48 Milliarden für Ostdeutschland So viele EU-Fördergelder fließen nach Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
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06. Dezember 2023, 05:00 Uhr
Die Europäische Union hat in Mitteldeutschland aktuell nicht den besten Ruf und Brüssel ist auch ein ganzes Stück entfernt. Viele fragen sich, was die Staatengemeinschaft für deutsche Regionen und Projekte wirklich tut. Eine Übersicht über die Zahlen der seit der Wiedervereinigung geflossenen EU-Fördergelder an Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zeigt: Die EU unterstützt mitteldeutsche Projekte in großem Maß.
Vor einigen Wochen hatte das Meinungsbarometer MDRfragt ein Stimmungsbild zur Europäischen Union eingeholt. Die Ergebnisse der Umfrage, an der knapp 22.000 Menschen aus Mitteldeutschland teilgenommen haben, gehen zum großen Teil in eine Richtung: Die EU tue nichts für die Bürger in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Demnach finden 77 Prozent der Befragten, die EU kümmere sich zu wenig um die Probleme hier vor Ort.
EU-Kritik gibt es in Deutschland und auch anderen europäischen Ländern nicht erst seit Kurzem. Die AfD nutzt das Thema immer wieder für ihren Wahlkampf, einige Parteianhänger fordern Deutschlands Austritt aus der EU – und erfahren dafür von ihren Wählern Zustimmung.
Zahlen der vergangenen 30 Jahre zeigen jedoch, aus der EU fließt viel Geld nach Mitteldeutschland zurück. Die Staatengemeinschaft verfügt über sogenannte Struktur- und Investitionsfonds (ESI). Das sind Fördertöpfe mit verschiedenen Ausrichtungen, über die die EU finanzielle Mittel an Länder und Regionen verteilt, die in erster Linie vor allem strukturschwach sind. Das kann die verschiedensten Lebensbereiche betreffen, zum Beispiel die wirtschaftliche Standortentwicklung aber auch den Kampf gegen Arbeitslosigkeit und die Arbeit mit Jugendlichen.
Die drei großen europäischen Fonds
Die drei großen Fonds sind der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), der Europäische Sozialfonds (ESF) und der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER). Alle werden, damit überhaupt eine Förderung zustande kommt, mit nationalen Kofinanzierungsmitteln ergänzt.
Diese werden in der Regel vom jeweiligen Bundesland beigesteuert. Hinzu kommen sogenannte Interreg-Projekte, über die zum Beispiel Sachsen seit vielen Jahren landesgrenzübergreifend mit Polen und Tschechien zusammenarbeitet.
Der ESF befindet sich heute als ESF Plus bereits in seiner neunten Förderperiode, die anderen beiden Fonds wurden im Laufe der Jahre noch einmal umstrukturiert und teilweise auch umbenannt.
Ostdeutschland wurde höchste Förderpriorität
Ab 1989 formulierte die Europäische Gemeinschaft für den Europäischen Sozialfonds (ESF) sechs Kategorien, nach denen Fördermittel verteilt wurden. Die neuen Bundesländer wurden 1994 in Kategorie eins eingeordnet, welche gleichzeitig die höchste Förderpriorität hatte: rückständige Regionen. Bereits in der vorherigen Förderperiode erhielt Ostdeutschland zwischen 1989-1993 drei Milliarden ECU (damalige europäische Währungseinheit) aus allen drei Fonds. Diese Gelder mussten zusätzlich bereitgestellt werden, da die Finanzmittel für diese Periode bereits weitgehend verplant waren.
Seit 1994 schwankten die Zahlungen oder nahmen gar ab. Ein Sprecher des Thüringer Landwirtschaftsministeriums sieht darin ein gutes Zeichen. Er sagte MDR AKTUELL, weniger Fördergelder bedeuteten weniger Förderbedarf und mehr eigene Stabilität im jeweiligen Land. Das sei ein Zeichen dafür, dass die finanzielle Hilfe der EU nicht nur ankomme, sondern auch langfristig Stabilität bringe und dem Land die Möglichkeit gebe, Entwicklungen beizubehalten.
Wer entscheidet darüber, wo die Gelder ankommen?
Nun stellt sich noch die Frage, wer entscheidet, wo dieses Geld landet. Aus den Umfrageergebnissen von MDRfragt geht auch hervor, dass genau dieser Punkt für viele nicht nachvollziehbar scheint.
Die Linke im Europaparlament hat für ein besseres Verständnis für Europapolitik und vor allem dafür, was die EU für deutsche Kommunen tut, eine Infobroschüre entworfen. Daraus geht hervor, dass die Verteilung der Finanzhilfen im Zuständigkeitsbereich der Länder liegt. Sie sind dafür verantwortlich, Programme auszuarbeiten. Zwei Landesministerien teilen sich dabei die Arbeit, eines wird zur Verwaltungsbehörde, das andere zur Prüfbehörde.
Arbeit landet in den Kommunen
Wer eine EU-Förderung möchte, kann diese dann dort beantragen. Auf den Internetseiten der jeweils zuständigen Ministerien finden sich mehr Informationen zu den bereits geförderten Projekten. So zum Beispiel hat Sachsen-Anhalt erfolgreiche Projekte, die durch den ELER gefördert wurden, aufgelistet: von EU-Mitteln für neue Seminarräume des Europa-Jugendbauernhofs Deetz e. V. zwischen Dessau und Magdeburg bis zur vollautomaischen Bewässerungsanlage für eine autarke Agrarwirtschaft in Arensdorf.
Wie aus dem Infomaterial der Linken weiter hervorgeht, landet im Fördermittel-Prozess sehr viel Arbeit bei den Kommunen. Das liege an der föderalen Struktur Deutschlands. Da der Personalmangel auch die Verwaltung betrifft, fehle häufig die notwendige Kapazität, Fördermittel und -möglichkeiten komplett auszuschöpfen. Weitere Wege der Förderung können auch direkt über die EU-Kommission, Agenturen oder auch Banken in Form von Krediten sein.
EU-Diplomatie statt regionale EU-Projekte
Die Zahlen der aktuellen Förderperiode zeigen also, dass der Osten nach wie vor finanziell unterstützt wird. Laut Bundeswirtschaftsministerium führt die Statistik bei den Fördermitteln für regionale Entwicklung bundesweit an, gefolgt von Sachsen-Anhalt. Vor Thüringen liegt deutschlandweit nur Nordrhein-Westfalen.
Doch woher kommen dann dieses Gefühl und die zunehmende Kritik an der EU? Astrid Lorenz ist Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Universität Leipzig, unter anderem für Europapolitik.
Astrid Lorenz sagte MDR AKTUELL, für viele Menschen seien die Wirkungsweise der EU und die Effekte der EU-Politik auf ihr Leben nicht greifbar. Das liege vor allem daran, dass sich die Medienberichterstattung meist auf die Gipfeldiplomatie und nicht auf die Verbindung der EU mit den Regionen konzentriere. Dadurch ist es Lorenz zufolge schwierig, die Informationen überhaupt "an die Leute zu bekommen".
Die Ablehnung der EU sei aber kein rein ostdeutsches Problem, sagt Lorenz. Viel eher wüssten die meisten Menschen gar nicht, wie sie sich zur EU-Politik positionieren sollten. Deshalb solle man Europa in ländlichen Regionen besser vermitteln.
Demnach müssen die Menschen vor Ort aktiver miteinbezogen werden. Man dürfe nicht das Gefühl vermitteln, die EU wolle kleine Regionen "retten". Ein Miteinander auf Augenhöhe müsse stattfinden, so die Europaexpertin.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 30. Mai 2024 | 19:30 Uhr