Digitalisierung der Schulen Schul-IT im Landkreis Harz: Sozial gerechter und günstiger mit Open Source
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04. August 2024, 14:27 Uhr
Eine mutige Entscheidung: Alle Schüler-Computer im Landkreis Harz laufen mit Open-Source-Software. Ein Besuch an der Gemeinschaftsschule in Gernrode zeigt: Alle sind zufrieden, Lehrkräfte werden Open-Source-Fans und die Technologie kann die Schüler-Lehrer-Beziehung verändern.
Der Landkreis Harz stellt allen Schülern eine E-Mail-Adresse und einen Online-Speicher zur Verfügung. Die Software dafür ist Open Source. Und auf den Schüler-Laptops läuft auch ein spezielles Open-Source-Betriebssystem für Schulen.
Mit seiner IT ist der Landkreis Harz vergleichbar mit einem kleinen Konzern. Er hat 33 Schulen und betreut 11.000 Computer für Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte. 17.000 Nutzerinnen und Nutzer sind eingerichtet. Sie können von Zuhause aus auf die Systeme zugreifen – wie in jedem modernen Unternehmen.
So machen das zum Beispiel die 16 Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Klassenstufen der Gemeinschaftsschule Gernrode, die die Schülerzeitung "Der Schülerexpress" schreiben. Betreut werden sie von Schulsozialarbeiterin Aline Heppenheimer. Sie sagt: "Das Schöne ist, dass mehrere Schüler gleichzeitig an einem Dokument arbeiten können. Wenn Schüler einen Artikel schreiben, kann ein Schüler anfangen und ein andere kann später auf das Dokument zugreifen." Sie arbeiten mit dem Open-Source-Online-Werkzeug der Firma "Collabora".
Ein Aha-Erlebnis für Schülerinnen und Schüler: "Als sie nebeneinandersaßen, fanden sie es witzig, zu sehen, dass jeder in ein Dokument schreiben konnte", sagt Heppenheimer im Podcast "Digital leben" von MDR SACHSEN-ANHALT. Mittlerweile ist die dritte Ausgabe der Schülerzeitung "Der Schülerexpress" so gemacht. Man gewöhne sich super schnell an die digitalen Open-Source-Werkzeuge. "Es wird von Ausgabe zu Ausgabe immer besser", sagt Heppenheimer.
Das ist Open Source
Open Source basiert darauf, dass der Quellcode einer Software für jeden einsehbar ist. Lizenzen regeln, dass man die Software kostenfrei nutzen und weiterentwickeln kann. Open Source Software wird sowohl von Einzelpersonen, Communities aber auch Firmen entwickelt. Dabei gibt es sehr verschiedene Arten, wie sich ein solches Open-Source-Projekt organisiert.
Die Gemeinschaftsschule im Harz hat 14 Klassen und 320 Schülerinnen und Schüler. Auf sie gehen Kinder ab der fünften Klasse. Sie können bis zum Abi alle Abschlüsse machen. Schulleiter ist Roman Schöpp. Er hat 23 Jahre in Magdeburg gearbeitet, neun davon als Schulleiter. Von der technischen Ausstattung in Gernrode ist er begeistert: "Wir haben seit einem Jahr WLAN für die Schüler. Seitdem ist ganz viel passiert." Es gebe zwei Computerräume und zwei Klassensätze mit Laptops. Auf allen Geräte läuft das Open-Source-Betriebssystem "Puavo".
Außerdem haben alle Schüler ein Nutzerkonto. Damit können sie auch von Zuhause auf ihre E-Mails und Schuldokumente zugreifen. "Nach den Ferien starten wir in den fünften und sechsten Klassen damit, das richtig aktiv zu nutzen", sagt Schöpp.
Open Source: Lehrer und Schüler lernen voneinander
Schöpp ist überrascht und begeistert, dass Open Source Schule, Unterricht und Pädagogik verändert. "Viele Kolleginnen und Kollegen waren zuerst dagegen. Aber jetzt entsteht eine Eigendynamik und die Kollegen bilden sich gegenseitig weiter. Und so kommen jetzt immer mehr Kolleginnen, die sich das von anderen zeigen lassen." Allerdings: Auf seinem eigenen Rechner läuft Microsofts Windows.
Schließlich ist Schöpp Landesbediensteter, den das Bildungsministerium mit Hard- und Software ausstattet. Schöpp findet, es sei ein bisschen verrückt, dass es verschiedene Betriebssysteme an einer Schule gibt. Aber: "Wir stellen die Lehrergeräte im Einverständnis des Landkreises oft auf diese Open-Source-Lösung um."
Und dabei lernen die Lehrer genauso wie die Schüler. Das sei ihm wichtig. "Es gibt hier keinen Experten, der alles kann, sondern wir lernen voneinander." Das passe hervorragend zum Gedanken einer Gemeinschaftsschule, in der sowohl schwächere Schüler von stärkeren als auch stärkere von schwächeren Schülern lernen würden.
Offener Software-Code: weniger Abhängigkeit
Das Betriebssystem "Puavo" hat die gleichnamige Firma aus Finnland entwickelt. Es basiert auf dem Open-Source-Betriebssystem Linux, sagt Joorma Ehrnrooth von Puavo Deutschland im Podcast "Digital leben": "Der Quellcode ist auf github für jeden einsehbar."
Die Firma hat 22 Entwickler und ist in Finnland in 300 Kommunen vertreten, ihre Produkte laufen dort auf jedem vierten Schüler-Laptop. "Puavo", was "Paul" in einem finnischen Dialekt heißt, hat alle wichtigen Programme für Schüler und Lehrer an Bord: E-Mail, Videokonferenz, Browser, Bürosoftware und Online-Speicher. Das Geschäftsmodell der Finnen nennt sich Software als Dienstleistung.
Finnen im Anflug
Ehrnrooths Credo: "Technologie ist nie die Lösung, sondern nur ein Mittel für besseres Lehren und Lernen." Das hat auch die Verantwortlichen im Landkreis Harz überzeugt. Die Finnen und der Landkreis Harz setzen deshalb vor allem auf die Anwendungen. Die Hardware ist zweitrangig. Die Laptops sind zum Beispiel alte Business-Geräte, die "Puavo" mit dem Open-Source-Betriebssystem und einer neuen Garantie ausgestattet hat. "Die letzten Rechner, ausgediente Business-Geräte, wären sonst vor drei Wochen verschrottet worden", sagt Puavo-Mann Ehrnrooth.
In Deutschland ist "Puavo" derzeit nur im Landkreis Harz mit elftausend Geräten und 17.000 Nutzern und an zwölf Schulen mit mehreren tausend Laptops in Magdeburg im Einsatz. "Wir sind noch im Anflug auf Deutschland", sagt Ehrnrooth.
Open Source an Schulen ist sozial gerecht
Im Landkreis Harz leitet Carolin Becker das Amt für Schulverwaltung und Bildung. Sie ist für 33 Schulen an 43 Standorten verantwortlich. Sie hält "Puavo" für eine gute Entscheidung und auch, dass die Schul-IT ein eigener Bereich ist und nicht zur klassischen IT-Abteilung der Landkreisverwaltung gehört. "Puavo" an Schulen hält sie für ein Leuchtturmprojekt. Denn: "Es ist nicht wichtig, dass es das neueste Endgerät ist. Es muss einfach nur ein Endgerät sein."
Das sei auch sozial gerechter, weil sich so auch Familien mit geringerem Einkommen Geräte für ihre Kinder leisten könnten. "Es wäre super, wenn das in allen Schulen im Land laufen könnte. Wir haben von Finnland gelernt. Und wenn Sachsen-Anhalt von Landkreis Harz lernt, wäre es doch perfekt", sagt Becker.
Vorangetrieben hat das Open-Source-Projekt an den Schulen in den vergangenen Jahren vor allem Martina Müller als Verantwortliche für die Schul-IT im Landkreis Harz. "Da kam uns Corona zugute. Wir brauchten schnell eine Lösung und dann kam das System viel schneller als gedacht an alle Schulen", sagt Müller.
Jeder der 17.000 Nutzer der Schul-IT im Landkreis erhalte eine E-Mail-Adresse und einen persönlichen Onlinespeicher. "Die Cloud hat mindestens zehn Gigabyte Speicher", sagt Müller. Außerdem gebe es an jeder Schule als Backup immer einen Schulserver. Die Datensicherung erfolge in Finnland, in einer ehemaligen Militäranlage in einem Felsen.
Open Source: günstiger, weil ohne Lizenzkosten
Martina Müller sagt, die Schul-IT würde immer gern Geräte nehmen, die Unternehmen loswerden wollen. "Wir nehmen die sehr gern, löschen sie datenschutzkonform und bringen sie mit Open Source in die Schulen." Auch wenn die Rechner älter sind: Alle Programme sind immer topaktuell und auf dem neuesten Sicherheitsstandard. Das gelte auch für die Firewalls an den Schulen im Landkreis Harz. Dann auch sie sind ein Open-Source-Produkt, sagt Müller. "Wir zahlen am Ende die Hardware, das System auf diesen Firewalls ist kostenfrei", sagt Müller. Recherchen von MDR SACHSEN-ANHALT hatten gezeigt, dass die Landesregierung 18 Millionen Euro für Firewalls ausgegeben hatte, die kaum genutzt wurden.
Die Kosten von "Puavo" an den Schulen vergleicht Martina Müller mit einem Angebot für die Umstellung auf Windows 11. Denn weil Microsoft dafür im kommenden Jahr den Support einstellt, müssten zum Beispiel alle Rechner in den Sekretariaten der Schulen umgestellt werden. Dafür seien neue Geräte, Windows- und Office-Lizenzen nötig, sagt Müller. "Wenn wir an allen Standorten die Sekretariate mit neuer Hardware ertüchtigen und Softwarelizenzen kaufen, kostet das volle Paket dafür im nächsten Jahr mindestens 150.000 Euro. Das ist Wahnsinn."
Die Lösung von "Puavo" mit den elftausend Schülergeräten,17.000 Benutzerkonten, der Cloud-, Videokonferenz-, Datensicherung- und E-Mail-Lösungen kosten derzeit 700.000 Euro für alle Schulstandorte im Jahr.
Open Source an Schulen: Experten sind begeistert
"Im industriellen Umfeld ist das ein Spottpreis", sagt Frederik Kramer. Er ist Geschäftsführer von initOS, einer Firma, die in Magdeburg Open-Source-Lösungen für verschiedene Kunden entwickelt und betreut. Er ist ein Mitbewerber von "Puavo" und hält die Lösung im Landkreis Harz für ein durchdachtes Konzept. Kramer sagt: "Ich kenne keinen anderen Landkreis in Deutschland, der das so macht." Er hätte es sogar gern gesehen, wenn "Puavo" seinen Deutschlandsitz in Sachsen-Anhalt gegründet hätte. "Aber immerhin hatten der Landkreis Harz und die Stadt Magdeburg eine Verhandlungsmacht, dass die Firma eine Gesellschaft in Deutschland gegründet hat."
Was Open-Source-Fan Kramer noch fehlt: dass sich öffentliche Auftraggeber aktiv an der Weiterentwicklung von Open-Source-Software beteiligen. Das sei ein Gebot der Open-Source-Bewegung: "Wenn Open Source an Schulen eingesetzt wird, müsste die öffentliche Hand zu der Weiterentwicklung solcher Lösungen beitragen", sagt Kramer.
Open Source an Schulen begeistert auch Stefan Mey. Er ist Autor und hat das Buch "Der Kampf ums Internet" geschrieben, in dem er die Open-Source-Landschaft vorstellt. Mey sagt: "Normalerweise sind Schulen quasi in der Hand der großen IT-Konzerne: In der Verwaltung läuft in der Regel Windows, an Schulen gibt es teilweise iPads." Kinder und junge Leute bekämen meist preiswerte Lizenzen für Microsoft Office. "Sie lernen diese freien Open-Source-Projekte gar nicht kennen."
Deshalb sei es toll, wenn Open-Source in Schulen Einzug hält. "So lernen Kinder früh auch die nichtkommerzielle Seite kennen." Das habe etwas sehr Befreiendes und Emanzipatorisches, sagt Mey. "An einem Wikipedia-Artikel können auch 13-jährige Schüler und Schülerinnen mitschreiben und gleichberechtigt mit einem Professor diskutieren."
MDR (Marcel Roth)
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