Gesundheitsbranche Vier-Tage-Woche in der Pflege bislang kaum Thema
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24. März 2023, 05:00 Uhr
Kann das Modell der Vier-Tage-Woche auch auf die Pflegebranche übertragen werden? Dazu haben Wissenschaftlerinnen, Verbände, Einrichtungsträger und Betroffene unterschiedliche Ansichten.
- Pflegeverband DBfK erachtet Vier-Tage-Woche nur mit 32 Stunden und vollem Lohnausgleich für sinnvoll.
- Überlegungen zur Vier-Tage-Woche am Universitätsklinikum Leipzig.
- Forschung am Fraunhofer-Institut zur Zukunft der Arbeit in der Pflege.
Sirko Rabe ist seit 22 Jahren Krankenpfleger. Derzeit arbeitet er in der Helios Klinik Schkeuditz als Anästhesie- und Intensivpfleger - zuweilen auch in der Notaufnahme. Seit 15 Jahren ist er außerdem als Betriebsrat tätig und kennt sich mit den komplizierten Vertrags-, Gesetzes- und Tarifbestimmungen im Gesundheitswesen bestens aus. Die Vier-Tage-Woche sei bisher noch kein Thema gewesen, sagt er im Gespräch mit MDR AKTUELL. "Ich glaube schon, dass das ein guter Ansatz ist für Handwerksberufe oder andere Bereiche, wo es keinen kontinuierlichen Personalbedarf gibt", so Rabe. In Rettungswesen, Pflege und Klinikalltag hält er die Vier-Tage-Woche für eher "utopisch".
"Kontinuierlicher Personalbedarf" heißt dort, wo Sirko Rabe arbeitet, nichts anderes als 24-Stunden-Betreuung von Patientinnen und Patienten an sieben Tagen in der Woche. Hinzu komme, dass der Pflegebedarf pro Patient immer weiter steige, so Rabe. "Durch die moderne Medizin werden die Menschen immer älter und kommen mit immer mehr Vorerkrankungen in die Kliniken."
Zurückhaltend beim Thema Vier-Tage-Woche in der Pflege äußert sich auch der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK). "Das Thema Vier-Tage-Woche ist bisher nicht an uns herangetragen worden", sagt Marlies Biederbeck, die bei dem Pflegeverband unter anderem für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zuständig ist. "Pflege ist ja ohnehin schon ein anstrengender Beruf und Vier-Tage-Woche bedeutet in der Regel längere Arbeitszeit an vier Tagen, um einen Tag frei zu haben", so Biederbeck. Denkbar hingegen sei eine Vier-Tage-Woche mit 32 Stunden und vollem Lohnausgleich. Generell seien die Arbeitgeber gefordert, flexible Arbeitszeitmodelle anzubieten. "Da ist auch das Vier-Tage-Modell ein denkbares, aber ich kenne es aus der Pflege bislang nicht".
Pilotprojekt in Sangerhausen vor der Umsetzung
Das könnte sich bald ändern, denn beim Deutschen Roten Kreuz in Sangerhausen laufen die finalen Vorbereitungen für die Einführung der Vier-Tage-Woche zum Jahreswechsel 2023/24. Für die DRK-Pflegeeinrichtung in Sangerhausen sind Vier-Tage-Woche und Pflege kein Widerspruch. Die 400 Mitarbeitenden haben die Neuerung begeistert aufgenommen. Der Vorstandsvorsitzende Andreas Claus hat lange für die verkürzten Arbeitszeiten gekämpft. Jetzt wird noch geplant mit Gewerkschaften und mit Hochschulen, die das Projekt wissenschaftlich begleiten wollen. Es wäre das Erste dieser Art im Pflegebereich in ganz Deutschland. Ab Mai soll es in Sangerhausen in die Umsetzungsphase gehen. Man merke schon eine verstärkte Nachfrage nach Jobs, hieß es auf Nachfrage des MDR.
"Überlegungen in die Richtung [Vier-Tage-Woche, Anm. d. Red.] gibt es", bestätigt auch Tancred Lasch, Geschäftsführender Pflegerischer Departmentleiter am Universitätsklinikum Leipzig. Derzeit befinde man sich in Tarifverhandlungen und es gebe durch die Mitarbeitenden durchaus Nachfrage nach einer Vier-Tage-Woche. Auch in der Geschäftsleitung der Klinik werde das Thema diskutiert, so Lasch. Schließlich sei es auch eine "Frage der Attraktivität des Arbeitsplatzes". Man schaue da auf andere Häuser in und um Leipzig und andere Universitätsklinika, die zuletzt die 38,5-Stunden-Woche eingeführt hätten. Derzeit gibt es am UKL noch die 40-Stunden-Woche.
Manja Riese, Pflegedirektorin am Schkeuditzer Helios-Klinikum, hingegen verneint auf Anfrage von MDR AKTUELL Überlegungen zur Vier-Tage-Woche. "Dadurch, dass wir einen 24-Stunden-7-Tage-die Woche-Betrieb haben, ist das eher nicht relevant". In Schkeuditz wurde die Arbeitszeit vor einigen Monaten auf 38,5 Stunden abgesenkt. Einen positiven Effekt für die Belegschaft gibt es jedoch nicht, beklagt Sirko Rabe. Man arbeite jetzt pro Tag offiziell 7,7 statt 8 Stunden. "Zusammenhängende Freizeit ergibt sich dadurch für uns nicht. Das ist eine Illusion."
Arbeitszeitflexibilisierung als Erfordernis der Zeit
Demografischer Wandel und Fachkräftemangel machen Arbeitszeitflexibilisierung - egal in welcher Form - nicht nur in der Pflege- und Gesundheitsbranche notwendig. Als Arbeitgeber "muss ich zwangsläufig die Arbeitsplätze attraktiv gestalten und schauen, was brauchen denn meine Mitarbeitenden, um gesund und zufrieden arbeiten zu können und auch produktiv zu sein“, erklärt Caroline Schubert, Arbeitspsychologin an der Universität Leipzig dem MDR. Aufpassen müsse man dabei aber auf jeden Fall, dass der gewünschte Entlastungseffekt nicht komplett ins Gegenteil umschlage "und die denken 'oh Gott, jetzt hab ich einen Tag weniger, muss aber genauso viel schaffen. Das ist mir viel zu stressig. Das schaff ich gar nicht'", gibt Schubert zu bedenken. Der Arbeitswissenschaftler Philipp Frey vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ergänzt: "Man muss überlegen wie man cleverer arbeitet und nicht einfach nur schneller.“
Begeisterung nach Testlauf in Großbritannien
Ein Feldversuch zur Vier-Tage-Woche in Großbritannien hat verblüffende Ergebnisse geliefert. Bis Ende November hatten sich dort rund 70 Unternehmen beteiligt und die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten auf 80 Prozent (rund 32 Stunden/Woche) reduziert - bei vollem Gehalt. Die Beschäftigten waren zufriedener, produktiver und loyaler ihrem Arbeitgeber gegenüber. Die Zahl der Bewerbungen nahm zudem signifikant zu. Auch in anderen europäischen Ländern wie Finnland, Irland oder Belgien gibt es Modellversuche oder Pläne zur Vier-Tage-Woche. Und auch in Deutschland haben sich erste Unternehmen für die Vier-Tage-Woche entschieden.
Das Thema ist auch auf der politischen Ebene angekommen. Die Linke hat es für sich entdeckt. Das Argument der Partei: Im Gegensatz zu bisherigen Arbeitszeitflexibilisierungen, die immer zu Lasten der Beschäftigten gegangen seien, nütze die Verkürzung der Arbeitszeit den Beschäftigten tatsächlich und sichere Arbeitsplätze. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) äußerte sich zuletzt noch ablehnend. Ebenso der Koalitionspartner FDP, der Finanzierungsprobleme sieht.
Es muss anders werden, wenn es besser werden soll
Zurück zum Spezialfall Pflegebranche. Hier fehlen derzeit bis zu 250.000 Arbeitskräfte. "Das ist direkt nach Klimawandel und Energiekrise eines der größten Probleme, die wir in Europa haben", sagt Krankenpfleger Sirko Rabe. Die Dimension sei der Politik bewusst, aber den Menschen noch nicht. Aktuell gehe der Trend dahin, dass irgendwann keine flächendeckende gute Pflege mehr angeboten werden könne. Die Pflegeleistung werde perspektivisch immer stärker auf Angehörige übertragen, davon ist Rabe fest überzeugt. "Pflege ist ein Indikator für die Werte- und Normenvorstellungen einer Gesellschaft", sagt er nüchtern, während er eine düstere Zukunft schildert.
Pflege ist ein Indikator für die Werte- und Normenvorstellungen einer Gesellschaft.
Dass es besser werden muss, ist klar. Deswegen hat sich Beate Risch vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart wissenschaftlich mit der Frage beschäftigt, wie der Pflegesektor zukunftsfähig gemacht werden kann. In wenigen Wochen soll eine Studie erscheinen mit Handlungsempfehlungen für die "New Work in der Pflege". Deutschlandweit wurden dafür Pflegekräfte zu ihren Wünschen interviewt, aber auch dazu, was sie bereit wären, zu ändern. Neben der Personalentwicklung und Möglichkeiten zur Einbindung neuer Technologien, haben sich die Forschenden um Risch auch mit Unternehmenskultur und Arbeitszeitflexibilisierung beschäftigt. "Eigentlich muss man das klassische Schichtsystem in der Pflege komplett aufbrechen", sagt Risch MDR AKTUELL. Als "wirkliche Flexibilisierung" bezeichnet sie es, wenn Beschäftigte sich die Arbeit selbst einteilen können. Zum Beispiel "abends noch eine Tour fahren in der ambulanten Pflege". Mit Blick auf die Vier-Tage-Woche bringe es etwa einer Alleinerziehenden nichts, wenn sie zwar freitags frei habe, aber an den anderen Tagen länger arbeite und sich nicht um die Kinder kümmern könne.
Pflege ist in Deutschland vor allem weiblich. 80 Prozent der Pflegekräfte sind Frauen. Für die, so Marlies Biederbeck vom Pflegeverband DBfK stehe vor allem die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Mittelpunkt. Die weiblichen Pflegekräfte wollten lieber am frühen Nachmittag zu Hause sein, damit sie die Kinder versorgen könnten. Aussagen wie diese verdeutlichen eindrücklich die in Deutschland noch immer zementierten Geschlechterrollen und den damit einhergehenden Gender Care Gap. Dass die Pflege sehr frauenlastig ist und diese Tatsache möglicherweise auch etwas "mit der Lobby mache", die die Branche hat beziehungsweise nicht hat, sieht auch Sirko Rabe.
Ihm liegt eine grundsätzliche Sache zur Verbesserung der Lage seiner Berufsgruppe und zur dauerhaften Stabilisierung des Gesundheitssystems besonders am Herzen. Deutschland müsse "zurück von der privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitsversorgung zu kommunalen oder anderen Trägerschaften, bei denen die Gewinne nicht abfließen, sondern reinvestiert werden - in die Gesundheitsversorgung." So wie es ursprünglich mal gedacht gewesen sei. Die Vier-Tage-Woche ist dabei seine kleinste Sorge.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 09. Januar 2023 | 06:00 Uhr