Kommentar Polen: Deutschland als Vorbild und Quelle der Frustration

17. Januar 2022, 17:31 Uhr

Vor 30 Jahren traten deutsch-polnische Verträge in Kraft, die Grenzfragen und die das deutsch-polnische Verhältnis regeln sollten. Seitdem sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern zwar enger geworden, doch es bleiben Spannungen.

Auf der Insel Usedom verbindet eine Straße die polnische Stadt Świnoujście mit der deutschen Stadt Ahlbeck. Sie ist viel befahren, überwiegend von Deutschen, die direkt auf polnischer Seite nach einem Parkplatz suchen. Ihr Ziel: der "Polenmarkt". Die Buden stehen dicht an dicht und bilden eine lange Gasse mit vielen Verzweigungen. Ein Labyrinth des Grenzkonsums. Aus einem Stand ertönt der Rammstein-Song "Deutschland" in Dauerschleife. "Die Käufer sind fast ausschließlich Deutsche. Die Polen kommen nicht hierher", sagt einer der Verkäufer. Vor allem Zigaretten seien noch immer beliebt. Sie sind häufig nur halb so teuer wie im Nachbarland. Außerdem gibt es polnisches Essen wie den Sauerkrauteintopf Bigos oder Unkrautvernichtungsmittel, die in Deutschland verboten sind.

Zigarettenland in Leknica, Polen
Wichtigste Ware, für die man aus Deutschland nach Polen kommt: Zigaretten. Bildrechte: imago images/Joko

Dieser Markt auf Usedom ist nicht der einzige "Polenmarkt". Es gibt sie überall an der deutsch-polnischen Grenze. Was zieht die Deutschen so magisch an, dass sie sogar aus Hamburg oder Braunschweig viele hundert Kilometer für einen Einkauf fahren? Liegt es nur an den niedrigeren Preisen? Oder ist es auch eine Art "Armentourismus", bei dem der ärmere Pole immer der "Diener" ist, der die wohlhabenderen deutschen Kunden zufrieden stellt? Der gut Deutsch sprechen muss und gar nicht erst erwartet, dass der deutsche Kunde selbst grundlegende Worte wie "Danke" oder "Guten Tag" auf polnisch sagen kann. Klar ist, der "Polenmarkt" ist ein Phänomen im polnisch-deutschen Grenzgebiet, das zeigt, wie ungleich die Beziehungen auch 30 Jahre nach Inkrafttreten der deutsch-polnischen Verträge immer noch sind.

Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag Vor 30 Jahren, am 16. Januar 1992, trat der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag in Kraft. Wärend im Grenzvertrag die Oder-Neiße-Grenze endgültig festgelegt worden war, konnten Deutschland und Polen mit dem Nachbarschaftsvertrag nun in Richtung Zukunft blicken. Sie einigten sich darauf, wie sich die Beziehungen der beiden Länder politisch, wirtschaftlich und kulturell entwickeln sollten. Politisch bekannte sich Deutschland dazu, Polen auf dem Weg in die Europäische Gemeinschaft, die heutige Europäische Union, zu unterstützen. Jugendaustausch, Städtepartnerschaften, wirtschaftliche und wissenschaftliche Kooperation sollten dafür sorgen, dass nun auch die Menschen in beiden Ländern wieder aufeinander zugehen.

So vieles hat sich zum Besseren gewendet

30 Jahre sind eine lange Zeit. In Deutschland und Polen hat sich viel verändert. Vor allem zum Besseren. Vor der Unterzeichnung des Grenzvertrags waren sich die Bewohner Westpolens viele Jahrzehnte lang keineswegs sicher, dass dieses für immer polnisch bleiben würde. Das Gebiet gehörte schließlich einmal zu Deutschland, die Grenzfrage war vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1991 ungeklärt. Viele der polnischen Zugezogenen taten sich schwer damit, sich mit ihrer neuen Heimat zu identifizieren. Heute ist klar: Die Grenze zwischen Polen und Deutschland verläuft entlang der Oder-Neiße-Linie, und das wird auch so bleiben. Rückblickend kann man sagen, dass dies ein riesiger Erfolg der Nachkriegsgeschichte ist.

Als Polen die Verträge 1991 mit Deutschland unterzeichnete, war es ein bankrottes Land, das sich in einer Phase schmerzhafter sozioökonomischer Reformen befand. Heute ist es ein EU-Land mit Ambitionen, eine der führenden Wirtschaftsnationen in Europa zu werden. Mit dem EU-Beitritt 2004, der von Berlin konsequent unterstützt wurde, erhielt Polen Mittel für seine Infrastruktur, die das Erscheinungsbild des Landes grundlegend veränderten: Es entstanden neue Bundesstraßen und lang ersehnte Autobahnen, gut ausgestattete und renovierte Schulen. Das Land brachte jetzt junge Menschen hervor, die nicht zuletzt durch das Studenten-Austauschprogramm Erasmus ihrem Lebenslauf einen Bonus hinzufügen konnten.

Vor 30 Jahren war es noch eine Herausforderung, das Gebiet des Nachbarn überhaupt zu betreten. Dank der offenen Grenzen können die Deutschen Polen nun problemlos kennen lernen. Nach dem Beitritt zum Schengen-Raum hat sich in den Grenzgebieten eine neue Dynamik entwickelt. Die Grenzen sind weniger sichtbar. Die deutsche Sprache ist nicht nur auf dem "Polenmarkt" zu hören, sondern auch auf der Stadtpromenade von Świnoujście, wo die deutschen Touristen ebenso eifrig flanieren wie in den Kaiserbädern auf der deutschen Seite der Insel Usedom.

Blick auf den Grenzübergang Ahlbeck Landkreis Vorpommern Greifswald.
Auf Usedom überwindet man die deutsch-polnische Grenze locker bei einem Strandspaziergang. Bildrechte: imago images/BildFunkMV

Nähe zahlt sich aus – vor allem wirtschaftlich

Nichts aber hat die beiden Länder in den letzten 30 Jahren so eng miteinander verbunden wie die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Polen gehört zu den fünf wichtigsten Handelspartnern Deutschlands, neben China, den Niederlanden, den USA und Frankreich. Das deutsch-polnische Handelsvolumen ist fast dreimal so hoch wie das zwischen zwischen Deutschland und Russland, dessen wirtschaftliche Bedeutung viele Deutsche meist überschätzen.

Im Mittelpunkt dieses Austauschs stehen die Zulieferer der deutschen Automobilhersteller. Die direkte Nachbarschaft hat ihre Vorteile auch in Zeiten der Corona-Pandemie bewiesen. Während die Welthandelswege notorisch verstopft sind, bricht der deutsch-polnische Handel neue Rekorde. Fest steht, dass die Pandemie eine weitere Krise ist, die die Grundfesten deutsch-polnischer Wirtschaftszusammenarbeit nicht erschüttern konnte. Trotz regelmäßig wiederkehrender Erschwernisse, wie beispielsweise der Notwendigkeit eines aktuellen Covid-19-Tests, überqueren Hunderttausende polnische Pendler regelmäßig die Grenze, um zur Arbeit nach Deutschland zu kommen.

Vergebliche Jagd nach dem deutschen Lebensstandard

Wenn wir die Qualität der Beziehungen nur nach wirtschaftlichen Maßstäben beurteilen würden, dann wären Polen und Deutschland das Musterbeispiel für eine enge Nachbarschaft. Die Realität ist aber vielschichtiger. Seit drei Jahrzehnten jagen die Polen dem "Westen" nach. Und für viele Polen bleibt der Westen oft Deutschland, ein Nachbar und gleichzeitig das reichste und mächtigste Land der EU. Polen möchte aufholen und strampelt und strampelt – doch es scheint wie eine aussichtslose Verfolgungsjagd. Das Ziel ist immer noch nicht erreicht.

Die Unterschiede zwischen dem Lebensstandard auf beiden Seiten der Oder sind weiterhin enorm. Einkommen, soziale Unterstützung für Familien, der Zustand der politischen Klasse und die Entwicklungsperspektiven der Wirtschaft – es ist schwer, einen Bereich zu finden, in dem sich Polen tatsächlich mit Deutschen auf Augenhöhe befinden.

Zwei Hände, eine mit der Flagge Deutschlands, die andere mit der Flagge Polens
Hand in Hand zu gehen ist bei den Unterschieden im Lebensstandard zwischen Polen und Deutschland nicht immer einfach. Bildrechte: imago images/Nelosa

Die Menschen neigen dazu, ihre reichen Nachbarn mit Misstrauen und Neid zu betrachten, selbst wenn diese stets versuchen, höflich und freundlich zu sein. So ist es auch bei diesen Nationen. Deutschland ist für Polen ein Vorbild, aber auch eine Quelle der Frustration, die auf die Frage hinausläuft: "Warum kann es bei uns nicht endlich so sein wie in Deutschland?" Wenn sich dieser Frust zusätzlich mit dem noch nicht verarbeiteten Trauma des Zweiten Weltkriegs mischt, bildet das einen perfekten Nährboden für antideutsche Phobien.

Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind 30 Jahre nach der Unterzeichnung der Verträge reifer geworden, aber immer noch weit entfernt von der "freundschaftlichen Zusammenarbeit", die im Titel des Vertrags steht, der vor drei Jahrzehnten in Kraft getreten ist. Das liegt wohl auch daran, dass wir uns in diesen 30 Jahren so gut kennen gelernt haben wie nie zuvor. Die letzten 30 Jahre waren Jahre einer noch nie dagewesenen Nähe. Dies hat uns ermöglicht, die vielen Unterschiede zu entdecken, die uns trennen. Es wird spannend sein zu sehen, wo wir in weiteren drei Jahrzehnten sein werden.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 11. Dezember 2021 | 11:17 Uhr

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