Screenshot einer Tiktokseite von Marc Raschke
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Faktencheck Rechte Gewalt fordert mehr Todesopfer als linke

26. August 2024, 08:30 Uhr

Bei Tiktok wird über rechte und linke Gewalt gestritten und diskutiert. Ein Video des Journalisten Marc Raschke wird oft geklickt. Er sagt: "Die Gefahr kommt von rechts" und das Video wurde mehr als 100.000 Mal angesehen. Stimmen die Todesopfer-Zahlen, die Raschke da nennt?

Nastassja von der Weiden
Bildrechte: MDR/Markus Geuther

Marc Raschke zeigt in seinem Tiktok-Video eine Grafik des Magazins "Katapult" aus Greifswald. In zwei Deutschlandkarten sind die Orte eingezeichnet, an denen es von 1990 bis 2020 bei rechts- sowie linksextremistisch motivierten Gewaltdelikten Todesopfer gegeben hat. Versehen sind sie mit den Namen der Opfer. Auf der "linken" Seite sind es vier Namen, auf der "rechten" 198. Für Raschke ist damit klar, dass "von rechts mehr Gefahr ausgeht als von links". Die Grafik stammt aus dem Jahr 2022.

In den Quellen der Grafik stehen neben dem Bundeskriminalamt (BKA) noch die "Amadeu Antonio Stiftung", "Billstein", "Der Tagesspiegel", "Die Zeit", NDR, BR und "eigene Recherche". Die offiziellen, vom BKA veröffentlichten Zahlen sind niedriger. Das BKA gibt auf MDR-AKTUELL-Anfrage 115 Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt von 1990 bis 2023 an.

Amadeu Antonio Stiftung zählt mindestens 219 Todesopfer

Die Amadeu Antonio Stiftung, die seit Jahren um die Anerkennung von Opfern rechter Gewalt kämpft, geht von mindestens 219 Todesopfern und einer sehr hohen Dunkelziffer aus.

Die Stiftung schreibt dazu: "Der Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang hat im vergangenen Jahr bei einer Anhörung im Parlamentarischen Kontrollgremium offen die staatlichen Defizite bei der Erfassung rechtsextremer Straftaten eingeräumt."

Haldenwang sagte damals: "Von daher halte ich sehr viel davon, die Statistik der Amadeu Antonio Stiftung auch heranzuziehen, die sich ausschließlich nach der Motivlage der Täterschaft bei entsprechenden Morden richtet. Wenn ich von rechtsextremistisch geprägten Morden spreche, dann ist es für mich diese Statistik und nicht unbedingt die gerichtliche oder Polizeistatistik."

Statistiken zu Todesopfern erst seit 2001 vergleichbar

"Die Zahlen des BKA basieren auf polizeilichen Einstufungen. Und da hängt es natürlich schon von einer Sensibilität von Polizistinnen und Polizisten vor Ort ab, ob sie die richtigen Symbole erkennen, die richtige Sprache erkennen", sagt Dirk Baier im Gespräch mit MDR AKTUELL. Er ist Professor für Kriminologie an der Zürcher Hochschule und kommt gebürtig aus Sachsen.

Offizielle Zahlen zu den Todesopfern rechtsextremer Gewalt gibt es seit 1990, ein gemeinsames System von Bund und Ländern wurde 2001 eingeführt. Erst ab diesem Zeitpunkt könne man die Zahlen der Todesopfer von linksextremer und rechtsextremer Gewalt wirklich vergleichen, sagt Baier.

Anzahl Todesopfer politisch motivierter Kriminalität (PMK)
  Links Rechts
Todesopfer (1990-2000) * 64*
Todesopfer (2001-2023) 3 51
Gesamt * 115

*Die Gesamtzahl der im BKA erfassten Todesopfer in den Phänomenbereichen PMK -links- und PMK -rechts- können der Tabelle entnommen werden. Aus historischer Sicht ist für den Bereich PMK -rechts- ein Rückgriff auf Zahlen bis 1990 möglich. Die Zahlen sind durch Nach- und Änderungsmeldungen dynamisch.

Seitdem, ergänzt Baier, gebe es eine einheitliche Erfassung von solchen Straftaten: "Im Verfassungsschutzbericht heißt es, dass Taten, die in der Gesamtwürdigung der Tatumstände oder der Einstellung der Tatpersonen als rechtsextrem oder linksextrem eingestuft werden können, eben dieser entsprechenden Statistik zugeschlagen werden".

Politisch motivierte Tötungsdelikte in Mitteldeutschland

Das Landeskriminalamt in Sachsen-Anhalt teilt auf MDR-AKTUELL-Anfrage mit: "Seit dem Jahr 1990 wurden in Sachsen-Anhalt insgesamt acht vollendete, politisch motivierte Tötungsdelikte registriert. Bei diesen Straftaten wurden insgesamt neun Personen getötet." Allen genannten Straftaten lag eine rechtsgerichtete Tatmotivation zugrunde.

In Sachsen sind es seit 1990 zwölf Todesopfer rechter Gewalt, die das zuständige LKA in einer Tabelle von politisch motivierten Taten auflistet. Die Tötungsdelikte wurden in Dresden, Leipzig, Hoyerswerda und weiteren Orten verübt.

In Thüringen sei ab 2001 kein Fall bekannt geworden, der den Prüfkritierien entspräche, schreibt eine Sprecherin des LKA Thüringen. Die Amadeu Antonio Stiftung verzeichnet hingegen zehn Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Thüringen seit 1990. Ein Beispiel für ein staatlich nicht anerkanntes Todesopfer durch rechte Gewalt sei der Mordfall von Oleg Valger aus Gera, schreibt die Stiftung.

Todesopfer Oleg Valger aus Gera Die Amadeu Antonio Stiftung listet einen Fall aus Thüringen auf, der von offizieller Seite aus bis heute nicht offiziell als rechtsextreme Gewalttat anerkannt wurde.

Der 27-jährige russische Spätaussiedler Oleg Valger wird am 20. Januar 2004 in Gera nach einem gemeinsamen Trinkgelage mit vier rechten Jugendlichen getötet. Nach einem Streit haben die 14- bis 19-Jährigen den ihnen aus der Nachbarschaft bekannten Spätaussiedler in ein Wäldchen gelockt und verletzten ihn tödlich mit Tritten, Messerstichen und Hammerschlägen.

Nach dem Tod Valgers sagt einer der Täter: "Wenigstens eine Russensau weniger", berichtet "Die Zeit". Das Landgericht Gera spricht von einer menschenverachtenden Gesinnung, die in der Tat zum Ausdruck komme, erkennt aber keinen fremdenfeindlichen Hintergrund.

Diskrepanz der Zahlen: Welche sind nun "richtig"?

"Ich als Kriminologe würde mich erstmal auf die offiziellen Statistiken verlassen, wohlwissend, dass sie nur das sogenannte Hellfeld darstellen, also dass da etwas fehlt", sagt Dirk Baier. Ob es doppelt so viele Todesopfer seien, wie die Amadeu Antonio Stiftung angibt, da ist Baier skeptisch.

Er gehe aber davon aus, dass es mehr Todesopfer durch rechte Gewalt gebe, als das BKA erfasst hat. Dennoch: "Die Zahlen des BKA sind hoch genug, um zu sagen: Wir haben ein Problem mit rechtsextremer Gewalt. Aber auch die linksextreme Gewalt darf man nicht unterschätzen."

Ein Erstarken der Rechtsextremisten sei deutschlandweit, aber besonders in Ostdeutschland, zu sehen, sagt der Kriminologe.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 19. April 2024 | 19:00 Uhr

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