Besuch vor Ort Jüdin aus New York sucht Spuren ihrer Vorfahren in Halberstadt

09. November 2023, 18:42 Uhr

In Halberstadt hat sich die Jüdin Julia Hirsch aus New York auf die Suche nach Spuren ihrer Vorfahren gemacht. Vor 100 Jahren hatten ihre Eltern dort geheiratet. Wir haben sie beim Besuch begleitet.

Porträtbild eines Mannes
Bildrechte: MDR/Sebastian Mantei

Für Julia Hirsch ist Halberstadt längst keine unbekannte Stadt mehr. Die New Yorkerin hat die Stadt ihrer Vorfahren schon vor knapp 20 Jahren wiederentdeckt.

Sie stammt aus der jüdischen Familie Hirsch, die im Vorharz eine deutsche Erfolgsgeschichte schrieb – vom Altmetallhändler zum Weltkonzern. Das ist alles lang her, doch noch immer gibt es stille Zeugen, die an die Zeiten des friedlichen Miteinanders von Juden und Christen erinnern.

Halberstädter Unternehmen der Hirschs muss aufgeben

Im Sommer 2023 begibt sich Julia Hirsch auf eine Zeitreise. Was sie an Halberstadt liebt? Sie wird hier nicht wegen ihres Akzents gefragt, sondern kann so sein, wie sie ist. Da sie in New York und London als Kind deutscher Flüchtlinge aufgewachsen ist, muss sie in den USA immer erklären, woher sie stamme. In Halberstadt sei das von Anfang an anders gewesen und das schätze sie.

Vor 100 Jahren heirateten ihre Eltern in Halberstadt und feierten ein rauschendes Fest. Doch schon 1927 schließt die Firma Hirsch in Halberstadt ihre Türen zugunsten der Standorte in Berlin und Eberswalde. Doch die Weltwirtschaftskrise zwingt das Familienunternehmen noch vor dem Aufstieg der Nazis zur Aufgabe. Viele Mitarbeiter verlassen Deutschland und auch Europa.

Flucht über Belgien und Portugal in die USA

Julia Hirschs Eltern selbst gehen kurz vor der Machtergreifung Hitlers zu Julias Großeltern nach Antwerpen, wo sie 1938 geboren wird. Als die Deutschen Belgien besetzen, fliehen die Hirschs erneut: über Frankreich und Spanien nach Portugal. Sie müssen immer wieder auf der Hut sein, nicht als Juden entdeckt zu werden, da Teile Frankreichs und Spaniens von Deutschland besetzt sind. 1941 gelingt ihnen die Flucht nach New York.

Hirsch wächst in der Upper West Side auf, wo damals nur mittellose irische und jüdische Flüchtlingsfamilien wohnen. Auf der Straße wird Jiddisch und Deutsch gesprochen, zu Hause Französisch oder Englisch. Julia Hirsch hat als Kind nie verstanden, warum ihre Eltern kein Deutsch mit ihr sprechen wollten. Die Sprache der Väter ist jetzt auch die Sprache der Täter. Das wird ihr erst später bewusst.

Von New York zurück nach Europa

Den Eltern fällt das neue Leben schwer, sie haben den Verlust der Heimat kaum verkraften können. Julia Hirsch erfährt wenig über die Zeiten in Halberstadt. Nur die Sehnsucht ihrer Mutter nach dem guten Leben in ihrem Haus am Halberstädter Domplatz spürt sie. Den Vater beobachtet sie heimlich beim Gebet, aber auch er erzählt nicht viel und verstirbt früh.

Ihre Mutter heiratet nach dem Tod des Vaters in eine jüdisch-orthodoxe Familie nach London ein. Dort besucht Julia Hirsch das College und entscheidet sich, zum Studium in die USA zurückzukehren. An der New York City University wird sie später Professorin. Als Fulbright-Dozentin kehrt sie Anfang der 2000er-Jahre nach Europa zurück – nach Tallinn. Von dort führt sie der Weg in ihre Vaterstadt Halberstadt.

Durch den glücklichen Umstand, dass sich seit 1995 die Moses-Mendelssohn-Akademie mit der jüdischen Geschichte der Stadt intensiv auseinandersetzt, findet Julia Hirsch Kontakt zur Direktorin der Akademie, Jutta Dick. Beide befreunden sich schnell und Julia Hirsch erfährt zum ersten Mal in ihrem Leben, was ihre Familie und Halberstadt verbindet. Es ist eine Begegnung mit den unbekannten Vorfahren, die hier über 120 Jahre lebten, wirkten und ein wichtiger Teil der Halberstädter Gesellschaft waren.

Großvater war in Halberstadt angesehen

So soll ihr Großvater als Stadtrat im Ersten Weltkrieg die Kirchenglocken vor dem Einschmelzen bewahrt haben. Das wird ihm hoch angerechnet und als er 1920 stirbt, gibt es einen langen Trauermarsch der Arbeiter aus Halberstadt und Ilsenburg. Selbst die Straßenbahnen bleiben zum letzten Geleit stehen. Er ist der letzte in Halberstadt begrabene Hirsch.

Julia Hirsch genießt es, in der Stadt ihrer Vorfahren zu wandeln. Besonders schätzt sie die friedliche Stimmung auf den jüdischen Friedhöfen, wo viele ihrer Vorfahren liegen. Sie ist fasziniert, dass diese Orte die schreckliche Geschichte des 20. Jahrhunderts überlebt haben. Aber wird das immer so bleiben?

Mit Sorgen schaut sie in die Zukunft. Der Antisemitismus wächst wieder, nicht erst seit dem Überfall auf Juden an der Grenze zum Gazastreifen. Die Welle antisemitischer Proteste, trotz des Terrors der Hamas, ist für sie unfassbar. In Europa und den USA erinnert sie vieles an das Ende der Weimarer Republik. Sie hofft, dass sich diese Ereignisse nicht wiederholen mögen und die Menschlichkeit am Ende gewinnen wird.

Hirsch unterstützt afghanische Familie in USA

Persönlich setzt sie dafür ein Zeichen und unterstützt in New York eine afghanische Flüchtlingsfamilie. Sie versucht, ihnen mit etwas Humor Englisch beizubringen, denn Sprache ist wichtig beim Ankommen in einem fremden Land. Das kann Hirsch aus ihrer eigenen Fluchterfahrung bestätigen.

Im Juni 2023 erhält sie die deutsche Staatsbürgerschaft, die man ihren Eltern nach ihrer Flucht aberkannte. Für Julia Hirsch eine wichtige Geste des Landes, das für Generationen von Hirschs einmal ein sicheres und weltoffenes Land war.

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MDR (Sebastian Mantei, Mario Köhne)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 08. November 2023 | 19:00 Uhr

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