
Tarot, Exorzismus und Parapsychologie Russlands Flucht ins Irrationale
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08. März 2025, 16:16 Uhr
In Russland sind die Menschen immer schon abergläubisch gewesen. Gerade in Krisenzeiten stehen Magie und Okkultismus hoch im Kurs und sind ein Milliardengeschäft. Der Trend hat inzwischen auch die Machtzentralen des Landes erfasst – und treibt mitunter skurrile Blüten.
"Unser Tarot-Kartenleger meint, wir passen nicht zueinander." Mit dieser kuriosen Begründung lehnte ein russisches IT-Unternehmen die Bewerbung eines jungen Moskauers ab. Diese Anekdote, verbreitet vom Telegram-Kanal "Ostorozhno, Novosti", mag auf den ersten Blick humorvoll wirken. Doch sie verdeutlicht einen beunruhigenden Trend: Laut einer aktuellen Studie haben 14 Prozent der russischen Unternehmer bereits Tarot-Berater in ihrem Berufsleben konsultiert, und 92 Prozent von ihnen planen, dies wieder zu tun.
Milliarden für Magie statt Brot
Numerologen, Astrologen, Schamanen, Wahrsager, diverse Magier und Heiler: Der Markt für okkulte Dienstleistungen in Russland boomt und erzielt Milliardenumsätze. Laut Forbes stiegen die Verkäufe von Wahrsagekarten im Jahr 2024 auf umgerechnet fast 19 Millionen Euro – zehn Millionen mehr als 2022. Seit 2021 haben sich die Verkäufe von Tarotkarten sogar fast versiebenfacht. Insgesamt gaben Russen nach Angaben der Zeitung MK (Московский комсомолец) vergangenes Jahr fast 24 Milliarden Euro für verschiedene esoterische Dienstleistungen aus – vier Milliarden mehr als für Lebensmittel. Es scheint, als sei der Bedarf an magischer Hilfe in Russland größer als der an Nahrung. Dieser Trend hat mittlerweile sogar russische Politiker alarmiert: Der Duma-Abgeordnete Andrei Swinzow brachte im Januar einen Gesetzentwurf ein, der die Werbung für Tarotberater und Magier verbieten soll.
Der Trend hält aber trotz vereinzelter Gegenstimmen in der Gesellschaft an. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM ergab, dass zwar 83 Prozent der Russen Tarotkarten skeptisch gegenüberstehen. Gleichzeitig glaubt nach Angaben des unabhängigen Lewada-Zentrums jedoch fast ein Drittel der Bevölkerung an den "bösen Blick" und an die Wirkmächtigkeit von Flüchen – doppelt so viele wie noch vor sieben Jahren. Andrei Kowaljow, Vorsitzender der Allrussischen Unternehmerbewegung, der sich selbst als "Kämpfer gegen Betrüger" bezeichnet, schätzt, dass in Russland rund 900.000 Tarotberater, Astrologen und Heiler tätig sind. "Russland wird von mittelalterlicher Dunkelheit überrollt, und Millionen Bürger werden zu Opfern", sagte er in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Nationale Služba Novostej (NSN).
Mystik an der Macht
Die Faszination für Mystik reicht bis in die Elite des Landes. Die russische Führung spricht zwar unermüdlich von sogenannten "traditionellen Werten", die angeblich zum russischen Volk gehören, und preist Russland als Bastion christlicher Werte im Kampf gegen den "satanischen Westen" an. Doch hinter der orthodoxen Fassade scheint der Glaube an Okkultismus verbreiteter zu sein als der an Gott.
Auch Präsident Wladimir Putin inszeniert sich als Verfechter des orthodoxen Glaubens, soll aber auch eine besondere Faszination für Mystik und Schamanismus haben. Nun ist Schamanismus ein fester Bestandteil der Kultur vieler Völker, die im Osten Russlands leben. Daher ist ein Interesse des Präsidenten für diese Glaubensgemeinschaften und ein Treffen mit deren Vertretern nicht ungewöhnlich.
Doch Putins Interesse geht Gerüchten zufolge viel weiter, als für einen Staatslenker und vermeintlich gläubigen Christen üblich ist: Der russische Journalist und Spiegel-Kolumnist Michail Zygar behauptet, Putin solle an schamanischen Ritualen teilnehmen, und lasse sich in Fragen des Krieges von verschiedenen Mystikern beraten. Zygar beruft sich dabei auf eine kremlnahe Quelle. Auch Putins offizieller Besuch in der Mongolei im September 2024 soll dem Treffen mit Schamanen gedient haben.
Auch das Militär selbst verlässt sich auf übernatürliche Dienstleistungen: So berichtete eine Zeitschrift des Verteidigungsministeriums (Армейский сборник), dass russische Soldaten in Kampftechniken der Parapsychologie geschult würden und diese bereits erfolgreich im Einsatz angewendet hätten, um den Feind "berührungslos" zu besiegen.
Bis in die höchsten Kreise der russischen Wirtschaft sei der Glaube an Magie und Astrologie weit verbreitet, berichtet Zygar: Seinen Informationen zufolge konsultieren einige der reichsten Menschen Russlands regelmäßig sogenannte "Medizinmänner", bevor sie wichtige Entscheidungen treffen. "Die Nachfrage nach paranormalen Beratern hat in den vergangenen fünf Jahren deutlich zugenommen", schreibt Zygar im Spiegel.
Auch in der Geschäftswelt tauchen solche ungewöhnlichen Praktiken immer wieder auf – so etwa in einer aktuellen Stellenanzeige des IT-Unternehmens ITGlobal.com. Auf der Plattform HeadHunter suchte die Firma in diesem Monat nach einem festangestellten Exorzisten. Das angebotene Monatsgehalt für den Spezialisten zur Dämonenaustreibung: umgerechnet mehr als 1.300 Euro.
Historische Parallelen: Irrationalität als Krisenphänomen
In Zeiten von Angst und Unsicherheit suchen Menschen verstärkt nach Halt und Antworten – oft bei jenen, die vermeintliche Gewissheit bieten können. Besonders deutlich wurde dies in den späten 1980er Jahren, als das riesige Land vor tiefgreifenden Veränderungen stand. Damals erlangte der Hellseher Anatoli Kaschpirowski eine landesweite Popularität, indem er Menschen über den Fernsehbildschirm "heilte". Abend für Abend saßen Millionen von Zuschauern vor ihren TV-Geräten, während der selbsternannte Heiler behauptete, das Wasser in ihren Wohnungen mit "heilenden Energien" aufzuladen.
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion suchten die atheistisch erzogenen Sowjetbürger auf der Welle der enttäuschten Hoffnungen und der Ungewissheit über die Zukunft massenhaft Trost bei Wahrsagern und Hellsehern. Heute spiegelt sich die aktuelle gesellschaftliche und politische Krise Russlands in der Suche nach mystischen Antworten wider. Fehlende Möglichkeiten, die Situation im Lande zu beeinflussen und die wachsende Unsicherheit über die Zukunft, lassen die Menschen nach Antworten in Tarotkarten, Horoskopen und schamanischen Ritualen suchen, während große Teile der politischen Elite diesen Trend bereitwillig fördert.
Eine magische Betrachtung der Welt diene oft als psychologischer Schutzmechanismus – ein Weg, um Ängste zu lindern und mit Krisensituationen umzugehen, meint Denis Chachimow vom Moskauer Psychologischen Hilfsdienst. "Aberglauben und okkulte Praktiken helfen, Spannungen abzubauen. Doch die gewonnene Ruhe hält nur so lange, wie die erfundene Gesetzmäßigkeit scheinbar funktioniert", erklärt der Psychologe auf der Website der Moskauer Stadtregierung.
An dieser Hinwendung zum Okkultismus wird deutlich, welchen Stellenwert die russisch-orthodoxe Kirche im Denken und Fühlen der Menschen hat. Denn eigentlich sollte sie – zumindest ihrem eigenem Anspruch nach – die erste Adresse sein, an die sich die Russinnen und Russen wenden, wenn sie Trost und Halt suchen. Hier zeigt sich auch, dass die Rede von Russland als "Bastion christlicher Werte" mehr Lippenbekenntnis als tatsächlich gelebte religiöse Praxis ist.
MDR (tvm)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 21. August 2024 | 22:23 Uhr