Polizei begleitet eine Demonstration in Leipzig. Unter dem Motto „Grundrechte gelten auch in Leipzig“ protestieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit rund um den „Tag X“.
Auch nach der Veruteilung von Lina E. wurde die Versammlungsfreiheit in Leipzig eingeschränkt. Dagegen gab es Proteste. Bildrechte: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

Interview mit Rechtsexperte Clemens Arzt "Versammlungsfreiheit meint auch Freiheit von polizeilicher Überwachung"

12. März 2024, 08:02 Uhr

Die Versammlungsfreiheit steht in Deutschland zunehmend unter Druck, sagt Jurist Clemens Arzt. Der Experte für Versammlungsrecht kritisiert im Interview mit MDR AKTUELL zunehmende Repressivität im Vorgehen der Polizei auf Demonstrationen, Maßnahmen, die Teilnehmer einschüchterten und eine Zunahme der Versammlungsverbote. Er spricht über die Ungleichgewichte im Umgang mit Demonstranten und wie schwierig es für manche Gruppen sei, ihr Recht auf freie Meinungskundgabe auf der Straße einzufordern.

Die Versammlungsfreiheit ist in Deutschland ein Grundrecht, womit ihr gesetzlich schon viel Gewicht eingeräumt wird. Was macht denn die Versammlungsfreiheit so wichtig für unsere Gesellschaft?

Bürgerinnen und Bürger können alle vier oder fünf Jahre wählen. Sie können sich in einer politischen Partei oder in Bürgerinitiativen oder anderen Gruppen organisieren. Aber ansonsten haben sie eigentlich sehr wenig Möglichkeit, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Um meine Meinung wirksam nach außen zu tragen und auch auf der Straße kundzutun, ist die Versammlungsfreiheit daher enorm wichtig.

Das ist sicher heute etwas anders mit Blick auf Social Media. Trotzdem macht es einen Unterschied, ob ich alleine etwas auf Social Media einstelle oder ob ich mit einer Gruppe von zehn Menschen, oder 10.000 Menschen auf die Straße gehe. Das birgt auch eine Öffentlichkeit, die ich auf Social Media nicht habe. Also ich kann sozusagen mehr Aufmerksamkeit erregen. Und darum geht es gerade in der heutigen Zeit, wo Menschen ja doch zunehmend das Gefühl haben, Politik gehe komplett an ihnen vorbei.

Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

Artikel 8 Grundgesetz

Ganz grundsätzlich: Wer darf sich denn in Deutschland wann versammeln?

Also in Artikel 8 im Grundgesetz steht, dass alle Deutschen Versammlungsfreiheit haben. Es ist ein sogenanntes Deutschengrundrecht. Aber das heißt noch lange nicht, dass Nicht-Deutsche nicht demonstrieren dürften. Sie sind nicht von Artikel 8 geschützt, aber mindestens von der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Grundgesetz. Die Versammlungsfreiheit ist zudem von der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt, und die wiederum schützt jeden Menschen in einem Land und nicht nur die Bürgerinnen und Bürger eines Landes.

So ist die Versammlungsfreiheit in Deutschland gesetzlich geregelt

Von einer Versammlung ist in Deutschland dann die Rede, wenn Menschen sich treffen, um gemeinsam ihre Meinung zu äußern oder sich gemeinsam eine Meinung zu bilden. Die Versammlungsfreiheit ist in Deutschland ein Grundrecht und in Artikel 8 des Grundgesetzes festgeschrieben.

Das klingt zunächst, als gelte dieses Recht nur für deutsche Staatsbürger. Fast alle Landesverfassungen der einzelnen Bundesländer weiten es jedoch auf alle aus, so etwa Artikel 23 der sächsischen Verfassung. Außerdem schützt die Europäische Menschenrechtskonvention die Versammlungsfreiheit jedes Menschen und nicht nur die der Bürger und Bürgerinnen eines Landes. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Versammlungen regelte zunächst das Versammlungsgesetz des Bundes von 1953. Inzwischen hat sich jedoch etwa die Hälfte der Bundesländer eigene Versammlungsgesetze gegeben, darunter auch Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Auch so ist für Entscheidungen zur Versammlungsfreiheit oft eher aktuelle Rechtssprechung, etwa vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) maßgeblich, weil das Versammlungsgesetz des Bundes von 1953 bereits so alt ist. Sehr wichtig war etwa der Brokdorf-Beschluss von 1985, mit dem das BVerfG Verbote von Demonstrationen gegen den Bau eines Atomkraftwerks aufhob und die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Demokratie unterstrich.

Und kann in der Praxis jeder und jede in Deutschland gleichermaßen das Recht auf Versammlungsfreiheit ausleben? Besteht da Chancengleichheit?

Grundsätzlich ja. Aber wenn Juristen grundsätzlich sagen, heißt es, es gibt Ausnahmen. Die Relevantesten hat man nach dem 7. Oktober 2023 gesehen. Gerade in Berlin hatten Menschen, die einen palästinensischen oder arabischen Hintergrund hatten oder sich in irgendeiner Art und Weise mit Palästina solidarisch fühlten, über Wochen hinweg eigentlich kaum noch Versammlungsfreiheit. Das war einer der dramatischsten Eingriffe auf politische Meinungsäußerungen, die ich bisher gesehen habe.

Gegen diese Menschen ging die Berliner Polizei massiv vor. Es wurden sehr viele Versammlungen im Vorhinein verboten, was bis vor kurzem sehr ungewöhnlich war in Deutschland. Und die, die trotzdem stattfanden, wurden einfach rigoros aufgelöst. Die Berliner Polizeipräsidentin stellte sich vor die Presse und sagte, sie wisse gar nicht was die Aufregung solle, man hätte doch von 35 Versammlungen nur 17 verboten. 17 Versammlungsverbote in drei Wochen – das dürfte wahrscheinlich ein Schnitt sein, den Berlin vorher in fünf Jahren nicht zusammenbekommen hat.

Portrait: Clemens Arzt
Bildrechte: Clemens Arzt

Prof. Dr. Clemens Arzt Clemens Arzt ist einer der führenden Experten für Versammlungsrecht in Deutschland. Bis März 2023 war er Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Er ist außerdem Gründungsdirektor des dort ansässigen Forschungsinstituts für private und öffentliche Sicherheit (FÖPS Berlin). Er hat 24 Jahre angehende Kommissarinnen und Kommissare der Berliner Polizei unterrichtet.

Wenn ein Versammlungsverbot ausgesprochen wird, kann man ja dagegen klagen.

Ja, aber die Möglichkeit dazu ist natürlich von den sozialen und ökonomischen Umständen der Betroffenen abhängig. Also etwa bestimmt von der Frage: "Habe ich das Geld dafür?" Und Menschen, die sowieso in einem schwierigen sozialen Umfeld leben, möchten sich oft nicht unter Angabe ihres Namens beschweren, weil sie Angst vor Repressionen haben. Da haben wir in der Tat ein Problem.

Es gibt eigentlich in Deutschland zwei Gruppen, die sehr effektiv gegen polizeiliche Maßnahmen bezogen auf Gruppen vorgehen. Das ist die politische Rechte, die in Karlsruhe sehr viele Entscheidungen in Sachen Versammlungsfreiheit erwirkt hat. Auch wenn ich deren Anliegen politisch ablehne. Und die zweite Gruppe sind interessanterweise Fußballfans, weil diese auch sehr häufig von der Polizei erheblich eingeschränkt werden und gut organisiert und damit klagefreudig sind.

Also, man ist entweder politisch organisiert und hat ein Umfeld, das einen unterstützt, oder man ist ein Mensch, der sich eine solche Klage finanziell und zeitlich und oft auch durch fehlendes Wissen nicht leisten kann.

Welche Befugnisse hat die Polizei auf einer Versammlung?

Ich möchte zunächst einmal sagen, dass ich eine zunehmende Repressivität in der Ausübung polizeilicher Befugnisse bei Versammlungen beobachte – angefangen von der Corona-Pandemie, über die Klimaproteste, bis zum 7. Oktober 2023 und danach. Wir haben noch nie so viele Verbote gehabt und die Polizei fängt an, Dinge aus dem Sack zu ziehen, die man zehn Jahre nicht gemacht hat.

Ein wichtiges Instrument der Polizei ist seit vielen Jahren das Videografieren von Versammlungen. Ich persönlich sehe das ausgesprochen kritisch, weil das einen erheblichen Abschreckungseffekt hat. Versammlungsfreiheit meint auch Freiheit von polizeilicher Überwachung. Und entgegen der Auffassung von Polizei habe ich auch keine Pflicht, mein Gesicht zu zeigen. Es gibt zwar ein Vermummungsverbot, aber die Polizei hat nicht grundsätzlich das Recht zu wissen, wer demonstriert. Sondern dieses Recht kommt ihr nur in sehr begrenzten Ausnahmefällen, insbesondere bei Begehung von Straftaten zu. Das ist auch umstritten. Es gibt Gerichte, die meinen, ich dürfe nie mein Gesicht vermummen. Ich sehe es anders.

Was darf die Polizei noch?

Sie kann Versammlungen beschränken. Sie kann sagen, ihr dürft keine Seitentransparente mitführen, keine Fahnenstange länger als zwei Meter und vieles mehr. Bei jeder normalen, etwas größeren Versammlung kriegen Sie einen fünfseitigen Auflagenkatalog, was sie alles nicht dürfen. Das ist ein wesentliches Instrument zur Beschränkung der Versammlungsfreiheit. Und die gravierendste Befugnis ist die Auflösung einer Versammlung, wenn die Polizei meint, man würde das Gesetz nicht beachten. Und wer nicht geht, muss dann mit Zwangsmaßnahmen gegen sich rechnen.

Wird mit allen Arten von Versammlungen gleich umgegangen?

Dazu gibt es keine empirische Forschung, aber bei Zufallsbeobachtungen gewinnt man schon den Eindruck, dass Versammlungen aus dem politisch eher linken Lager deutlich häufiger mit Maßnahmen überzogen werden als Versammlungen aus dem rechten Lager. Oder nehmen Sie die Bauernproteste der letzten Wochen. Da wurden von der Polizei Versammlungsformen und Handlungen akzeptiert, die bei anderen Versammlungen, insbesondere den Klimaprotesten eingeschritten wurden und zu tausenden von Strafanzeigen führten.

Die Möglichkeiten, die die Polizei hat, gerade auch zur Identitätsfeststellung, wie wirken sich diese auf politisch engagierte Menschen aus?

Nach dem Versammlungsgesetz in Nordrhein-Westfalen beispielsweise sollen die Namen von Ordnerinnen und Ordnern abgegeben werden. Da gibt es dann viele, die diesen "Job" einfach nicht mehr machen. Die wollen von der Polizei nicht erfasst werden, nur weil sie Ordner bei einer Demo sind. Die wissen, ich bin dann fünf bis zehn Jahre in einer polizeilichen Datenbank, ohne etwas gemacht zu haben. In Bremen zum Beispiel wurden Daten von Anmelder einer Demonstration sogar dem Verfassungsschutz gemeldet. Das schreckt schon ab. Versammlungsfreiheit ist Recht auf Staatsfreiheit. Die ist nicht mehr gegeben, wenn ich meinen Namen angeben muss oder fotografiert oder per Video erfasst werde.

Vor dem Hintergrund von dem, was Sie mir gerade erzählt haben, würden Sie sagen, dass die Versammlungsfreiheit in Deutschland eingeschränkt wird?

Ich würde sagen, dass die Versammlungsfreiheit heute unter wesentlich mehr Druck steht, als vor der Corona-Pandemie. Damit würde ich nicht sagen, keiner kann sich in Deutschland versammeln. Aber die Versammlungsfreiheit ist unter Druck – auch abhängig davon, wie Politik und die Polizei zu einem bestimmten Anliegen stehen.

Versammlungsfreiheit ist Recht auf Staatsfreiheit.

Clemens Arzt Jurist

Wenn sich von medialer oder politischer Seite mit Versammlungen auseinandergesetzt wird, dann häufig aus der Sicherheitsperspektive. Was bedeutet das für unser gesellschaftliches Verständnis von Versammlungsfreiheit?

Es gibt in der Polizei dieses aus meiner Sicht ganz schräge Selbstverständnis: "Ohne uns gibt es gar keine Versammlungsfreiheit, weil wir schützen euch ja." Ich halte das für einen völlig falschen Ansatz, ich brauche keine Polizei, die mich schützt. In Ausnahmefällen natürlich ja, wenn verrückt gewordene Autofahrer drohen, mich umzufahren – also gerade bei den Klimaprotesten waren viele schon irgendwann auch froh, dass Polizei da war. Aber das sind dann Sondersituationen.

Ich glaube, die Herrschenden wissen schon, dass Versammlungen auch ganze Regierungen stürzen können.

Clemens Arzt Jurist

Grundsätzlich ist das Wesen der Versammlungsfreiheit Staatsferne. Oft möchte man ja gerade gegen staatliche Maßnahmen demonstrieren. Und ich glaube, die Herrschenden wissen schon immer auch ein Stück weit, dass Versammlungen auch ganze Regierungen stürzen und sogar Länder zum Zusammenbrechen bringen können. Wir haben es ja alle erfahren '89. Und ich glaube, gerade die, die für besonders viele Einschränkungen eintreten, haben genau das im Hinterkopf. Dieses Wissen, wenn die Massen auf die Straße gehen, kann das gefährlich werden – und zwar nicht im Sinne von gewalttätigen Auseinandersetzungen, sondern für den Status Quo.

Dieses Thema im Programm: 08. März 2024 | 15:07 Uhr

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