräbern liegen auch die Überreste von Menschen, die gegen die NS-Besatzung vor 1945 Widerstand leisteten. Die Nazis hatten sie hingerichtet und ihre Leichen nach Ďáblice gebracht. Später wurden dann 1948 die Kollaborateure aus der Nazizeit hingerichtet und hier begraben. In Ďáblice liegen also auch Opfer und Täter aus der Nazizeit gemeinsam in Massengräbern.
"Tote um Rechte betrogen"
Der Historiker Aleš Kýr schätzt, dass sich auf dem Friedhof 70 Massengräber mit je 40 Särgen befinden. In vielen Särgen sei dabei oft nicht nur ein toter Körper gewesen, sondern zwei oder sogar drei.
Jiří Linek von der Organisation für ehemalige politische Gefangene will, dass sich Tschechiens Gesellschaft mit der Geschichte befasst und davon lernt. "Das Regime hat diese Menschen um ihre Rechte betrogen, sogar nach ihrem Tod", sagt er wütend. "Es ist wichtig, dass die Angehörigen wissen, wo sie Blumen niederlegen können." Denn das können sie nicht. Nur an einige Personen, wie etwa Zdenas Mutter, erinnern Grabsteine.
"Opfer sollen Teil unserer Erinnerung werden"
Für Pavel Začek, Historiker und Abgeordneter im tschechischen Parlament, hat die Aufarbeitung der Geschichte des Ortes auch einen symbolischen Wert. "Wenn wir nur eine Aufzeichnung oder einen Namen der Menschen, die getötet wurden, verlieren, dann hat dieses kommunistische und totalitäre Regime gewonnen." Menschen sollten nicht nur getötet, sondern auch vergessen werden. "Wir wollen das umkehren, weil sie Teil unserer Erinnerung, unseres Staates und unserer Nation sind."
Teil der kollektiven Erinnerung in Tschechien sind die beiden antifaschistischen Widerstandskämpfern Jan Kubiš und Jozef Gabčík. Ďáblice könnte ihre letzte Ruhestätte sein, glauben Historiker. Kubiš und Gabčík hatten 1942 den ranghohen Nazi Reinhard Heydrich bei einem Anschlag ermordet. Der war der stellvertretende Reichsprotektor in Böhmen und Mähren und für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich. Er ließ zahlreiche Menschen hinrichten und in Konzentrationslager deportieren. Nach ihrem Anschlag auf Heydrich starben Kubiš und Gabčík bei einem Gefecht mit Soldaten der SS.
Exhumierung könnte Millionen kosten
Jiří Linek selbst wuchs in einer Straße auf, die nach Kubiš benannt ist. "Diese Namen sind in unserem Land so bekannt", sagt er. "Aber wenn wir ihre Überreste nicht finden, können wir der Ereignisse nicht angemessen gedenken."
Doch die Aufarbeitung der Geschichte des Ortes und die Exhumierung stellt die Stadt Prag vor große Herausforderungen. Vertreter der Stadt bitten deshalb Tschechiens Regierung um Hilfe. Laut Karel Kobliha, Direktor der Prager Friedhöfe, könnte eine Identifizierung aller Toten in den Massengräbern, mehrere Millionen Euro Kosten.
Hoffnung für Zdena Mašínová
"Wir glauben nicht, dass es unmöglich ist", sagt er. "Aber es muss mit Unterstützung der Regierung geschehen." Momentan macht die Kommission mit ihren Nachforschungen weiter und versucht den Überresten tausender Toter Namen zuzuordnen.
Mašínová will die sterblichen Überreste ihrer Mutter in das Familiengrab überführen lassen. Sehr lange warten kann sie nicht mehr, denn sie wird in diesem Jahr bereits 87 Jahre alt. Sie will außerdem, dass in Ďáblice mit einem Mahnmal der Toten gedacht wird. Das sei wichtig für die Gesellschaft. Sie befürchtet, dass junge Menschen nicht genug über die Gefahren totalitärer Regime lernen.
"Für die nächsten Generationen könnte sich das wiederholen, was wir erlebt haben - auch wenn es vielleicht anders aussieht", sagt sie und schaut auf die Gefängnismauern. "Das wäre eine Tragödie." Aber das aufkeimende Interesse an der Geschichte der Massengräber von Ďáblice macht Zdena Mašínová Hoffnung. "Ich hoffe, dass es bald eine Entscheidung gibt und all das, was passiert ist, nicht vergessen wird."
Über die Autorin Die 31-jährige Journalistin Jen Stout stammt ursprünglich von den Shetland Inseln. Sie arbeitet für die BBC Schottland in Glasgow. Im Rahmen eines internationalen Journalistenaustausches hat sie auch beim MDR in Leipzig gearbeitet. Seit jungen Jahren interessiert sie sich für Osteuropa.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 21. Februar 2020 | 17:45 Uhr