Änderung zur Europawahl Wählen mit 16 Jahren: Trend geht zu niedrigerem Wahlalter
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06. April 2024, 05:00 Uhr
Bei der Europawahl dürfen in Deutschland erstmals auch Jugendliche ab 16 Jahren wählen. Wissenschaftliche Befunde sprechen sogar für die generelle Absenkung des Wahlalters – etwa auch bei Bundestagswahlen. Dafür gibt es hierzulande aber keine politische Mehrheit.
- Durch die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre bei der Europawahl gibt es voraussichtlich 1,4 Millionen zusätzliche junge Wahlberechtigte.
- Gegner argumentieren, Jugendliche hätten nicht das Wissen und die Reife, um Wahlentscheidungen zu treffen.
- Wissenschaftliche Untersuchungen widerlegen diese Behauptung.
Dass 16- und 17-Jährige bei der Europawahl abstimmen dürfen, ist vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung. Jugendliche bekamen in den vergangenen Jahren in immer mehr Bundesländern das aktive Wahlrecht zugestanden, sowohl auf Landesebene als auch bei Kommunalwahlen. Das Wahlrecht ab 16 bei Landtagswahlen führten jüngst Berlin (2023), Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern (beide 2022) ein. Inzwischen sind es mit Schleswig-Holstein sowie den Vorreitern Bremen, Hamburg und Brandenburg sieben Länder, in denen Jugendliche die Länderparlamente wählen dürfen. In Nordrhein-Westfalen steht die Absenkung im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien.
Teilhabe und demografischer Wandel
Befürworter eines abgesenkten Wahlalters nennen neben der besseren demokratischen Teilhabe junger Menschen insbesondere den demografischen Wandel als Grund. Durch die zunehmende Alterung der Bevölkerung verschiebe sich das Stimmengewicht in Richtung älterer Generationen. Durch die in Kraft tretende Änderung zur Europawahl kommen nun voraussichtlich 1,4 Millionen junge Wahlberechtigte hinzu.
Die Regierungsfraktionen von SPD, Grünen und FDP begründeten die Änderung zur Europawahl, die Ende 2022 beschlossen wurde, ebenfalls mit der "frühzeitigen Einbindung von jungen Menschen in den demokratischen Prozess". Das bisherige Mindestwahlalter von 18 Jahren habe Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, "die an zahlreichen Stellen in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen und sich in den politischen Prozess einbringen können und wollen", heißt es im Gesetzentwurf. Außerdem verwies die Ampel konkret auf Themen wie den Klimaschutz, bei denen Entscheidungen "Wirkung weit über Legislaturperioden hinaus" hätten.
Die Bundesregierung sieht sich außerdem auf einer Linie mit dem Europäischen Parlament. So empfahl die Mehrheit der EU-Abgeordneten im Mai 2022 in einer Entschließung zum Wahlsystem, das Wahlalter in ganz Europa auf 16 Jahre zu senken. Und auch in Deutschland kam eine vom Bundestag eingesetzte "Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit" zu diesem Ergebnis. Die beteiligten Abgeordneten des Bundestags und Sachverständige rieten in ihrem Abschlussbericht im Mai 2023 mehrheitlich zu einer Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre – auch bei Bundestagswahlen.
Wahlalter in Mitteldeutschland
In Sachsen, Sachen-Anhalt und Thüringen liegt das Mindestalter für die Teilnahme an Landtagswahlen bei 18 Jahren. In Sachsen-Anhalt und Thüringen dürfen 16- und 17-Jährige an Kommunalwahlen teilnehmen.
Zu unterscheiden ist noch das aktive vom passiven Wahlrecht. Das aktive Wahlrecht ist das Recht, wählen zu gehen. Das passive Wahlrecht bedeutet, bei einer Wahl selbst antreten zu dürfen. Das Wahlalter ist in beiden Fällen oft nicht identisch. So dürfen in allen drei mitteldeutschen Ländern bei Landtags- und Kommunalwahlen nur Volljährige kandidieren. Hauptamtliche Bürgermeister oder Landräte müssen in Sachsen-Anhalt und Thüringen sogar mindestens 21 Jahre alt sein.
Bei der Europwahl liegt das passive Wahlrecht ebenfalls bei 18 Jahren.
Geringe Reife führt laut Kritikern zu schlechten Wahlentscheidungen
Allerdings gab es in der Debatte stets kritische Stimmen. Die Gegner begründen ihre Ablehnung dabei teilweise juristisch. So sei man in Deutschland erst ab 18 Jahren voll geschäftsfähig. Es sei unsinnig, wenn Jugendliche nicht in vollem Maße über die eigenen Angelegenheiten entscheiden dürften, aber über die Zukunft des Landes mitbestimmen sollten. Das Wahlalter sollte demnach weiter an die Volljährigkeit gekoppelt sein. Außerdem argumentieren Kritiker, dass viele 16-Jährige nicht über die Reife und das Wissen verfügten, um hinreichend kluge Wahlentscheidungen zu treffen.
Schließlich gibt es auch noch das Argument der Einheitlichkeit. So ist das Wahlrecht ab 16 in der EU trotz der oben genannten Empfehlungen eine Seltenheit. Neben Deutschland haben nur Belgien, Österreich, Malta und Griechenland ein Wahlrecht für Jugendliche – in fast allen anderen EU-Mitgliedsstaaten bleibt das Wahlalter bei 18 Jahren.
Dieses Argument der Einheitlichkeit lässt sich allerdings auch umkehren. Befürworter des Wahlrechts ab 16 sagen, es sei für junge Menschen nicht nachvollziehbar, warum sie etwa an Kommunalwahlen teilnehmen dürfen, aber nicht an Bundestags- oder Europawahlen. Schlimmer noch: Der Ausschluss von bestimmten Wahlen demotiviere die Jugendlichen sogar und führe zu geringerer Wahlbeteiligung in späteren Jahren.
Wissenschaftlich spricht nichts gegen Wahl ab 16
Das Argument mangelnder Reife ist zudem wissenschaftlich widerlegt. So haben etwa die Politikwissenschaftler Thorsten Faas von der FU Berlin und Arndt Leininger von der TU Chemnitz in zwei sogenannten Jugendwahlstudien die Chancen und Risiken erforscht, die mit der Absenkung des Wahlalters einhergehen. Sie befragten dazu zwischen 2019 und 2021 tausende junge Menschen in Sachsen, Brandenburg und Berlin. Ihr Fazit: "So zeigt sich [...], dass es praktisch keine Unterschiede hinsichtlich des politischen Wissens und des politischen Interesses zwischen 15-, 16-, 17-, 18-, 19- und 20-Jährigen gibt. Im Durchschnitt sind sie alle gleichermaßen interessiert und wissend." Das Argument mangelnder Reife finde in den Daten "keine Bestätigung".
Eine zweite Untersuchung aus Mitteldeutschland stützt diese Einschätzung. So untersuchte die Sozialpsychologin Anna Lang von der Universität Erfurt mehrfach die Qualität von Wahlentscheidungen junger Menschen und verglich sie mit denen von älteren Erwachsenen. Die Güte der Entscheidung richtete sich dabei nicht nach einer politischen Richtung, sondern beruhte darauf, wie sehr die Inhalte der gewählten Partei mit zuvor geäußerten Überzeugungen übereinstimmten. In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk sagte Lang zur Absenkung des Wahlalters: "Wenn wir uns die Evidenz angucken, die wir bislang gesammelt haben, würde ich für 16- bis 17-Jährige sagen, dass eigentlich nichts dagegen spricht. Die haben eine genauso gute Entscheidungsqualität wie die Älteren."
Bundestagspräsidentin möchte niedrigeres Wahlalter
Auf politischer Ebene läuft die Debatte zu einer Absenkung des Wahlalters auch bei Bundestagswahlen. Zu Jahresbeginn drängte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas noch einmal bei dem Thema. Dass bei der Europawahl erstmals 16-Jährige wählen dürften, tue der Demokratie gut, sagte die SPD-Politikern. "Für mich ist das Teil der Demokratieerziehung", sagte Bas. Je früher Menschen wählen gingen, desto wahrscheinlicher sei es, dass sie auch zukünftig regelmäßig an Wahlen teilnehmen.
Eine zeitnahe Absenkung des Wahlalters bei Bundestagswahlen ist jedoch unwahrscheinlich. Dafür bräuchte es eine Grundgesetzänderung mit Zweidrittelmehrheit. CDU und CSU lehnen die Absenkung aber ab und ohne die Union kommen die notwendigen Stimmen nicht zusammen.
Perspektivisch geht der Trend indes klar in Richtung jüngeres Wahlalter. Außer der Union lehnt im Bundestag lediglich die AfD das Wahlrecht ab 16 Jahren ab. Die FDP, die lange dagegen war, hat ihre Meinung mit einem Parteitagsbeschluss im Jahr 2020 geändert. SPD, Grüne und Linke sind ebenfalls dafür.
mit Material von AFP
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 15. März 2024 | 09:17 Uhr
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