Fakt ist! aus Erfurt Kopfnoten und Sitzenbleiben: Streit um Thüringer Schulordnung
Hauptinhalt
13. März 2025, 01:14 Uhr
In Thüringer Schulen sollen Kopfnoten und Sitzenbleiben bald wichtiger sein als längeres gemeinsames Lernen. Zumindest will das der neue Bildungsminister. Doch gegen diese Pläne formiert sich Widerstand. Warum, das wurde am Mittwochabend in der Sendung "Fakt ist!" aus Erfurt diskutiert.
"Kopfnoten stellen eine Stigmatisierung dar, sie führen nicht zu einer Verhaltensänderung", sagt gleich zu Beginn Andres Winkler aus der MDRfragt Community. Er ist selbst Vater und für ihn ist das Lernen eine gemeinschaftliche Sache. Kinder, Eltern und Lehrer müssen gemeinsam an einem Strang ziehen. Und, davon ist er überzeugt, "Gemeinsames längeres Lernen ist besser für die Kinder".
Und genau das ist das Problem, denn die Vorschläge des neuen Thüringer Bildungsministers für die Änderung der Schulordnung werden vor allem von den Thüringer Gemeinschaftsschulen (TGS) kritisiert.
Zum Aufklappen: Was sind die Besonderheiten der Gemeinschaftsschule?
Egal, ob staatlich oder in freier Trägerschaft, für alle Gemeinschaftsschulen gilt:
Alle Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam mindestens bis zur Klassenstufe 8. So entfällt eine frühzeitige Festlegung auf einen Bildungsgang. Ab Klassenstufe 9 wird abschlussbezogen unterrichtet.
Um der ausgeprägten Vielfalt in den Lerngruppen gerecht zu werden, ist eine innere Differenzierung des Unterrichts erforderlich. Die Lehrerinnen und Lehrer der Gemeinschaftsschulen nutzen die Lehrpläne für den Erwerb des Hauptschul- und des Realschulabschlusses und den Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife.
Die Bildungsgänge sind an der Gemeinschaftsschule durchlässig gestaltet. So kann ein Übertritt an das allgemein bildende Gymnasium nach den Klassenstufen 4 bis 8 und 10 mit Realschulabschluss erfolgen, sofern die Übertrittsbedingungen erfüllt sind.
Die dazu notwendigen gesetzlichen Regelungen sind im Schulgesetz verankert, so dass mit dem Start des Schuljahres 2011/2012 die ersten regulären Thüringer Gemeinschaftsschulen ihre Arbeit aufnehmen konnten.
Kopfnoten
Mit Kopfnoten werden unter anderem Mitarbeit und soziales Verhalten der Schülerinnen und Schüler bewertet. Sie sind üblicherweise nicht relevant für die Versetzung der Schüler.
Die Bezeichnung Kopfnoten ist darauf zurückzuführen, dass diese Noten auf dem Zeugnis oberhalb der restlichen Noten - am Zeugnis-Kopf - stehen.
Bettina Flügel ist Landeselternsprecherin der Gemeinschaftsschulen und sagt: "Wenn das so kommt, ist das das Ende für die TGS". Viele Jahre haben alle Beteiligten gemeinsam an der Schulordnung gearbeitet und jetzt würde sie einfach so außer Kraft gesetzt, kritisiert sie.
Der Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Freier Schulen, Marco Eberl, stimmt ihr zu. Die Gemeinschaftsschulen hätten schon immer die Eltern sehr intensiv eingebunden. "Dieses Engagement ist eine Voraussetzung für den Erfolg von Schule", betont er. Die Beteiligten würden jetzt ihr "Lebenswerk" bedroht sehen.
Kopfnoten für Schüler und Schülerinnen "nicht nachvollziehbar"
Und auch die Schülerinnen und Schüler, die sich zu Wort melden, widersprechen den neuen Regeln. Sie würden als Druckmittel bei Konflikten verwendet, würden dafür sorgen, dass schwächere Schüler Angst bekommen würden vor der Schule.
Darüber hinaus seien die Kopfnoten sehr subjektiv und nicht nachvollziehbar. "Ich kann ja auch intensiv mitarbeiten, ohne mich ständig zu melden, wenn ich introvertiert bin", sagt Landesschülersprecher Erik Sczygiol aus Neudietendorf.
Außerdem stelle sich die Frage, warum man sich mit Kopfnoten befasse, wo es doch in Thüringen viel größere Probleme an den Schulen gebe, ergänzt Charlotte Siegesmund.
Der neue Thüringer Bildungsminister Christian Tischner (CDU) will natürlich auch gegen Lehrermangel und Unterrichtsausfall vorgehen, sagt er. Aber auch die Bildungsqualität sei wichtig. Und aus seiner Sicht liegt Thüringen da seit einiger Zeit nicht mehr an der Spitze, sondern bewegt sich Richtung Mittelfeld.
Und eben da könnten die Änderungen, die für die Schulordnung jetzt auf dem Tisch liegen, helfen. Und es gehe dabei auch nicht um Leistungsdruck, so der Minister, sondern "es geht um eine Rückmeldung an die Schüler über ihre Leistungen." In der Schule lerne man ja auch fürs Leben. "Anstand und Respekt gehen immer mehr verloren", sagt Tischner. Da könnten die Kopfnoten gegensteuern.
Darüber hinaus, wenn ein Schüler beispielsweise schlecht sei in den Naturwissenschaften, der Lehrer ihn aber als fleißig und ordentlich wahrnimmt, könnte das helfen. Wie genau, ließ der Minister allerdings offen.
Wir machen Politik schließlich für die Mehrheit der Bevölkerung.
Außerdem, so Tischner, sei man ja gerade am Beginn eines Prozesses. "Wir werten jetzt erst einmal alle Rückmeldungen aus." Gemeinsam sei man auf einem guten Weg und der Schulfrieden solle in Thüringen erhalten bleiben. Die jetzt geplanten Änderungen stünden ja auch so im Koalitionsvertrag und die Mehrheit der Thüringer sei dafür. "Wir machen Politik schließlich für die Mehrheit der Bevölkerung."
Zum Aufklappen: Was plant der neue Bildungsminister genau?
Kopfnoten:
Die werden bislang in den Klassenstufe 5, 6, 7 und 8 vergeben. Künftig soll es Kopfnoten von Klasse 1 bis 8 geben.
Sitzenbleiben:
Bisher können Schüler in den Klassen 5 und 7 nicht sitzenbleiben. Sie werden auf alle Fälle, egal wie die Leistungen sind, in die nächste Klasse versetzt.
Künftig soll diese Regel – zumindest für Klasse 7 – abgeschafft werden. Bedeutet: Sitzenbleiben geht dann ab Klasse 6 bis zum Abschlussjahrgang immer.
Man kann den Bewerber dann besser einschätzen. Wenn er eine schlechte Mathenote hat, aber ich sehe, er strengt sich an, nehme ich ihn vielleicht trotzdem.
Torsten Herrmann ist Präsident der IHK Südthüringen und unterstützt die Vorschläge des Ministers. Aus seiner Sicht wären die Kopfnoten vor allem für künftige Arbeitgeber sehr nützlich. Deshalb würde er sogar noch weiter gehen und sie bis zum Ende der Schulzeit vergeben und auf das Abschlusszeugnis schreiben.
"Man kann den Bewerber dann besser einschätzen. Wenn er eine schlechte Mathenote hat, aber ich sehe, er strengt sich an, nehme ich ihn vielleicht trotzdem." Auch die Fehlzeiten der Bewerber würde Hermann gerne auf dem Abschusszeugnis sehen.
Noten oder verbale Einschätzungen besser für die Leistung?
Heike Schimke vom Thüringer Philologenverband gefällt, dass durch die neuen Regeln der Leistungsgedanke gestärkt würde, sagt sie. "Der Vergleich zu anderen ist wichtig für Kinder." Paulin Berg, Elternsprecherin aus Weimar allerdings sieht das anders: "Weshalb kann Leistung nicht ohne Noten funktionieren?"
Die versuchen dann mit einer KI die verbalen Einschätzungen wieder in Noten umzurechnen.
Sie beobachtet an der Jenaplan-Schule, dass die Kinder auch ohne Noten sehr viel leisten. "Auch Kopfnoten können verbal prima funktionieren", findet sie.
Das sieht Minister Tischner anders. Aus seiner Sicht würden die verbalen Einschätzungen viele Eltern überfordern. "Die versuchen dann mit einer KI die verbalen Einschätzungen wieder in Noten umzurechnen."
Marco Eberl kann das nicht nachvollziehen, seien doch die verbalen Einschätzungen mit ihren 15 Kriterien viel genauer und differenzierter als die Noten. "Das ist eine Rückmeldung für die Eltern, wie sich das Kind entwickelt hat." Schule vermittle schließlich nicht nur Fachwissen, sondern auch Kompetenzen.
Auch aus wissenschaftlicher Sicht finden sich kaum Argumente für die Kopfnoten, sagt Maria Hallitzky von der Universität Leipzig. Sie ist Professorin für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik. "Kopfnoten sind zu weit weg vom ursprünglichen Verhalten, sie taugen nicht als Rückmeldung."
Die Rückmeldungen, die die Lehrkräfte täglich geben, seien wichtig. "Die Länder, die bei der Pisa-Studie gut abschneiden, haben keine Kopfnoten", so die Wissenschaftlerin.
"Die Pisa-Spitzenreiter verzichten auch aufs Sitzenbleiben" ergänzt Hallitzky und kommt damit zum zweiten, von vielen Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrerinnen und Lehrern kritisierten Tischner-Vorschlag.
Sitzenbleiben als Chance sehen?
In Thüringen gibt es seit Bildungsminister Christoph Matschhie (SPD) nach der 5. und 7. Klasse kein Sitzenbleiben mehr. Geht es nach den Plänen des neuen Ministers, wird diese Regelung für die 7. Klasse jetzt gestrichen. Dass sie für die 5. Klasse bestehen bleiben soll, bezeichnete Tischner als Kompromisslösung in der Koalition.
"Wir wollen fördern und fordern", sagt Tischner. Die Kinder könnten in der 8. Klasse niemals die Lücken aus zwei Schuljahren füllen. Das hätte zur Folge, dass in der 8. Klasse deutlich mehr Schüler sitzenbleiben. Davon abgesehen müsse man das Sitzenbleiben ja auch nicht negativ sehen, sondern können es auch als Chance begreifen.
Sitzenbleiben zerbricht das soziale Umfeld und nimmt der Gemeinschaftsschule den Kern.
Dem widerspricht Maria Hallitzky: Es sei kein positiver Effekt des Sitzenbleibens nachgewiesen worden. Im Gegenteil. "Die Betroffenen entwickeln mehr Verhaltensauffälligkeiten", so die Wissenschaftlerin. "Die Schülerinnen und Schüler wollen ja lernen. Wenn sie sich kompetent fühlen, autonom fühlen, sozial eingebunden fühlen – dann arbeiten sie gern und haben auch eine hohe Motivation".
Das ist für Marco Eberl nicht überraschend. "Warum immer die Schüler als schuldig erklären? Warum nicht das System?" Stabile Lerngruppen seien wichtig. Durch das Sitzenbleiben werden die jungen Menschen aber aus ihrem Klassenverband herausgerissen. "Sitzenbleiben zerbricht das soziale Umfeld und nimmt der Gemeinschaftsschule den Kern."
Rechtzeitige Förderung scheitert am Lehrermangel
Auch Torsten Herrmann von der IHK bestätigt, dass längeres gemeinsames Lernen gut für die Kinder ist. Und Heike Schimke, die selbst seit 36 Jahren Lehrerin ist, ergänzt, dass es am besten wäre, die Schüler kämen gar nicht in die Situation, versetzungsgefährdet zu werden. Man müsse gleich fördern, wenn Probleme auftreten.
Allerdings, so der Minister, sei man da direkt wieder bei den großen Herausforderungen: Lehrermangel und Unterrichtsausfall.
Warum können wir nicht, statt über Kopfnoten und Sitzenbleiben zu reden, das ganze System ändern?
Minister Tischner will jetzt mit allen Beteiligten seine Vorschläge diskutieren, auch über Bedarfe und Ressourcen soll geredet werden. Er will einen Rahmen vorgeben: "Keine Schule in Thüringen kann machen, was sie will".
Und dann stellt Landesschülersprecher Erik Sczygiol eine Frage, die ihm viel Applaus einbringt im Studio: "Das Schulsystem ist schon sehr alt. 25 Prozent der Jugendlichen haben inzwischen psychische Probleme. Der Druck steigt durch diese neuen Vorschläge. Warum können wir nicht, statt über Kopfnoten und Sitzenbleiben zu reden, das ganze System ändern?"
Darauf gibt es an diesem Abend keine Antwort. Aber eins ist sicher, auch wenn das Verfahren noch nicht abgeschlossen und in allen Einzelheiten ausgefeilt ist: Kopfnoten und neue Regeln für die Versetzung werden eingeführt, sagt Minister Tischner, wie es ja auch im Koalitionsvertrag steht.
MDR (gh)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! aus Erfurt | 02. April 2025 | 20:15 Uhr
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/5ad13e79-0bc4-4c8b-935e-923c16c640aa was not found on this server.