Friedlicher Protest Belarus: Die höfliche Revolution
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24. August 2020, 16:16 Uhr
Wenn sich irgendwo auf der Welt Menschen gegen Diktatoren erheben, dann bleiben die Proteste meistens nicht lange friedlich. Oft brennen Barrikaden, fliegen Steine und Molotowcocktails. Anders in Belarus. Zerstörte Schaufenster und demolierte Autos sucht man dort vergebens. Stattdessen trifft man auf freundliche, hilfsbereite Leute, die bemüht sind, sich an Regeln zu halten. Unsere Kollege in Minsk, Kastus Januschkevic, erklärt das Besondere am Wesen seiner Landsleute.
"Möchten Sie eine Banane? Nein? Vielleicht Eis?" Zwei junge Männer halten ihr Auto an, als sie in der Minsker Innenstadt auf blumenschwenkende Frauen treffen. Sie wollen den Demonstrantinnen etwas Gutes tun. Ihr Service ist gratis. Schon seit zwei Wochen protestieren die Menschen in Belarus gegen die Wiederwahl von Dauerherrscher Lukaschenka. Die langen Schlangen von Frauen mit den weißen Blumen und weiß-rot-weißen Tüchern (der ursprünglichen Flagge des unabhängigen Belarus) ist eine Antwort auf die Gewalt, mit der belarusische Spezialeinheiten der Polizei die Proteste zu Beginn brutal niedergeknüppelt hatten. "Sie schlagen eingesperrte Frauen und Männer, doch wir gehen weiter friedlich mit den Blumen auf die Straßen", sagt Chrystina Drobysch, bis vor kurzem Schauspielerin am größten Staatstheater des Landes. Mittlerweile ist sie arbeitslos. Das komplette Ensemble hatte sich entschieden, gegen Gewalt und gegen das Ergebnis der Präsidentenwahl am 9. August zu streiken. Als der Theaterdirektor und ehemalige Kulturminister Pavel Latuschka die Schauspieler unterstützte, wurde er gefeuert. Aus Solidarität mit ihrem Chef kündigte tags darauf die ganze Truppe.
Solidarität wird in Belarus großgeschrieben. Viele Menschen gehen zu den Streikenden der staatlichen Fabriken und versorgen sie mit Essen und Getränken. Und sammeln Geld für die Opfer von Polizeigewalt und für entlassene Arbeiter und Staatsbeamte.
Protestzug als Straßenreinigung
Wenn man dieser Tage durch Minsk oder andere Städte des Landes geht, dann wirkt die Szenerie, sieht man von der Polizeipräsenz einmal ab, ausgesprochen friedlich. Demonstrationszüge werden von trommelnden und Dudelsack spielenden Frauen und Männern angeführt. Die Protestierenden stehen nie auf Blumenbeeten oder blockieren Fahrradwege. Und wenn sie auf Parkbänke steigen, um bessere Sicht auf einen Redner zu haben, dann ziehen sich viele Belarusen vorher ihre Schuhe aus. An Wochenenden, wenn besonders viele Menschen demonstrieren, stehen an jeder Kreuzung Wasserflaschen bereit, und junge Leuten laufen mit großen schwarzen Tüten herum und sammeln Müll ein. Auf Twitter scherzt man bereits: "Die belarusischen Proteste sind die einzigen, bei denen es nach den Protesten auf den Straßen sauberer ist als vorher".
Graffitis am Zigarettenkiosk
Politische Botschaften werden natürlich auch in Belarus per Spraydose im öffentlichen Raum verbreitet. Doch selbst dabei verhalten sich die Menschen hier auffällig unauffällig. Kein Auto wurde bislang besprüht, keine Fensterscheibe und selbst die Fassaden von Verwaltungs- und Regierungsgebäuden blieben bislang unangetastet. Wer politische Botschaften zu verkünden hat, bringt sie auf dem Asphalt unter. Die beliebtesten Sprühflächen sind jedoch Zigarettenkioske. Diese Kioske, Tabakerkas, hat Präsident Lukaschenka in den vergangenen Jahren an Minsker Haltestellen bauen lassen, nachdem er alle alten Kioske abreißen ließ. Die neuen Tabakerkas gehören einem Lukaschenka nahestehenden Geschäftsmann. Für viele Menschen hier symbolisieren sie das korrupte, autokratische System.
Ein Alien an der Ampel
Ich bin nun schon häufiger gefragt worden, warum die Menschen hier so auffallend friedlich und freundlich demonstrieren. Vielleicht spiegelt sich darin einfach die Seele unseres Volkes wider. Wir Belarusen sind offenbar ein sehr ordnungsliebendes Volk, das sich gerne an Regeln hält und wenig zu Gewalt neigt. Auch in normalen Zeiten war es hier schon immer so, dass die Leute die Straße nur an einem Zebrastreifen überquerten und jemanden, der bei roter Ampel losläuft, für ein Alien hielten. Und selbst auf Demos von Nationalisten, die 2019 im Military-Look gegen eine Einverleibung unseres Landes durch Russland demonstrierten, sammelte man die zerrissenen Putinbilder nach dem Protest wieder ein und steckte sie verschämt in die Jackentaschen.
Ich hoffe, dass sich auch die Polizisten und Soldaten in den kommenden Wochen und Monaten so verhalten werden und meinem Land weitere Gewalt erspart bleibt.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL Fernsehen | 21. August 2020 | 17:45 Uhr