Katholische Kirche Polen: Wenn der Pfarrer zweimal klingelt
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23. Januar 2023, 11:45 Uhr
Alle Jahre wieder kommt in Polen nicht nur das Christuskind, sondern auch der Pfarrer. Der sogenannte Seelsorgebesuch ist eine uralte, aber inzwischen unliebsame Tradition. Viele empfinden sie als Zumutung, weil die Geistlichen dabei nicht nur Spenden sammeln, sondern auch Informationen über das Privatleben der Gemeindemitglieder. Vor allem in den säkularisierten Großstädten stehen Priester deshalb immer häufiger vor verschlossenen Türen.
Jedes Jahr zwischen Weihnachten und Aschermittwoch beobachtet man auf Polens Straßen das gleiche Bild: Katholische Priester in schwarzem Gewand, oft noch von Ministranten im weißen Chorhemd begleitet, ziehen von Haus zu Haus, klappern Straßenzug für Straßenzug ab, um ihre "Schäfchen" zu Hause zu besuchen. Jede Wohnung wird nach einem kurzen Gebet mit Weihwasser besprengt, auf dem Tisch stellen die Familien vorher ein Kruzifix und zwei Kerzen auf. Nach dem Gebet folgt ein kürzeres oder längeres Gespräch. Binnen weniger Wochen sind alle Familien einer Gemeinde auf diese Art gesegnet. Alle, die es wollen – denn inzwischen wollen immer weniger Polen an diesem Ritual teilnehmen.
Theoretisch dient das Treffen der Seelsorge, soll ungezwungen ablaufen und das Gemeinschaftsgefühl in der Gemeinde stärken. Doch in der Praxis empfinden es viele als Zwang, verbunden mit Kontrolle und finanzieller Abzocke. Denn die Geistlichen sammeln bei dem Seelsorgebesuch, wie es offiziell im Kirchenjargon heißt, nicht nur "freiwillige" Spenden, sondern auch detaillierte Informationen über das Privatleben ihrer Pfarrkinder – schließlich müssen sie ja wissen, ob diese auch wirklich brav alle Gebote einhalten.
Seelsorge oder Kontrolle?
Dass die Religionshefte der schulpflichtigen Kinder dabei kontrolliert werden, ist noch eine Lappalie – auch wenn sich viele Polen noch im Erwachsenenalter mit Unbehagen daran erinnern, weil sie es in der Kindheit als Zumutung oder gar Drangsalierung erlebt haben. Paare, die ohne Trauschein leben oder nach einer Scheidung nicht kirchlich heiraten können, müssen sich manchmal bittere Worte anhören – vor allem in ländlichen Regionen, wo die Pfarrer sich nach wie vor gern als moralische Instanz gerieren. Auch nach der Arbeitsstelle und dem Einkommen wird nicht selten gefragt. Vielerorts klagen Gläubige, dass der Pfarrer sogar regelrechte Karteikarten, Mappen oder Kladden mit solchen sensiblen Informationen über seine Gemeindemitglieder führt. Kein Wunder, dass viele Polen den jährlichen Seelsorgebesuch als unangenehmen Pflichttermin, ja Zumutung empfinden.
Ist Polen wirklich katholisch?
Laut dem "Kleinen Statistischen Jahrbuch 2022" sind 32,4 Millionen Menschen in Polen katholisch. Das sind rund 85 Prozent der gesamtbevölkerung von 38 Millionen. Das Problem an diesen Daten allerdings ist: Es werden alle erfasst, die getauft wurden, unabhängig davon, ob sie in ihrem weiteren Leben gläubig bleiben oder nicht. Die Taufe ist eine Art Aufnahmeritual in die Katholische Kirche (ein sogenanntes Sakrament), erfolgt aber meistens im Kleinstkindalter und ist keine bewusste Entscheidung des Getauften. Die offizielle Katholiken-Zahl enthält also eine Dunkelziffer von menschen, die zwar getauft sind, aber möglicherweise nicht mehr gläubig sind und kaum noch am Leben der Kirche teilnehmen. Ein Kirchenaustritt, wie es in in Deutschland gibt, ist in Polen relativ unüblich, weil dazu der finanzielle Anreiz in Form einer vom Staat eingetriebenen Kirchensteuer fehlt.
Etwas Licht ins Dunkel können hier allerdings Eigenstatistiken der Katholischen Kirche bringen. Bei der letzten Zählung im Herbst 2021 nahmen lediglich 28 Prozent der "gottesdienstpflichtigen" Gläubigen an einer Sonntagsmesse teil - was für einen Katholiken eigentlich Pflicht ist. Noch weniger empfingen bei dieser Glegenheit das Sakrament der Kommunion: 12,9 Prozent. Die Zahlen lagen deutlich niedriger als im letzten Jahr vor der Corona-Pandemie mit entsprechend 36,9 Prozent (Besuch der Messe am Sonntag) und 16,7 Prozent (Kommunion). Dabei wurden bereits diejenigen Katholiken, die nach Ansicht der Katholischen Kirche nicht "gottesdienstpflichtig" sind, also Kranke, Gehbehinderte und Kinder, herausgerechnet.
Und jedes Jahr gehen Geschichten über unverschämte Pfarrer viral durchs Netz. Meist handelt es sich nur um Einzelfälle: Geistliche, die besonders unangemessene Forderungen stellen, beispielsweise eine Mindesthöhe der freiwilligen Spende festlegen, ein "Kopfgeld" für jedes Mitglied der Familie verlangen oder die gespendeten Beträge samt Namen von der Kanzel verlesen. Da das Thema aber so stark vorbelastet ist, erhitzen solche Einzelfälle die Gemüter und jeder Pole kennt derartige Storys wenigstens vom Hörensagen.
Priester will Wunschmenü
In dieser Saison sorgte Pfarrer Kazimierz Cichoń aus dem schlesischen Dorf Przegędza für Aufregung. In der Kirche gab er seine äußerst exakten Vorstellungen preis, wie er empfangen und vor allem bewirtet werden möchte. Er sei auf Diät und könne daher nicht alles essen. "Am liebsten kalte Platte, dann wähle ich aus, was mir bekommt. Weißes Brot ohne Aufschnitt. Was Kuchen anbelangt, am besten Sand- oder Hefekuchen, leichtverdaulich." Ein Gottesdienstbesucher filmte das "Wunschkonzert", stellte es ins Netz und machte das Dorf und seinen Pfarrer landesweit bekannt.
Zeitungen und Fernsehsender berichteten, Internet-User kommentierten. Während die einen nichts dabei fanden, weil es auf dem Lande üblich sei, den Pfarrer zu bewirten, waren andere über seine vermeintlich hohen Ansprüche empört. Selbst das Erzbistum Kattowitz sah sich schließlich zu einer Stellungnahme genötigt: Es verteidigte einerseits den Geistlichen, da es in ländlichen Regionen tatsächlich üblich sei, den Pfarrer mit Essen zu empfangen, räumte andererseits aber ein, seine Worte könnten falsch aufgefasst werden.
Pandemie-Pause verändert alles
Doch während der Priesterbesuch früher wie selbstverständlich hingenommen wurde – und in der Provinz immer noch hingenommen wird –, hat sich in den vergangenen Jahren die Einstellung vor allem vieler Großstädter zu diesem Ritual sehr verändert. Vor allem auch deshalb, weil während der Corona-Pandemie viele neue Missbrauchsfälle im Kirchenumfeld ans Licht gekommen waren. Gefühlt vergeht keine Woche ohne neue Enthüllungen dieser Art.
Erst kurz vor Weihnachten berichtete die Presse beispielsweise über einen Priester, der über Jahre 95 Jungen im Alter zwischen sieben und 15 Jahren missbraucht haben soll. Trotz wiederholter Beschwerden wurde von seinen Vorgesetzten offenbar kaum etwas unternommen, um ihm das Handwerk zu legen, dafür aber einiges, um die Sache zu vertuschen: Der Geistliche wurde regelmäßig von Pfarrei zu Pfarrei versetzt, kurz "aus gesundheitlichen Gründen" beurlaubt, dann als Seelsorge-Aushilfe in die Ukraine entsandt und schließlich wieder als Religionslehrer in der polnischen Provinz eingesetzt. Angesichts solcher Skandale treten die Menschen in Polen der Kirche und ihren Vertretern immer kritischer gegenüber – und manche haben keine Lust mehr, dem Geistlichen die Tür zu öffnen.
Hinzu kommt, dass in den zwei Pandemie-Jahren die jährliche Priestervisite wegen der Ansteckungsgefahr ausgesetzt war. Über Monate war auch der "normale" sonntägliche Gottesdienstbesuch durch Zutrittsbeschränkungen und Personenlimits in Kirchen stark eingeschränkt. In dieser Zeit haben die Bindungen zur Kirche bei vielen Menschen nachgelassen. Viele berichten, durch die Zwangspause sei ihnen noch klarer geworden, was sie an der katholischen Kirche in Polen stört – zum Beispiel, dass viele Priester politisch der regierenden nationalkonservativen PiS nahestehen und sich auch "auf der Kanzel" nicht scheuen, im wahrsten Sinne des Wortes Partei zu ergreifen. Die Zeit des Lockdowns machte vielen klar, dass sie auch ohne Priester und Kirche beten und ihr geistiges Leben pflegen können – ohne politisch beeinflusst zu werden.
Spenden wegen Inflation unbeliebt
Außerdem macht die exorbitante Inflation in Polen – mit fast 17 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland – den Menschen zu schaffen. So entsteht schnell die Idee, sich die Spende zu sparen. Dabei ist der jährliche Seelsorgebesuch für die Priester eine Art finanzielle "Ernte" – Hochsaison so wie die Sommerferien für Speiseeisverkäufer. Doch inzwischen klopfen sie immer häufiger vergeblich an Türen, hinter denen sich die Gemeindemitglieder totstellen.
Um solche peinlichen Szenen zu vermeiden, ist man in den Großstädten noch vor der Pandemie dazu übergegangen, dass der Priester nur diejenigen besucht, die ihn vorher per (Internet-)Formular eingeladen haben. Dieser Trend dürfte sich nun weiter verstärken – auch wenn das von der kirchlichen Obrigkeit hier und da noch kritisiert wird. In der Provinz dagegen gehen die Geistlichen weiterhin ungebeten von Haus zu Haus, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass jeder Pole ein Katholik ist und den Priester empfangen will. Und vielerorts in der Provinz gilt es tatsächlich noch als eine Ehre, den Geistlichen zu bewirten oder von Haus zu Haus zu chauffieren.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL | 03. März 2022 | 16:35 Uhr