Kommentar Polen: Toter Papst als Wahlhelfer der Regierung

20. März 2023, 13:06 Uhr

Für die angeschlagene PiS-Partei muss es wie eine himmlische Fügung erscheinen – zwei Journalisten haben ein Thema aufs Tapet gebracht, das sich als Wahlkampfknüller erweisen könnte: Wie ging Johannes Paul II. mit dem Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche um? Die PiS profiliert sich als Verteidigerin des Papstes. Kann sie damit die Wahl im Herbst gewinnen? Ein Kommentar unseres Osteuropa-Redakteurs Cezary Bazydło.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Cezary Mariusz Bazydlo
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

In Polen hat eine Art politische Leichenschau begonnen. Seziert wird – natürlich nur symbolisch – "der größte Pole aller Zeiten", Papst Johannes Paul II., der vor nahezu zwei Jahrzehnten aus dieser Welt geschieden ist. Es geht um die Frage, wie das ehemalige Oberhaupt der katholischen Kirche mit Missbrauchsfällen umging. Neue Journalistenenthüllungen legen nahe, dass er schon als Erzbischof von Krakau, also lange vor seiner Papstwahl, mit dem Problem konfrontiert war und pädophile Priester nicht angemessen bestrafte. Dies bringt die bisherige Verteidigung des Papstes ins Wanken, wonach er das wahre Ausmaß der Missbrauchsproblematik nicht kannte, weil ihm viele Informationen vorenthalten worden wären, insbesondere in den letzten Jahren seines Lebens, als er krank und gebrechlich war.

Johannes Paul II. als "Wahlhelfer" der PiS

Die Enthüllungen haben ein politisches Erdbeben ausgelöst, bei dem es längst nicht mehr nur um den ehemaligen Papst geht. Der erbitterte Streit um die Bewertung seiner Person könnte sogar den Ausgang der Parlamentswahl im kommenden Herbst beeinflussen und der angeschlagenen Regierungspartei PiS doch noch zu einem glänzenden Sieg verhelfen. Denn sie hat sich umgehend die Verteidigung des päpstlichen "Erbes", wie man in Polen pathetisch sagt, auf die Fahnen geschrieben – und spricht damit viele Polen an, die die unangenehme Wahrheit über ihren Landsmann auf dem Papstthron nicht wahrhaben wollen.

Mehr zu den Journalistenenthüllungen zu Johannes Paul II.

Zwei journalistische Publikationen haben im März 2023 die seit einiger Zeit bereits "auf Sparflamme" köchelnde Debatte um die Haltung von Johannes Paul II. gegenüber Missbrauchsfällen erneut angefacht. Die Fernsehreportage von Marcin Gutowski "Franciszkańska 3" (betitelt nach der Straßenadresse der erzbischöflichen Residenz in Krakau) enthüllt seinen laschen Umgang mit mehreren Priestern, die sich an Minderjährigen vergriffen haben. Weitere Enthüllungen dieser Art bringt das kürzlich erschienene Buch des in Polen lebenden Niederländers Ekke Overbeek "Maxima Culpa. Was die Kirche zu Johannes Paul II. verheimlicht".

Die katholische Kirche und die rechte Seite der politischen Szene lehnen die Enthüllungen als unglaubwürdig ab. Die Begründung: Sie beruhten auf Akten der Staatssicherheit, die oft nur mit dem Ziel fabriziert worden seien, die Kirche als Institution und einzelne Geistliche zu kompromittieren. Papst-Kritiker entgegnen, die Staatssicherheit sei anders vorgegangen. Um Geistliche zu kompromittieren, habe sie in erster Linie mündlich weitergegebene Gerüchte in Umlauf gebracht. Schriftliche Akten seien dagegen für den internen Dienstgebrauch bestimmt gewesen – sie enthielten deshalb größtenteils Informationen, die der Wahrheit entsprächen und oft anhand mehrerer Quellen verifiziert worden seien. Gemäßigte Stimmen unterstreichen wiederum, dass die Quellenlage noch zu dünn und weitere Archivrecherchen nötig seien, um das Handeln von Johannes Paul II. abschließend bewerten zu können. Das Problem dabei: Die Kirche öffnet ihre Archive nicht für Historiker.

Maßlosigkeit im Regierungslager

Dabei zieht die PiS-Partei alle Register – und schießt bisweilen übers Ziel hinaus. So wurde beispielsweise der US-Botschafter ins Außenministerium einbestellt, nur weil der polnische Sender TVN, der eine der Enthüllungsreportagen brachte, dem US-Konzern Discovery gehört. Das Parlament nahm eine Resolution gegen die "unwürdigen Versuche, den Heiligen Johannes Paul II. zu zerstören" an. Parlamentspräsidentin Elżbieta Witek nutzte erstmalig ihr Recht auf eine Fernsehansprache zur besten Sendezeit und reihte Johannes Paul II. darin in die Liste der Nationalsymbole ein, neben der polnischen Flagge und dem Staatswappen.

Papst-Debatte lenkt von wahren Problemen ab

Doch bei all dem geht es in Wahrheit nicht um die Verteidigung von Johannes Paul II., sondern um die Verteidigung der PiS-Macht. Die Papstdebatte ist der problemgebeutelten PiS-Partei wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß gefallen. Im Herbst stehen Wahlen an und die Regierungspartei schwächelt seit langem in den Umfragen – unter anderem wegen der hohen Inflation von 14,4 Prozent, aber auch wegen zahlreicher Nepotismus- und Korruptionsskandale sowie umstrittener Entscheidungen wie der Verschärfung des Abtreibungsrechts Ende 2020.

Deshalb sucht die PiS händeringend nach einem Thema, das sie vor der Parlamentswahl im Herbst 2023 aus dem Umfragetief ziehen könnte – bislang eher erfolglos. Soziale Geschenke wie das Kindergeld 500+ oder Rentenerhöhungen, mit denen sie die beiden vorherigen Wahlen gewann, wirken kaum noch – die Polen haben sich daran gewöhnt und nehmen sie als Selbstverständlichkeit wahr. Auch die bisherigen Feindbilder, wie Flüchtlinge oder Lesben und Schwule, haben sich abgenutzt und beeindrucken niemanden mehr. Die Debatte um Johannes Paul II. könnte der Partei neuen Auftrieb geben.

Wann sind in Polen Wahlen?

Die nächsten Parlanentswahlen in Polen werden im Herbst 2023 stattfinden. Der genaue Termin steht noch nicht fest – er wird laut Verfassung von Staatspräsident Andrzej Duda festgelegt. Laut Verfassung hat er dafür Zeit bis Mitte August 2023.

In Frage kommen vier mögliche Wahltermine:

  • 15. Oktober 2023
  • 22. Oktober 2023
  • 29. Oktober 2023
  • 5. November 2023


Das ergibt sich aus den Bestimmungen der polnischen Verfassung. Sie legt fest, dass die Wahl auf einen gesetzlich arbeitsfreien Tag innerhalb der letzten 30 Tage vor dem Ende der Legislaturperiode fallen muss. Bisher fanden die Wahlen in Polen fast immer im Oktober statt.

Bleibt Johannes Paul II. Polens Nationalheld?

Welches Potential das Thema birgt, zeigt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts SW Research. 44,8 Prozent der Befragten sagten, die jüngsten Enthüllungen blieben ohne Einfluss auf ihre Bewertung des Lebenswerkes von Johannes Paul II. "Nur" 34,7 Prozent wollten ihr Papst-Bild revidieren. 14,6 Prozent gaben an, sie hätten von der Sache noch nichts mitbekommen. Um die Wahl zu gewinnen, braucht die PiS ungefähr 40 Prozent der Stimmen.

Dabei könnte der PiS zugutekommen, dass das Thema sehr emotionsbehaftet ist. Für relativ viele Polen ist das "Erbe von Johannes Paul II." identitätsstiftend. Seine Wahl zum Papst löste 1978 Euphorie aus und wurde zum Symbol der Hoffnung auf ein Ende der Diktatur. Viele tun sich deshalb heute schwer zu akzeptieren, dass der "größte Pole aller Zeiten" wie jeder Mensch auch Fehler beging. Versuche, seine Person zu entmythologisieren, stoßen auf erbitterten Widerstand. Auf der anderen Seite stehen diejenigen Polen, die eine "Ent-Johannes-Paul-isierung" Polens fordern, wo es Hunderte Papst-Denkmäler und nach ihm benannte Straßen gibt.

Personenkult um Johannes Paul II. in Polen

Der Papst-Kult in Polen sprengt jeden Rahmen. Das merkt man schnell bei einem Blick auf die Stadtpläne. Rund 1.000 Schulen in Polen tragen nach Angaben des Statistikamtes den Namen von Johannes Paul II., außerdem 654 Straßen und 210 Plätze, dazu 46 kleinere Grünanlagen und 15 große Parks. Die Zahl seiner Denkmäler wird grob auf 700 bis 800 geschätzt – davon wurden mehr als 230 noch zu Lebzeiten von Johannes Paul II. aufgestellt.

Polen: Denkmal für Johannes Paul II.
Denkmäler für Johannes Paul II. gehören fest zum Straßenbild der polnischen Städte. Ihre Zahl wird auf 700-800 geschätzt. Bildrechte: IMAGO/NurPhoto

Die hitzige Debatte sagt viel über die tiefe Spaltung der Nation. Denn in Polen wird seit Jahren ein symbolischer Bürgerkrieg ausgetragen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie das Polen der Zukunft aussehen soll. Auf der einen Seite stehen die progressiven, liberalen Bürger, tendenziell jünger und urbaner – auf der anderen die rückwärtsgewandten Traditionalisten mit ihrer Angst vor der modernen Welt, autoritär und obrigkeitshörig und eher in der Provinz zu Hause.

Symbolischer Bürgerkrieg in Polen

Diese Spaltung macht sich auch bei der gegenwärtigen Papstkontroverse bemerkbar. Gemäßigte Stimmen, die Johannes Paul II. differenziert betrachten und seine Verdienste und Defizite gleichermaßen thematisieren, sind rar. Es scheint, als gäbe es nur zwei Extreme und zwei unversöhnliche Lager: Verteidiger und Ankläger, mythologisierende Verklärung und vehemente Ablehnung. Eine sachliche Debatte ist kaum möglich. Beide Seiten bleiben bei ihrer vorgefassten Meinung und niemand ist daran interessiert, die Wahrheit über Johannes Paul II. zu erfahren. Denn im Grunde genommen geht es hier nicht um ihn. Er ist nur Projektionsfläche für den großen weltanschaulichen Streit der Polen untereinander – ein weiteres Schlachtfeld im symbolischen Bürgerkrieg.

Teller mit dem Porträt Johannes Paul II. hinter Tassen.
Papst-Kitsch an einem Andenkenstand in Krakau: Das Konterfei von Johannes Paul II. steht neben dem polnischen Staatswappen, und für viele Polen ist der ehemalige Papst tatsächlich identitätsstiftend. Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

"Politischer Goldstaub" für die PiS oder Eintagsfliege?

Für die PiS-Partei ist die Verteidigung des Papst-Mythos – wie man in Polen sagt – "politischer Goldstaub", und das praktisch zum Nulltarif, im Unterschied zu kostspieligen Sozialtransfers der vergangenen Wahlkämpfe, für die es angesichts der drohenden Rezession und vor dem Hintergrund der anstehenden kriegsbedingten Rüstungsausgaben keine großen Spielräume gibt.

Ein Selbstläufer muss die Debatte um Johannes Paul II. trotzdem nicht zwingend werden – aus zwei Gründen. Zum einen spielt die Zeit gegen die PiS. Die Wahlen, deren genauer Termin noch nicht feststeht, werden frühestens in acht Monaten abgehalten. Bis dahin haben sich die Gemüter möglicherweise wieder beruhigt – die Inflation, die Schreckenspreise an den Tankstellen, die Angst beim Öffnen von Gas- und Stromrechnungen werden die Bürger auf den Boden der Tatsachen zurückholen und die Frage aufkommen lassen, warum die PiS so viel von einem seit 18 Jahren Toten spricht, anstatt sich um die wahren Probleme der Gegenwart zu kümmern.

Zum anderen – und das verstärkt den Abnutzungseffekt – neigt die PiS bei ihren Kampagnen zu Maßlosigkeit. Eine Parlamentsresolution zu Johannes Paul II. mag man noch im üblichen Werkzeugkasten der Politik verorten. Hysterische, pathostriefende Fernsehauftritte von Politikern und die Vorladung des US-Botschafters ins Außenministerium lassen sich aber vielen gemäßigten Wählern kaum noch vermitteln. Wenn die PiS-Partei das Thema weiter so intensiv ausschlachtet, hat sie ihren "Joker" bis zur Wahl womöglich totgespielt. Wie so oft im Leben gilt hier: Viel hilft nicht unbedingt viel. Der politische "Goldstaub" könnte recht schnell seinen Glanz verlieren. Nur eines scheint klar: Um das Handeln von Johannes Paul II. fair beurteilen zu können, sind weitere Archivrecherchen von Historikern nötig.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – der Osteuropa-Podcast | 18. März 2023 | 07:17 Uhr

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