Verdi und EVG Trotz Mitgliederschwund: Gewerkschaften bleiben in neuen Arbeitswelten wichtig

01. Mai 2023, 05:00 Uhr

Die Gewerkschaften Verdi und EVG machen zurzeit viel von sich reden. Im Öffentlichen Dienst ist eine Lösung gefunden, bei der EVG droht die Verhandlungsführerin dagegen damit, dass sie die Bahn "wochenlang lahmlegen könnte". Mit solchen Drohungen und natürlich mit Streiks präsentieren sich die Gewerkschaften in diesen Situationen als mächtige Verhandlungspartner – aber ist das wirklich ein Zeichen für Stärke? Wie steht es um die Gewerkschaft als Organisation? Eine Analyse von Sophia Spyropoulos.

Mehr als 70.000 Menschen hat der Tarifstreit im Öffentlichen Dienst dieses Jahr schon dazu gebracht, der Gewerkschaft Verdi beizutreten. Ein enormer Zuwachs für die kurze Zeit. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr gab es insgesamt nur rund 110.000 Neuzugänge.

Das ist nicht nur ein zufälliger Effekt, sondern Strategie, erklärt Hagen Lesch, Leiter des Bereichs Arbeitswelt & Tarifpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft idw. "Man nutzt Tarifrunden, um durch massive Warnstreiks zu mobilisieren, und genau eben auch mitzunehmen die Rahmenbedingungen, dass wir halt eine hohe Inflation haben, die Erwartungshaltung bei den Beschäftigten sehr sehr groß ist, und man dadurch natürlich auch leicht mobilisieren kann", sagt Lesch.

Gewerkschaften verlieren Mitglieder

Das nennt man dann "Organisieren am Konflikt". Verdi macht das allerdings schon seit 2008, und trotzdem gehen die Mitgliederzahlen insgesamt zurück. Und nicht nur bei Verdi. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat im Lauf der vergangenen zehn Jahre rund eine halbe Million Mitglieder verloren. Ein Grund: Die Gewerkschaften überaltern, sagt Lesch. Jüngere Menschen treten nicht mehr so bereitwillig ein – und mit denen, die in Rente gehen, gehen dann auch Mitglieder.

Klaus Dörre, Professor für Arbeitssoziologie an der Uni Jena, sagt deshalb: Verdi und Co. müssen zusehen, dass sie die neuen Mitglieder, die sich mit hohen Erwartungen während der Tarifverhandlungen anschließen, auch halten. Es bleibe ihnen gar keine andere Wahl, als in einem Land, das eigentlich sehr wirtschaftsfriedlich ausgerichtet sei, meint Dörre. "Streiks sind ja bei uns im europäischen Vergleich relativ selten. Sie müssen sich tatsächlich wieder stärker als eine Art sozialer Bewegung verstehen und dürfen die Arbeitskämpfe nicht scheuen".

Glöckner: "Gewerkschaften dürfen nicht zu nachgiebig sein"

So sieht das auch Angelika Glöckner. Sie sitzt für die SPD im Bundestag, ist Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales und seit über 30 Jahren auch bei verdi. "Ich glaube es ist auch ganz wichtig, dass die Gewerkschaften gute Tarifabschlüsse erringen, dass sie nicht zu nachgiebig sind gegenüber Arbeitgebern, wie wir es jetzt auch beispielsweise bei der EVG positiv erfahren. Die bleiben hart".

Hagen Lesch vom idw merkt allerdings an: Den Tarifvertrag gibt es auch für Nicht-Mitglieder. Die Gewerkschaften müssten es also schaffen, potentielle Mitglieder zu überzeugen, dass der nur gemeinsam errungen werden kann – aber: "Das ist schwierig in einer Phase wo wir einen breiten Arbeits- und Fachkräftemangel haben und die einzelnen Personen natürlich sehr viel eigene Verhandlungsmacht haben", erklärt Lesch. "Das heißt, sie können auch so zu ihrem Chef oder ihrer Chefin hingehen und sagen, ich hätte gerne mehr Geld, ansonsten hab ich ein Alternativangebot."

Gewerkschaften werden wichtig bleiben

Trotzdem ist Klaus Dörre von der Uni Jena überzeugt, dass es für die Gewerkschaften auch in Zukunft noch genug zu tun geben wird. Auch wenn der Ukraine-Krieg eines Tages vorbei ist und die schwierige Wirtschaftslage nicht mehr so viele Mitglieder anspült. Stichwort Digitalisierung: Da müssten viele Rechte – beispielsweise das auf Home-Office – neu definiert werden. Wie das ohne Gewerkschaften gehen soll, das habe ihm noch keiner sagen können. Der Problemdruck in der Arbeitswelt spreche eigentlich für die Gewerkschaften, so Dörre.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 01. Mai 2023 | 05:00 Uhr

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