Polen Geheimtipp: Urlaub in der polnischen "Sahara"
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04. Juli 2024, 04:16 Uhr
Die Landschaft wirkt zum Teil so irreal, dass sich mancher Tourist bei seinem ersten Besuch fragt, ob das, was er sieht, überhaupt authentisch ist. Man könnte fast meinen, dass die steilen Kalkfelsen und die hoch über die Täler hinausragenden Burgruinen eine für Filmzwecke errichtete Kulisse seien. Das sind sie aber nicht. Und dass sich zwischen alldem noch eine Wüste erstreckt, verstärkt noch den Eindruck, in eine fantastische Welt versetzt worden zu sein.
Nur vier Autostunden von der deutschen Grenze entfernt liegt der Krakau-Tschenstochauer Jura – eine der malerischsten Regionen Mitteleuropas. Seine Landschaft bildet einen Mix aus aufregender Naturkulisse und Architektur. Die phantasievoll geformten weißen Felsenwände und die bis zu 100 Meter tiefen, schluchtartigen Täler wurden im Laufe von Jahrtausenden von der Natur geschaffen. Von Menschenhand erbaut sind hingegen die vielen Burgen der Region, die meistens nur noch als Ruinen erhalten sind.
Paradies für Kletterer, Wanderer und Familien
Etwa 80 km lang und 20 km breit ist der Landstrich, der – wie Rafał Rębisz vom Verband der Jura-Gemeinden sagt – nicht nur in Polen, sondern auch in Europa weitgehend einmalig ist: "Die Kalkfelsen entstanden vor etwa 150 Millionen Jahren, als sich hier ein warmes Meer befand. Ein ähnliches Gebiet findet man ansonsten nur in Frankreich". Die Region wird in touristischen Prospekten als Paradies für Kletterer gepriesen.
Doch nicht nur die Liebhaber von Aktivitäten, die den Adrenalinausstoß steigern, werden sich in dieser Gegend wohl fühlen. "Jeder wird hier etwas für sich finden", sagt Rębisz. "Wir haben ein dichtes Netz von Wander- und Radwegen, seit einigen Jahren nimmt auch das Angebot an Paddeltouren und Gleitschirmflügen zu. Neben vielen anderen Faktoren macht einer die Region besonders attraktiv: Die meisten Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkte sind leicht zugänglich. Von Parkplätzen erreicht man sie in der Regel jeweils nach einem kurzen Spaziergang", so der Mitarbeiter des Verbandes der Jura-Gemeinden.
Einzigartige Felsformationen und Burgen
Den nördlichsten Punkt des Juras bildet Tschenstochau. Die Wallfahrtsstätte auf dem dortigen Klarenberg (polnisch Jasna Góra) ist weit über die Grenzen Polens hinaus bekannt. Dass sich aber buchstäblich vor den Toren dieser 200.000-Einwohner-Stadt die weitesten Ausläufer des aus weißen Felsmassiven gebildeten Mittelgebirges befinden, erwähnen die Reiseführer seltener. Dabei macht der Besuch in der nur einen Steinwurf von Tschenstochau entfernten Burg Olsztyn (nicht zu verwechseln mit der Großstadt Olsztyn/Allenstein in Nordpolen), die mit den steilen Felsen zusammengeschmolzen zu sein scheint, gleich Appetit auf mehr.
Denn die Burgen des Krakau-Tschenstochauer Juras sollen keineswegs nur als malerische Ergänzung der Landschaft betrachtet werden. Oft hat man den Eindruck, als würden die aus Kalkstein errichteten Objekte mit den weißen Felsen, auf denen sie stehen, eine Einheit bilden. Was das Werk der Natur ist, und was die Menschenhand geschaffen hat, erkennt man auf den ersten Blick häufig nicht.
Zwischen den beiden Städten, die dem Landstrich seinen Namen gaben, befinden sich an die fünfzehn Adlerhorst-Burgen, wie man sie aufgrund ihrer Lage und Bauweise nennt. Sie entstanden vor 600 bis 700 Jahren entlang der damaligen Grenze Polens zu den mit Böhmen verbündeten schlesischen Herzogtümern.
Wiederaufbau der Burg Bobolice
Mit einigen wenigen Ausnahmen wurden die Festungen während des Zweiten Nordischen Krieges im 17. Jahrhundert, den man in Polen als "Schwedische Sintflut" bezeichnet, zerstört. Auch wenn dies für manchen nahezu einem blasphemischen Gedanken gleicht, kann man gelegentlich die Meinung hören, dass die Schweden mit ihrer Zerstörungswut der Region einen Gefallen getan hätten, denn die Burgen würden nicht so malerisch und geheimnisvoll wirken, wenn sie intakt geblieben wären.
Diese Ansicht teilt der Unternehmer und ehemalige Senator der Republik Polen Jarosław Lasecki nicht. Deshalb beschloss er, eine der Adlerhorst-Burgen wiederaufzubauen – eine Idee, die zunächst für Kontroversen sorgte. "Freilich gab es Diskussionen, denn einige Menschen würden gerne alle polnischen Burgen als Ruinen sehen. Ich aber bin anderer Meinung. Ein für die polnische Kultur wichtiges Objekt als Ruine zu belassen, heißt in einem gewissen Sinne, dem Aggressor, der es zerstört hat, Ehre zu erweisen."
Das Genehmigungsverfahren war Lasecki zufolge lang. Zu seinem Restaurierungsplan hätten Dutzende Wissenschaftler Stellung genommen. Überdies seien dem Wiederaufbau umfassende archäologische Grabungen vorausgegangen.
"Mit dem Resultat bin ich sehr zufrieden, und wir freuen uns, dass wir in Bobolice jährlich an die 200.000 Besucher empfangen können", erklärt Lasecki. Nach der in seinen Augen gelungenen Wiederherstellung von Bobolice wird nun auch die in Sichtweite gelegene Ruine der Zwillingsburg Mirów restauriert. Auch sie soll in Zukunft für Besucher zugänglich gemacht werden.
Netflix-Kulisse Burg Ogrodzieniec
Auf die Idee, die Burg Ogrodzieniec wiederaufzubauen, würde allerdings wohl niemand kommen. Denn in der Form, wie die schwedischen Soldaten im 17. Jahrhundert die Anlage hinterließen, zählt sie nicht nur zu den größten Sehenswürdigkeiten der Region, sondern ist auch ein polenweit bekanntes Wahrzeichen des Krakau-Tschenstochauer Juras.
Zusammen mit den in ihrer Umgebung besonders hohen und oft bizarr geformten Felsen bildet sie ein einmaliges Ensemble, an dem Mensch und Natur gleichermaßen mitgewirkt haben. Wer Ogrodzieniec als intakte Festung erleben möchte, kann die Burg im weltweit bekannten Computerspiel Minecraft im unversehrten Zustand sehen. Als Ruine bildet sie außerdem eine der Kulissen der Netflix-Serie "The Witcher".
Eine Wüste mitten in Europa
Bei den Reisen durch den Jura muss man auf Überraschungen gefasst sein. Hat man sich nach einer Weile an die hoch in den Himmel ragenden Felswände gewöhnt, kommt man auf einmal in eine Wüste, wie man sie Mitten in Europa nicht erwartet. Westlich der Kreisstadt Olkusz erstreckt sich nämlich die Błędów-Wüste, die vor vielen Tausend Jahren beim Schmelzen der Gletscher entstand. Ihre jetzige Form erhielt sie aber infolge der Bergbauaktivitäten im späten Mittelalter. Noch vor einigen Jahrzehnten konnte man dort sogar Sandstürme und Fata Morganas erleben. In letzter Zeit schrumpft jedoch die polnische "Sahara" und droht, zu einem Waldgebiet zu werden.
Im Gegensatz zum Jura braucht Krakau bekanntlich keine Werbung. Die wegen ihrer beeindruckenden Baudenkmäler bekannte einstige Hauptstadt Polens wird jedes Jahr von mehreren Millionen Touristen besucht. Die meisten von ihnen konzentrieren sich auf die Stadt, was verständlich ist. Doch lassen sie sich dadurch die Naturschönheiten entgehen, die nördlich davon anzutreffen sind: Ein ganzes Ensemble von gut erschlossenen, teilweise auch für Familien mit Kinderwagen geeigneten Tälern (Dolinki Krakowskie), die wie überall im Krakau-Tschenstochauer Jura von weißen Kalkfelsen gesäumt sind. Ihre abwechslungsreiche Landschaft könnte durchaus ein Grund sein, den Citybreak in Krakau mindestens um einen Tag zu verlängern.
MDR (baz)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 20. Juli 2024 | 07:17 Uhr