Analog und digital Schule der Zukunft in Dresden: Mit Stift und Laptop in die "Bildungswende"

04. Oktober 2023, 13:28 Uhr

Ende September haben Tausende Menschen beim Protesttag für eine Modernisierung des deutschen Bildungswesens demonstriert. Wie Digitalisierung dabei helfen kann, wird schon seit 2019 ganz praktisch an einer Schule in Dresden-Plauen erforscht. Lehrer und Bildungswissenschaftlerinnen der TU Dresden erkunden im Unterricht, wie viele Apps und Lernprogramme für Grundschüler gut sind – und wie viel Stift, Papier und Buch sein müssen. Ein Projekt, das ein Impuls sein könnte für die dringend geforderte "Bildungswende".

  • Die Universitätsgemeinschaftsschule in Dresden-Plauen ist ein Reallobar, in dem Lehrer, Forscherinnen und Schüler gemeinsam erkunden, wie sich analoger und digitaler Unterricht sinnvoll verbinden lassen.
  • Jüngere Grundschulkinder starten ohne Noten und Handy, dafür mit Stift, Papier und jahrgangsübergreifend.
  • Bildungsforscher appellieren an die Politik, Impulse aus Praxis und Forschung ernst zu nehmen und betonen die zentrale Rolle der Lehrerinnen und Lehrer auch in der digitalen Schule.

8,7 Millionen Grundschüler gibt es in Deutschland. Jedes 4. Kind kann nicht richtig lesen. Dafür gibt es viele Ursachen – aber welchen Anteil hat die digitale Informationsflut, die über die Kinder schon im Vorschulalter und dann in der Schule hereinbricht? Können die Kinder das beherrschen? Oder muss die Bildungspolitik dafür sorgen, dass Kinder trotz Handy und Tablet noch ganz altmodisch und analog Lesen und Schreiben lernen?

Klaus Zierer, Professor für Bildungspädagogik, empfiehlt rasche Erkenntnis und fasst die Bildungsmisere so zusammen: "Wenn wir feststellen, dass seit zehn Jahren die Leistungen flächendeckend zurückgehen und wir es nicht mehr schaffen, Kindern die Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, obschon wir wissen, wie wichtig Lesekompetenz für den weiteren Bildungserfolg ist, dann ist es höchste Zeit zu erkennen, dass wir in einer Bildungskatastrophe sind."

Universitätsgemeinschaftsschule in Dresden-Plauen: Analog und digital

Im Dresdner Stadtteil Plauen gibt es eine Universitätsgemeinschaftsschule – hier forschen Bildungswissenschaftlerinnen der TU Dresden und Lehrer zusammen an der Frage, wie viel digitale Hilfsmittel wie Apps und Lernprogramme gerade für Grundschüler wirklich gut sind und wie viel Buch, Stift und Papier sein müssen: "Ich kann als Grundschulkind nicht sofort auf dem Laptop arbeiten, ich muss Schreiben, Lesen oder Rechnen lernen, indem ich es sinnhaft begreife", erklärt Anke Langner, Professorin für Erziehungswissenschaft an der TU Dresden: "Wir sind Menschen, die über den Körper in den Kopf arbeiten. Ich brauche meine Motorik dazu, so eigne ich es mir am besten an."

Eine Frau mit dunklen langen Haaren, Brille und kurzärmeligem rotem Kleid steht vor einem Gebäude
Prof. Anke Langner begleitet als Bildungswissenschaftlerin von der TU Dresden die Laborschule in Dresden-Plauen und stellt die Sinnfrage. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ich kann als Grundschulkind nicht sofort auf dem Laptop arbeiten, ich muss Schreiben, Lesen oder Rechnen lernen, indem ich es sinnhaft begreife.

Anke Langner, Professorin für Erziehungswissenschaft an der TU Dresden

Aber es geht eben nicht darum, Tablets zu Teufelszeug zu erklären. An der Dresdner Laborschule versucht man seit vier Jahren, einen wissenschaftlichen Ansatz zu verfolgen: Die Kinder hier wurden gezielt ausgewählt, alle Bevölkerungsschichten sind vertreten. Es gibt keine Noten, und Handys sind tabu. In den ersten drei Jahren lernen die Kinder jahrgangsübergreifend. Lehrer wie Sebastian Deutschmann wollen so herausbekommen, welches Kind wie viel analogen und wie viel digitalen Unterricht braucht:

Ein Mann mit kurzen, hellen und gescheitelten Haaren und schwarzem Pulli
Sebastian Deutschmann arbeitet als Grundschullehrer an der Universitätsgemeinschaftsschule in Dresden und betont das dialogische Prinzip. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ich beobachte die Kinder hier viel in ihren alltäglichen Arbeitssituationen. So kann ich viel gezielter Hinweise geben, als wenn ich bloß digital Arbeitspakete bereitstelle.

Sebastian Deutschmann Lehrer

Denn dann könne er die Kinder bei der Arbeit daran nicht beobachten, nicht begleiten. Aber genau das sei eine seiner zentralen Aufgaben als Lehrer, "hier tatsächlich Impulse zu setzen und dann zu gucken: Wie gehen die Kinder damit um, wo sind Schwierigkeiten, um gezielt Hilfestellung zu geben".

Moderne Bildung: Mehr als Apps und Videokonferenzen

Das mag alles altmodisch analog klingen, aber interessanterweise hat genau diese Schule vor Kurzem den "Schulpreis Digitaler Unterricht" bekommen. Entscheidend dafür war nicht ob, sondern wie die digitalen Hilfsmittel zum Einsatz kommen. Beim morgendlichen Check-In zum Beispiel, aber auch bei der Organisation des Schultages, der den Schülern eigenverantwortliches Lernen ermöglichen soll.

Ein Mädchen hält einen elektronischen Chip an ein Lesegerät, dahinter warten weitere Kinder
Digitale Helfer lernen auch die jüngeren Kinder schon beim morgendlichen Check-In zu benutzen, auch wenn Lesen und Schreiben dann mit Stift und Papier gelernt werden. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ab der vierten Klasse auch am Laptop, wie die Dresdner Bildungswissenschaftlerin Anke Langner weiter ausführt: "Das Digitale wird bei uns wirklich als Werkzeug etabliert. Es geht nicht darum, dass man Videokonferenzen machen oder Lern-Apps nutzen kann. Das gehört auch dazu. Aber das ist nicht der Fokus – der Fokus ist, dass die Schülerinnen und Schüler das Digitale als neue zusätzliche Kulturtechnik erlernen – so wie die Lehrer lernen müssen, damit systematisch ihren Unterricht zu gestalten."

Je älter die Grundschüler werden, umso mehr könnten Lern-Apps eine Rolle spielen. Aber es gibt ein Problem: Die vorhandenen Lernprogramme gehen oft am Schulalltag vorbei. Auch dazu wird in Dresden Neues versucht. Laut Bildungswissenschaftlerin Anke Langner wird Software bisher vor allem durch Schulbuchverlage entwickelt, die sich vorstellten, wie Schule funktioniere. Dabei müsste dies eigentlich in der Schule geschehen, "damit wir sehen: Was können wir denn eigentlich mit Software alles lösen an Problemen und damit auch Schule anders entwickeln".

Universitätsgemeinschaftsschule Dresden: Impressionen
Auszuprobieren, für wen und was digitale Werkzeuge hilfreich sind, ist das Motto bei der Anwendung. Zuletzt erhielt die Universitätsgemeinschaftsschule in Dresden den Phywe-Schulpreis "Digitaler Unterricht", als "Digitaler Newcomer" und erste Schule in Ostdeutschland. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Beziehungsarbeit: "Digitale Medien ersetzen keine Lehrer"

Der Dresdner Schulversuch ist eine sinnvolle Verbindung von analogem mit digitalem Lernen. Sie könnte Vorbild sein für die dringend nötige "Bildungswende". In Deutschland gibt es mehr als elf Millionen funktionale Analphabeten. 50.000 Kinder brechen jedes Jahr die Schule ab.

Die Politik setzt auf den fünf Milliarden Euro teuren Digitalpakt. Das war ein Anfang, aber nicht die Lösung des Problems. Die Ergebnisse sind gemischt, so unterschiedlich wie eben Kinder sind. In der Dresdner Laborschule wird versucht, die digitalen und analogen Angebote an jedes einzelne Kind anzupassen. Manche Schüler lernen hervorragend mit Tablets, andere brauchen den Kontakt zum Lehrer.

In jedem Fall aber gilt: Kein Laptop und keine App kann Lehrerinnen und Lehrer ersetzen, wie auch Pädagogik-Professor Klaus Zierer betont: "Wenn wir mit digitalen Medien Lehrpersonen ersetzen wollen, um den Lehrkräfte-Mangel ein Stück weit zu beheben, dann ist das ein Schuss, der nach hinten losgeht, weil wir die pädagogische Beziehungsarbeit, die so wesentlich ist für den Bildungserfolg, überhaupt nicht in das Digitale transferieren können."

An der Gemeinschaftsschule in Dresden entwickeln Wissenschaftler, Lehrer und Schüler gemeinsam eine Software, die dann auch an anderen Schulen eingesetzt werden könnte. Dazu müsse aber endlich Bewegung in die Bildungsbürokratie. So fordert Klaus Zierer mehr Mut, Veränderungen anzugehen:

Ein Mann mit schütterem Haar und in Sacko steht im Freien, im Hintergrund grüne Blätter
Klaus Zierer ist Professor für Bildungspädagogik an der Uni Augsburg Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Mein Eindruck ist, dass die Ministerien lieber verwalten als gestalten. Ruhe auf dem Gang ist das wichtigste Motto. Und das führt dazu, dass wir seit zehn Jahren im Bildungsprozess Stagnation haben.

Klaus Zierer, Professor für Bildungspädagogik an der Uni Augsburg

Der Dresdner Laborversuch könnte ein Modell auch für andere Schulen in Deutschland werden. Denn nichts braucht dieses Land so sehr wie praktische Auswege aus der tiefen Bildungskrise, in der wir stecken.

Quelle: artour (Petra Böhm), redaktionelle Bearbeitung: ks

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | artour | 28. September 2023 | 22:05 Uhr

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