Russlands Präsident Wladimir Putin nimmt an einem orthodoxen Ostergottesdienst in der Christ-Erlöser-Kathedrale teil.
Wladimir Putin mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und weiteren Geistlichen – die Spitze der Russisch-Orthodoxen Kirche unterstützt bedingungslos seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine und rechtfertigt ihn als Heimatverteidigung. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Russland Krieg mit Gottes Segen – wie die orthodoxe Kirche Putin unterstützt

14. September 2023, 13:18 Uhr

Die Russisch-Orthodoxe Kirche stellt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Heimatverteidigung dar. Gefallene russische Soldaten würden direkt in den Himmel kommen, so der Moskauer Patriarch Kirill, dem Putin persönlich zum Namenstag oder Amtsjubiläum gratuliert. Der Kremlherr lässt sich gern beim Beten filmen und hat die Religion zur nationalen Idee erhoben. Dabei sind die meisten Russen unreligiös.

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

Mit den Worten "Christus ist auferstanden!" weihte ein Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Stadt Welikije Luki im August 2023 ein neu errichtetes Denkmal für Josef Stalin. Unter der Stalinzeit habe die Kirche zwar gelitten, aber dadurch gebe es "viele neue Märtyrer", so der Priester. Und obwohl die zuständige Diözese erklärte, der Geistliche tat dies ohne ihren Segen, offenbart der Vorfall wieder einmal die Nähe der russischen Kirche zum Staat, der den Kult des "Großen Vaterländischen Krieges", wie in Russland der Zweite Weltkrieg heißt, fördert und damit auch die Stalinzeit indirekt rehabilitiert.

Ein Demonstrant hält eine Karikatur von Putin und Kirill, dem Moskauer Patriarchen und Oberhaupt der Russischen Kirche, im Eingang des Höhlenklosters Petschersk Lavra in Kiew.
Russlands Präsident Putin und der Moskauer Patriarch Kirill als Kriegstreiber auf einer Karikatur bei einer Demo in Kiew Bildrechte: IMAGO/ZUMA Wire

Von Beginn an unterstützt die Leitung der Russisch-Orthodoxen Kirche die politische Führung bei der militärischen Invasion in der Ukraine bedingungslos. Der Krieg wird von Geistlichen als Heimatverteidigung zelebriert und gutgeheißen. In zahlreichen Predigten stellt das Kirchenoberhaupt, Patriarch Kirill, den Krieg als Russlands Schutz vor Feinden dar. So sagte er nur wenige Tage nach Beginn der Invasion, Russland sei in einen Kampf eingetreten, der keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung habe. Die Russen werden sich aber nicht denen unterwerfen, die "die Sünde als Vorbild propagieren". Damit meint der Patriarch den "Westen" mit seinen liberalen Werten.

Patriarch: Gefallene Soldaten kommen in den Himmel

In einer Predigt im September 2022 verstieg sich Kirill sogar zu der Behauptung, die in der Ukraine gefallenen Soldaten würden direkt ins Paradies kommen. Wer "seine Pflicht erfüllt und stirbt, der vollbringt eine Heldentat, die einem Opfer gleichkommt." Zu Weihnachten 2023 sprach der Patriarch vor den Kindern, deren Väter in der Ukraine kämpfen, und legte nach: "Der Herr sagte, es gibt keinen größeren Liebesbeweis, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Das höchste Zeichen von Liebe ist die Opferbereitschaft." Obwohl heute niemand solche Opfer verlange, gebe es Orte "in den Weiten des historischen Russlands", wo Menschen ihre Heimat verteidigen und sterben. "Auch an sie richten wir diese Worte", so der Patriarch.

Priester Wladimir Ponomarenko von der Eparchie Wolgograd bringt das Heilige Bild Christi, das nicht von Hand gemacht wurde, ein Geschenk des russischen Präsidenten Putin, zur Freiwilligeneinheit Stalingrad.
Freiwillige russische Kämpfer im Donbass küssen eine Ikone, die Präsident Putin gestiftet und auf Reisen durchs Kriegsgebiet geschickt hat. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Der Erzpriester Vater S. (der Name ist der Redaktion bekannt) ist überzeugt, dass die Aussagen des Patriarchen nichts mit dem orthodoxen Glauben zu tun haben: "Christus sagte dies über sich selbst, während er sein Leben für seine Freunde hingab. Das hat mit kriegerischen Handlungen nichts zu tun. Die Worte des Patriarchen widersprechen dem Evangelium, stehen im direkten Gegensatz zur Lehre der Kirche".

Vater S. hat Russland verlassen und lebt inzwischen in Deutschland. Der ehemalige Erzpriester Alexander Usatow pflichtet ihm bei: Die Idee eines "gerechten Krieges" sei nicht biblisch: "Im Alten Testament gibt es zwar das Konzept des 'Krieges des Herrn', aber es steht nicht in direktem Zusammenhang mit der Verkündigung Jesu." Alexander ist aus Russland geflohen und lebt in den Niederlanden.

Exil-Priester: "Russland ist kein orthodoxes Land"

Gläubige stehen vor der Dreifaltigkeitsikone von Andrei Rublev aus dem 15. Jahrhundert, die in der Christ-Erlöser-Kathedrale ausgestellt ist.
Gläubige in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Das Bild trügt allerdings, denn die meisten Russen sind nicht sonderlich religiös. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Wenn der Patriarch den Krieg als Kampf gegen das Böse darstellt, scheint er im Namen aller Russen zu sprechen. Vater S. protestiert: "Russland ist kein orthodoxes Land. Man kann das zwar so oft verkünden, wie man möchte, aber das ist weit von der Realität entfernt." Die meisten Russen würden Rituale befolgen, kennen jedoch weder die Grundlagen des Christentums noch die Lehre der Orthodoxie, so der Geistliche. Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen: Die Russen suchen in der Religion keine geistige Orientierung, sondern betrachten sie eher als Teil ihrer nationalen Identität.

Eine 2019 durchgeführte Studie des Soziologen Wadim Radaew zeigt: Die Zahl der Gläubigen und derjenigen, die Gottesdienste besuchen, nimmt mit jeder Generation ab. Während in der Nachkriegsgeneration der Anteil der Gläubigen bei 55,7 Prozent liegt (nur acht Prozent besuchen dabei Gottesdienste), sind es bei den Millennials entsprechend 31,6 Prozent Gläubige und 5,8 Prozent Gottesdienstbesucher.

Orthodoxe Kirche beeinflusst Gesetzgebung

Im Widerspruch zu diesem Trend steht der große Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche auf die Politik: "Die Kirche hat ein bedeutendes Lobbygewicht im Parlament", sagt die Politologin Ekaterina Schulmann. "Zuerst befreiten sie sich von Steuern, dann erlangten sie ihren Immobilienbesitz zurück. Danach nahmen sie sich die Moral der Bürger vor und begannen, für entsprechende Gesetze zu lobbyieren."

Metropolit Tichon Schewkunow von Pskow und Porchow, Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland und Russlands Präsident Wladimir Putin.
Ziemlich beste Freunde: Russlands Präsident Putin und der Moskauer Patriarch Kirill (lachend in der Mitte) Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

So wurde im Jahr 2013 das Blasphemiegesetz verabschiedet, das die "Verletzung religiöser Gefühle" unter Strafe stellt. Seit Jahren wird die Verabschiedung des Gesetzes gegen häusliche Gewalt im russischen Parlament blockiert – unter anderem wegen des vehementen Widerstands der orthodoxen Kirche, die das Vorhaben als "inkompatibel mit russischen, spirituellen und moralischen Werten" darstellt, womit vor allem die traditionellen Rollenbilder in der Familie gemeint sind.

Der Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche auf administrative Entscheidungen sei dabei deutlich höher als auf die Herzen und Seelen der Russen, so Schulmann. Mit anderen Worten: Der Kirche gelingt es nicht, die Menschen zur Einhaltung ihrer konservativen Werte zu bewegen, sie versucht aber (oft erfolgreich), diese Werte in der weltlichen Gesetzgebung zu verankern.

Putin zeigt sich gerne in der Kirche

Obwohl die Orthodoxie wenig Einfluss auf die innere Haltung und die Wertvorstellungen der Menschen in Russland hat, stellen Putin und sein Umfeld ihre Religiosität gerne zur Schau. Vater S. sieht dafür zwei Gründe. Erstens hatte die politische Führung des Landes nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine ideelle Grundlage mehr, auf die sie sich stützen konnte. Der Kommunismus passte nicht in das oligarchische System, also suchte man nach einer neuen "nationalen Idee".

Präsident Wladimir Putin hält eine Kerze.
Putin beim Ostergottesdienst 2023 Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Man entschied sich für die Orthodoxie, denn das orthodoxe Christentum in Russland stand immer auf der Seite des Staates. Außerdem lieben die Russen Rituale, ohne dabei wirklich religiös zu sein. "Eine Kerze in der Kirche anzünden, Osterspeisen weihen lassen, Eisbaden zum Christi-Taufe-Fest – all das ist in Russland sehr beliebt. Putins Berater haben alles richtig kalkuliert: Unser Präsident befolgt diese Rituale öffentlich. Damit zeigt er: Schaut, ich bin eins mit meinem Volk," erklärt Vater S.

Nach Einschätzung des Geistlichen begreifen die meisten Russen die Kirche als Teil des Staatsapparats. Wie eine Umfrage der Stiftung für öffentliche Meinung im Jahr 2022 zeigte, vertraut nur ein Drittel junger Russen dem Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche. Vater S. wundert das nicht: Kirill sei kein eigenständiger Akteur und habe kein politisches Gewicht.

Was denken Geistliche über den Ukraine-Krieg?

Dem geflüchteten Ex-Geistlichen Usatow zufolge nehmen die meisten russischen Gläubigen alles, was in Russland geschieht, "gehorsam, gleichgültig oder zynisch" hin. Unter dem Klerus hätten sich zwei Lager herausgebildet. Die einen verteidigen die Entscheidungen des Kremls, während die anderen mit einem Gefühl der Hilflosigkeit Russland "als die sinkende Titanic" sehen.

Russland: Segnung der Präsidentengarde
Segnung der Rekruten der Präsidentengarde in Moskau, Ende Juli 2023 Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Die kremlkritischen Priester scheuen sich jedoch, ihren Standpunkt öffentlich zu vertreten, da sie eine Suspendierung oder sogar strafrechtliche Verfolgung befürchten. Und Vater S. weiß aus erster Hand: Der Patriarch hat in der Kirche eine starke Machtvertikale aufgebaut, ähnlich wie es Putin im ganzen Land getan hat. Bei jeder Liturgie soll das vom Patriarchen verfasste Gebet für die "Heilige Rus" gesprochen werden. "Es gibt klare Anweisungen aus dem Patriarchat, für den Ruhm der russischen Waffen zu beten", schüttelt Vater S. den Kopf.

Die Andersdenkenden müssen gehen. So wurde mit dem Moskauer Priester Ioann Kowal verfahren, der in dem Gebet das Wort "Sieg" durch "Frieden" ersetzte. In der Kirche herrsche eine Atmosphäre von Angst und Einschüchterung, sagt Vater S. und führt ein Beispiel an: "In einer Provinzstadtkirche beichtete ein Soldat. Der Priester belehrte ihn, dass Töten nicht im Einklang mit christlichen Werten steht. Daraufhin denunzierte der Mann seinen Beichtvater. Seit einem Jahr ist der Geistliche nun suspendiert."

Die Chance, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche eines Tages doch noch ihre Stimme gegen den Krieg erheben wird, ist äußerst gering. Bereits wenige Tage nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine haben 300 russischer Priester einen offenen Brief gegen den Krieg unterzeichnet. Die meisten von ihnen leben inzwischen nicht mehr in Russland. Diejenigen Geistlichen, die nicht mit Patriarch Kirill einer Meinung sind, haben sich in ein tiefes inneres Exil zurückgezogen, beklagt Vater S. Eine Antikriegsbewegung innerhalb der Kirche ist aus seiner Sicht vorerst nicht vorstellbar.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Der Osteuropa-Podcast | 09. September 2023 | 07:18 Uhr

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