Religiöse Fundamentalisten Polen: Erzkonservative Offensive
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07. März 2023, 11:28 Uhr
Frauen, die in Polen abtreiben wollen, haben oft schlechte Karten. Einer der Gründe ist die sogenannte Gewissensklausel: Ärzte dürfen Eingriffe verweigern, die ihre Religion verbietet. Nun will eine einflussreiche Fundamentalistengruppe durch die Hintertür eine Art Gewissensklausel für Berufe außerhalb der Medizin etablieren. So sollen Bäcker schwule Paare abweisen, die eine Hochzeitstorte bestellen, und Hoteliers unverheirateten Paaren das Doppelbett verweigern.
Die Stiftung "Ordo Iuris", zu Deutsch "Rechtsordnung", ist eine 2013 gegründete Stiftung, die Lobbyarbeit für erzkatholische Zwecke betreibt. Sie unterstützt Abtreibungsgegner und redet gerne bei Themen wie Religionsfreiheit sowie Ehe und Familie mit. Dabei versucht sie, Einfluss auf Behörden und Politik zu nehmen und ihre fundamentalistische Weltanschauung im Gesetz zu verankern.
Die jüngste Initiative von Ordo Iuris ist ein Ratgeber für den Dienstleistungssektor. Die 47-seitige Publikation trägt den Titel "Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit am Arbeitsplatz" und richtet sich an Konditoren, Musiker, Hoteliers und ähnliche Berufsgruppen. Sie bekommen darin eine Anleitung, wie man unter dem Deckmantel von Gewissens- und Religionsfreiheit Kunden diskriminieren kann, die nicht ins eigene Weltbild passen – durchdekliniert anhand konkreter Beispiele.
Hochzeitstorte als "eheliches Privileg"
So kann sich ein Konditor etwa weigern, eine Hochzeitstorte für ein gleichgeschlechtliches Paar zu backen, wenn er "aufgrund seiner erklärten Werte dagegen ist, gleichgeschlechtlichen Paaren, die in einer Lebensgemeinschaft leben, eheliche Privilegien zu gewähren". Ebenso könne sich ein Gastwirt weigern, einem gleichgeschlechtlichen Paar, das in seinem Lokal seine Hochzeit feiern möchte, die Räumlichkeiten zu vermieten. Und ein Hotelier könne sich weigern, "nicht verheirateten Paaren Zimmer mit Doppelbetten zu vermieten".
Den Autoren ist allerdings offenbar klar, dass solche ideologischen Begründungen im Fall einer Klage bei den Richtern auf wenig Verständnis stoßen könnten. Deshalb unterweisen sie die Leser, wie sie argumentieren können. So sollen sich Firmeninhaber beispielsweise aufs Markenrecht berufen. Die Marke zu schützen, die man geschaffen hat, sei fester Bestandteil der Wirtschaftsfreiheit. Konkreter ausgedrückt: Ein Restaurantbesitzer, der die Hochzeit eines gleichgeschlechtlichen Paares nicht organisieren will, könne das damit begründen, dass "die Dienstleistung nicht zu der Marke passt". Untermauert werden diese Argumentationshilfen durch ausgiebig zitierte Verfassungsartikel, Gesetzesparagrafen und internationale Rechtsakte.
Der Ratgeber, der in den polnischen Medien für Schlagzeilen sorgte, ist die jüngste Initiative von Ordo Iuris. Seit 2013 versucht die Stiftung, Einfluss auf Behörden zu nehmen und ihre fundamentalistische Weltanschauung im Gesetz zu verankern. Dazu versendet sie unter anderem Stellungnahmen und Kommentare zu Rechtsakten, erstellt eigene Gesetzesentwürfe, sammelt Unterschriften unter Petitionen, organisiert Tagungen – und sorgt damit regelmäßig für Schlagzeilen in der Presse und Empörung unter liberaler gesinnten Bürgerinnen und Bürgern, etwa als sie ein Verbot von Scheidungen auf die Agenda setzte.
Ordo luris: Wirtschaftsfreiheit vor Nichtdiskriminierung
Das Lieblingsinstrument von Ordo Iuris sind aber Ratgeber, die sich meist an bestimmte Berufsgruppen richten. Vor den Dienstleistungsberufen waren zum Beispiel die Staatsanwälte dran, die zum Umgang mit der pharmakologischen Abtreibung unterwiesen wurden – von Ordo Iuris als "Todespille" etikettiert. Die Broschüre enthielt u.a. ein Musterschreiben für alle, die eine solche Abtreibung anzeigen möchten.
Ordo-Iuis-Anwälte vertreten zudem häufig Personen vor Gericht, die sich im Sinne der konservativen Konterrevolution hervorgetan haben. Dies geschah beispielsweise im Fall eines Druckers aus Łódź, der sich weigerte, ein Banner für eine Organisation zu drucken, die für LGBT-Rechte kämpft – die Anwälte von Ordo Iuris argumentierten, dass die Gewissens- und die Wirtschaftsfreiheit im polnischen Recht Vorrang vor dem Verfassungsgrundsatz der Nichtdiskriminierung haben. Ihrer Meinung nach ist der Druck eines Banners mit dem Logo einer LGBT-Organisation ein "radikales ideologisches Projekt" und der Verein selbst betreibe "Werbung für Homosexualität". "Wir haben es mit Anwälten zu tun, die die Gesetze in einer solchen Weise verzerrend auslegen, dass die Grundprinzipien einer guten Behandlung ohne Diskriminierung annulliert werden", kommentiert Professor Monika Płatek, eine Juristin von der Universität Warschau.
Gewissensklausel für Mediziner bereits im Gesetz verankert
Hinter den juristisch argumentierenden Ratgebern von Ordo Iuris könnte sich eine Taktik der kleinen Schritte verbergen, um die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt zu beeinflussen und konservative Wertvorstellungen stärker im Mainstream zu verankern. Manche konservativ gesinnten Dienstleister werden vermutlich erst durch den jüngsten Ratgeber auf den Gedanken kommen, Kunden aus weltanschaulichen Gründen abzuweisen. Denn während die Gewissensklausel für Mediziner ausdrücklich im Gesetz verankert und einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist, handelt es sich bei den Dienstleistungsberufen nur um eine "Gewissensklausel light". Sie beruht gewissermaßen auf einer Zweckentfremdung von Rechtsnormen, die eigentlich andere Ziele verfolgen und von Ordo Iuris recht fragwürdig oder gar sinnentstellend ausgelegt oder auf gut Deutsch "an den Haaren herbeigezogen" werden.
Dass die Ratgeber-Taktik funktionieren kann, belegt das Projekt, das vor wenigen Jahren unter dem Namen "LGBT-freie Zonen" international für Aufsehen sorgte. Zahlreiche Gemeinden, Landkreise und sogar ganze Woiwodschaften nahmen damals Erklärungen an, in denen sie sich zur "traditionellen Familie" bekannten und die sich zumindest indirekt gegen sexuelle Minderheiten richteten. Die Juristen von Ordo Iuris erstellten damals ein Muster für diese Erklärung, die interessierte Gebietskörperschaften mit nur minimalen Anpassungen übernehmen konnten. Erst als die EU den "LGBT-freien" Kommunalverwaltungen den Geldhahn zudrehte, nahmen viele diese Erklärungen wieder zurück.
Auch bei der jetzigen Initiative könnte das Kalkül ähnlich sein: Das Thema in die Öffentlichkeit tragen, die Stimmung in der Gesellschaft beeinflussen und im besten Fall einen Umschwung bewirken. In zehn Jahren könnte man dann eine "harte", d.h. direkt im Gesetz verankerte Gewissensklausel für die genannten nichtmedizinischen Berufsgruppen fordern – und auf den sogenannten "Usus" verweisen, also die Alltagspraxis, weil es ohnehin "schon immer so war".
Doch hier dürfte Ordo Iuris weniger Glück als mit den "LGBT-freien Zonen" haben. Ein so verstandener Traditionalismus findet immer weniger Anklang bei den Polen und die Zeit scheint nicht für, sondern gegen die Fundamentalisten zu arbeiten: Die polnische Gesellschaft und dort insbesondere die Jugend säkularisiert und liberalisiert sich immer schneller, wie alle neuesten Umfragen zeigen. Die ideologischen Kreuzzüge der ultrakonservativen Rechten könnten sogar diesen Trend sogar beschleunigen statt ihn aufzuhalten und umzukehren.
Was ist die Gewissensklausel in Polen?
Die Gewissensklausel ist eine gesetzliche Regelung, die Ärzten das Recht einräumt, bestimmte medizinische Leistungen zu verweigern, wenn diese mit ihrer Weltanschauung oder Religion nicht vereinbar sind. Dies gilt insbesondere für Themen wie Abtreibung, die Verschreibung von Verhütungsmitteln oder der "Pille danach". Rechtsgrundlage dafür ist das Gesetz über den Arzt- und Zahnarztberuf vom 5. Dezember 1996; zusätzlich ist die Gewissensklausel auch im Medizinischen Ethikkodex verankert.
Das Problem besteht jedoch darin, dass die Gewissensklausel sehr exzessiv genutzt wird. So verweigern nicht nur einzelne Ärzte die o.g. Leistungen, sondern ganze Krankenhäuser, obwohl sich die Gewissensklausel nur auf Ärzte, also natürliche Personen, nicht aber auf ganze Einrichtungen, also juristische Personen, bezieht. Viele Ärzte verfolgen außerdem eine Taktik der Obstruktion und zögern beispielsweise ihre für die Abtreibung nötigen Gutachten so lange hinaus, dass der Eingriff nicht mehr möglich ist.
MDR (baz/adg)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 07. November 2021 | 19:30 Uhr