Ein Pflasterstein auf einer Grabwiese, auf dem sich ein QR-Code befindet.
Über einen QR-Code erfahren Besucher des Alten und Neuen Annenfriedhofs in Dresden mehr über Verstorbene. Bildrechte: MDR / Martin Dietrich

Erinnerungskultur Die sprechenden Gräber von Dresden: "Was soll denn ein Friedhof sein?"

27. Juli 2023, 05:00 Uhr

Wer über einen Friedhof schlendert, wird häufig aufwendige Grabstellen von scheinabr einst wichtigen Persönlichkeiten finden. Das Projekt "Unvergessen" aus Dresden will diesen Gräbern eine Stimme geben. Auf dem Alten und Neuen Annenfriedhof gibt es einige Gräber, die über QR-Codes zu einer kuratierten Übersicht des Verstorbenen führen. Im Zuge der Recherche sprachen die Projektinitiatoren mit Hinterbliebenen und versuchten, faszinierende Lebensgeschichten zu finden.

Die meisten Gräber erzählen eine einfache Geschichte: Jemand wird geboren und stirbt. Das Grab von Felix von Kunowski auf dem Alten Annenfriedhof erzählt noch mehr Geschichten. Zum einen steht da sein militärischer Dienstgrad: Generalmajor. Zum anderen steht da aber auch eine Information, die für viele wohl unverständlich bleiben wird. "Er erfand die Sprechspur."

Für die Friedhofsverwalterin Lara Schink sind es genau solche Geschichten, die sie mit ihren sprechenden Gräbern erzählen will. "Ein Nischen-Thema, aber super interessant", sagt sie, als sie gerade am Grab des Stenografen vorbeiläuft. Und sie verrät uns, dass von Kunowski die Sprechspur, eine Schriftart zum schnellen Schreiben für Kinder, erfunden hat. Zudem war er Miterfinder der Nationalstenografie.

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Video

Fünf sprechende Gräber stehen in Dresden

Noch kann dieses Grab aber nicht sprechen. Vier Gräber im Alten und eins im Neuen Annenfriedhof in Dresden können dies aber schon – zumindest über einen QR-Code. Sie sind auf Pflastersteinen vor den Gräbern angebracht. Scannt man die Codes mit dem Handy, wird man zu einer Webseite geführt, die aus Videointerviews mit Hinterbliebenen, kunsthistorischen Einschätzungen der Grabsteine sowie biografischen Texten besteht. Ein ähnliches Projekt gibt es auch in Bautzen.

Das Projekt "Unvergessen" wurde von den Stadtbezirksämtern in Plauen und Cotta gefördert. Jetzt ist der Geldhahn aber erstmal zugedreht, was die weitere Betreuung erschwert, erklärt Schink. Wer eine solche Erinnerungspflege für ferne Verwandten hätte, müsse nun selbst Friedhöfe kontaktieren und mit den zuständigen Ämtern verhandeln. "Daran hängt ein ellenlanger bürokratischer Rattenschwanz. Da wäre es schön, wieder eine Förderung zu haben, die das teilweise abdeckt", sagt Schink. 

Ziel des Projekts ist es, die Erinnerung an stadtgeschichtlich bedeutende Persönlichkeiten zu bewahren, die heute in Vergessenheit geraten sind. Die Idee dazu kam Schink, als sie Projekte wie "Bekannte Unbekannte, unbekannte Bekannte" am Neuen Annenfriedhof besuchte.

Dort habe der Enkel des Sinfonikers Paul Büttner davon erzählt, wie sein Opa einst ein gefeierter Musiker war und nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 seinen Job und seine Reputation verlor. Bei seiner Beerdigung 1943 soll seine jüdische Ehefrau in Vollverschleierung geflüchtet sein. "Das fand ich total bewegend", sagt Schink. "Er war damals dabei als kleiner Junge und jetzt erzählt er mir davon."

Sommerflor auf Gräbern mit Video
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Journalist unterstützt Recherche

Für ihr Unterfangen hat Schink den Enkel später erneut kontaktiert und interviewt. Das ungewöhnliche Grab Büttners, eine Skulptur des Verstorbenen, die gen Himmel blickt, wird so greifbarer für Besucher und Besucherinnen des Friedhofs. Bei der Recherche und den Gesprächen half ihr der Journalist Henry Berndt von der "Sächsischen Zeitung".

Neben seiner Redaktionstätigkeit betreibt Berndt einen Zweitjob: das Biografie-Projekt "Meine Lebenslinien". Dafür spricht er mit Menschen, die ihre Lebensgeschichte in einem Buch verewigt sehen wollen. "Für mich war es eine sehr große Herausforderung, weil ich ja normalerweise mit lebenden Protagonisten zu tun habe, die mir aus erster Hand ihre Geschichte erzählen", sagt Berndt.

Für mich war es eine sehr große Herausforderung, weil ich ja normalerweise mit lebenden Protagonisten zu tun habe, die mir aus erster Hand ihre Geschichte erzählen.

Henry Berndt Journalist, "Sächsische Zeitung"

"In dem Fall ist es aber wirklich mehr eine Spurensuche. Es setzt sich wie ein Puzzle aus all den Dingen zusammen, die die Verstorbenen hinterlassen haben. Das können manchmal Schriftstücke, Musik, Bilder oder eben die Hinterbliebenen sein." 

Keine objektive Betrachtung

Neben dem Musiker Büttner gehört auch der Maler Julius Schnorr von Carolsfeld, der 1794 in Leipzig geboren wurde und das Bildnis Gottes als alten Mann mit langem Bart und wehendem Gewand entscheidend prägte, zu den "Unvergessenen".

Zudem wurde Material gesammelt zum Kriminologen Paul Näcke, der zu den Ersten gehörte, die den Begriff Narzissmus im wissenschaftlichen Kontext verwendeten sowie zum Bergsteiger und selbsternannten Archäologen Alfred Neugebauer. "Ich fand es gerade spannend, dass es keine absoluten A-Promis sind, die jeder kennt und wo man einfach die Geschichte bei Wikipedia aufrufen kann", sagt der Journalist Berndt.

Im Falle von Paul Näcke befand sich das Grab sogar kurz davor, geräumt zu werden. Nach dem Anruf einer Angehörigen, die das Grab eigentlich auflösen wollte, entdeckte Friedhofsverwalterin Schink die spannende Lebensgeschichte und rettete so die Begräbnisstätte, erzählt sie.    

Für die Recherche stehe vor allem die subjektive Perspektive der Hinterbliebenen im Vordergrund. Ein alles umfassender Blick sei nicht machbar gewesen. "Wir mussten uns natürlich auch auf das beschränken, was fassbar ist. Uns ging es um eine nicht-neutrale Berichterstattung durch die Brille einer speziellen Person im Gegensatz zu einer Dokumentation", sagt Schink.

Grabstein auf einer Wiese mit Video
Bildrechte: IMAGO / YAY Images

Viele weitere Schätze

Für die Zukunft würden sich beide über weitere Freiwillige oder auch Vereine freuen, die das Projekt finanziell oder inhaltlich unterstützen. Es gibt noch einige weitere Schätze zu finden, da ist sich Berndt sicher. Er hofft darauf, dass die sprechenden Gräber womöglich auch das Image eines Friedhofs verbessern und modernisieren könnten.   

Uns ging es um eine nicht-neutrale Berichterstattung durch die Brille einer speziellen Person im Gegensatz zu einer Dokumentation.

Lara Schink Friedhofsverwalterin, Verband der Annenfriedhöfe Dresden

"Was soll denn ein Friedhof sein?," fragt sich wiederum Schink. "Ist er in erster Linie Bestattungsfläche? Oder Kultur- und Denkmalort? Oder einfach eine Erholungsstätte? Der Friedhof macht am Ende alles gleichzeitig und es geht immer darum, wie man richtig abwägt, damit ein guter Kompromiss entsteht." Und ein Grab, das Außenstehenden mehrere Geschichten zu erzählen hat, ist vielleicht ein solcher Kompromiss. 

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 26. Juli 2023 | 15:20 Uhr

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