Machbarkeitsstudie Fast eine Milliarde Euro für 1.100 km Wasserstoffleitungen nötig
Hauptinhalt
26. Juli 2024, 15:26 Uhr
Die Großbäckerei braucht Wasserstoff, die Gießerei und die Blechhütte ebenso wie Papierhersteller und Autobauer: Wie viel konkret, da herrscht noch viel Rätselraten. Die "Metropolregion Mitteldeutschland" hat jetzt gemeinsam mit Partnern sowohl den Bedarf genauer untersucht als auch das Potenzial, hier Wasserstoff zu erzeugen. Derweil werden die Pläne für das Wasserstoff-Kernnetz, also die "Autobahn" für Deutschland immer konkreter.
Inhalt des Artikels:
In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen muss voraussichtlich rund eine Milliarde Euro in den Ausbau eines Wasserstoffleitungsnetzes investiert werden, um den Bedarf von Wirtschaft und Gesellschaft zu decken. Das geht aus einer privatwirtschaftlich bezahlten Machbarkeitsstudie "Wasserstoffnetz Mitteldeutschland 2.0" hervor, die am Mittwoch in Leipzig vorgestellt wurde. Demnach werden sowohl Nachfrage als auch Produktion von grünem Wasserstoff in der Region in den kommenden Jahren rasant steigen. Für die Studie wurden Daten aus den Sektoren Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen, Haushalte, Energiewirtschaft und Mobilität aus mehr als 30 Landkreisen erhoben.Es ist bereits die zweite Erhebung ihrer Art. Für die aktuelle haben sich den Angaben zufolge 54 Partner und Unterstützer zusammengetan.
Die Region muss sich darum kümmern, die Bundes- und Kreisstraßen selbst zu planen.
"Wasserstoff wird bei der Umsetzung der Energiewende eine große Rolle spielen", sagte Jörn-Heinrich Tobaben, Geschäftsführer der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland, dem MDR zur Bedeutung der Studie. Zwar plane der Bund mit den Fernnetzgasbetreibern das Wasserstoffkernnetz, also die Wasserstoffautobahnen. Aber: "Die Region muss sich darum kümmern, die Bundes- und Kreisstraßen selbst zu planen. Und genau das haben wir selbst getan. Wir schließen an die Wasserstoffautobahnen des Bundes an und bringen den Wasserstoff zu den Kunden bzw. führen ihn ab zum Produzenten." Jetzt gelte es, "gemeinsam für das Thema in Berlin trommeln, damit wir bei der Umsetzung der Wasserstoff-Strategie ganz vorne mit dabei sind und da haben wir gute Chancen".
Fast 40 TWh allein in Mitteldeutschland bei 2030 nötig
Demnach werden in der Region im Jahr 2030 bis zu 39 Terawattstunden (TWh) an Wasserstoff benötigt. Im nachfolgenden Zehn-Jahres-Raum steigt die Menge auf bis zu 88 TWh. Zum Vergleich: In der aktualisierten Nationalen Wasserstoffstrategie wird ein Bedarf von 88 bis 130 TWh bis 2030 und ein Bedarf von 290 bis 440 TWh für 2045 für ganz Deutschland angesetzt.
Was ist größer, Tera oder Giga?
1.000.000.000.000: Tera (Billion)
1.000.000.000: Giga (Milliarde)
1.000.000: Mega (Million)
1.000: Kilo (Tausend)
100: Hekto (Hundert)
10: Deka (Zehn)
Wasserstoff: grau, grün, blau oder türkis
Grüner Wasserstoff wird durch Strom aus erneuerbaren Energien hergestellt. Dabei wird Wasser mit Hilfe von Strom in Wasser- und Sauerstoff aufgespalten. Bei diesem Verfahren entstehen keinerlei Klima-Emissionen in Form von CO2. Im Idealfall fallen keine Treibhausgas-Emissionen an.
Grauer Wasserstoff wird aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Dabei wird entweder Strom aus Kohlekraft verwendet oder direkt Erdgas unter Hitze in Wasserstoff und CO2 aufgespalten. Wird so eine Tonne Wasserstoff produziert, entstehen zudem zehn Tonnen CO2.
Blauer Wasserstoff ist im Prinzip grauer, denn er wird mit Hilfe von fossilen Brennstoffen erzeugt. Der Unterschied: Das bei der Wasserstoff-Erzeugung frei werdende Kohlendioxid wird abgeschieden und gespeichert (CCS, Carbon Capture and Storage). Es wird nicht in die Atmosphäre entlassen.
Türkiser Wasserstoff wird mit der Spaltung von Methan in Wasser- und Kohlenstoff hergestellt. Der Kohlenstoff ist hier fest und nicht gasförmig wie beim CO2. Die Spaltung wird thermisch erzeugt, das Verfahren benötigt einen Hochtemperatur-Reaktor. Damit es klimaneutral ist, muss die Energie dafür auch aus erneuerbarem Strom kommen.
Zwar erscheine der ermittelte Bedarf überproportional, sagte denn auch ein Vertreter der an der Studie beteiligten DBI-Gruppe dem MDR auf Nachfrage. Man dürfe aber auch nicht vergessen, dass die Region ein starker Wirtschaftsstandort sei, "und dass wir natürlicherweise aufgrund der Industrie einen flächenmäßig höheren Bedarf haben als andere Regionen Deutschlands". Die Nationale Wasserstoffstrategie bleibe hinter dem Bedarf der Industrie zurück, was auch daran liege, dass für die Machbarkeitsstudie die Partner direkt nach künftigen Bedarfen gefragt worden seien.
Wasserstoffbedarf könnte zu einem Drittel vor Ort gedeckt werden
Die Region Mitteldeutschland wird der Studie zufolge nicht nur nehmen, sie wird auch Wasserstoff produzieren. Dafür wurden die Potenziale der Region in drei Szenarien untersucht: konservativ, moderat und ambitioniert. Demnach könnten allein im moderaten Szenario 2040 rund 57 Gigawatt (GW) an Strom aus Wind (34 GW) und Sonne (23 GW) erzeugt werden. Das Elektrolysepotenzial liegt demnach 2040 zwischen 7,1 bis 11 GW.
Über diesen Ausbau der Wasserstoffproduktion kann der Studie zufolge rund ein Drittel des ermittelten Bedarfs durch Wasserstoff aus der Region heraus gedeckt werden, wenn Windkraft- und Photovoltaikanlagen ausgebaut würden. Die Region könne so zu einem wichtigen Cluster der deutschen Wasserstoffwirtschaft werden.
Thüringen mit größtem Leitungsumstellungspotenzial
Um an die bestehenden regionalen und überregionalen Wasserstoffprojekte angeschlossen zu werden, braucht es der Machbarkeitsstudie zufolge für die Wasserstoff-"Bundes- und Kreisstraßen" 42 Leitungsabschnitte über insgesamt 1.099 km. 51 Prozent davon können den Angaben zufolge umgestellt werden, rund 290 km in Thüringen, in Sachsen sowie Sachsen-Anhalt jeweils rund 275 km. Das Verfahren könnte die Kosten des Netzausbaus erheblich reduzieren – der Studie zufolge um 720 Millionen Euro.
Als unerlässliche Voraussetzung wird zudem die Errichtung eines Wasserstoff-Kernnetzes bezeichnet – eben der "Autobahn" – und natürlich auch genug Wasserstoff, um die Differenz zwischen Eigenproduktion und Bedarf zu schließen. Zuletzt waren sowohl die Elektrolyseleistung als auch die Wasserstoffproduktion in Deutschland gesunken.
Bund beschließt Wasserstoffimportstrategie
Derzeit ist viel Bewegung bei der Initiierung des Wasserstoffhochlaufs. So beschloss die Bundesregierung ebenfalls am Mittwoch ihre Wasserstoff-Importstrategie. Im Konzept heißt es, rund 50 bis 70 Prozent des benötigten Wasserstoffes müssten im Jahr 2030 eingeführt werden. Die Regierung plant Pipelines für den Import aus europäischen und anliegenden Regionen. Sie geht von einem Bedarf von 95 bis 130 TWh Energie aus Wasserstoff im Jahr 2030 aus. 2045 steigt der Bedarf den Annahmen zufolge auf 360 bis 500 TWh und weiteren 200 aus Derivaten wie Ammoniak.
Sowohl der Deutsche Wasserstoffverband (DWV) als auch der Leipziger Fernnetzbetreiber VNG bewerten die nun vorgelegte Importstrategie als positiv: VNG begrüßt insbesondere, dass diese ausdrücklich auch den Import von kohlenstoffarmem Wasserstoff berücksichtige. Der DVW lobt einen zunehmenden Fokus auf Importe aus der EU. Denn aus Sicht des DWV ist der pipelinegebundene Transport aus Europa die effizienteste Lösung. Dennoch gehen dem Verband die Pläne nicht weit genug. Unter anderem fehlen dem Verband konkreten Aussagen darüber, wie die Importe bis 2030 gedeckt werden sollen.
Fernnetzbetreiber beantragen knapp 9.700 Kilometer Wasserstoff-Autobahn
Erst am Dienstag hatten die Fernleitungsnetzbetreiber weitere Pläne zum Ausbau des Wasserstoffkernnetzes. Nach Angaben der Bundesnetzagentur geht es um Leitungen mit einer Gesamtlänge von 9.666 Kilometern und eine Investitionssumme von 19,7 Milliarden Euro. Wirtschaftsminister Robert Habeck sprach von einem entscheidenden Schritt zum Aufbau der Wasserstoff-Infrastruktur, der Planungssicherheit für die Erzeuger von Wasserstoff, die Betreiber von Kraftwerken und Speichern sowie die Abnehmer von Wasserstoff schaffe.
Aktuelle Wasserstoffproduktion in Deutschland
Im Jahr 2023 wurden etwa 3.036 Millionen Kubikmeter Wasserstoff in Deutschland hergestellt. Das entspricht nach Angaben des Deutschen Wasserstoffverbandes 11 TWh. 2019 waren es demnach ca. 16 TWh. Auch die in Deutschland installierte Produktionsleistung für grünen Wasserstoff ist demnach 2023 niedriger ausgefallen (0,06 GW) als 2022 (0,07 GW). Mit 0,06 GW Elektrolyseleistung könnten theoretisch (bei Annahme von 4.000 Volllaststunden und einem Wirkungsgrad von 0,7) 168 GWh bzw. 0,168 TWh grüner Wasserstoff produziert werden.
Deutscher Wasserstoffverband
VNG und Ontras kündigen Millioneninvestition an
Die VNG und deren Tochter, der Fernnetzbetreiber Ontras mit Sitz in Leipzig kündigten an, einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag in den Kernnetz-Ausbau zu investieren. Ontras ist demnach für den Ausbau von rund 600 Kilometern zuständig. 80 Prozent davon Erdgasleitungen, die auf Wasserstoff umgestellt werden. Damit soll eine Verbindung des Leipziger Raums mit dem mitteldeutschen Chemiedreieck, den Industriezentren in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, dem Berliner Raum sowie dem Industriebogen Meißen geschaffen werden. Außerdem soll in der Region Leipzig mit Verlängerung in den Industriebogen Meißen ein Wasserstoffring entstehen, eine Verbindung von Bad Lauchstädt nach Berlin-Süd sowie eine Verbindung nach Salzgitter (Niedersachsen). Die Transportleitung zwischen dem Leipziger Raum, Bad Lauchstädt und Salzgitter ist ein IPCEI-Projekt.
(Quellen: MDR Radio Sachsen, Pressemitteilungen und Kurzstudie Metropolregion Mitteldeutschland, DBI, Infracon, Hypos, außerdem VNG, Ontras sowie Reuters, dpa)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | Sachsenspiegel | 24. Juli 2024 | 19:00 Uhr