TikTok-Clip im Check Bekommen Kriegsflüchtlinge in der Ukraine weiter Bürgergeld?
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23. Mai 2024, 07:23 Uhr
Auf TikTok und in anderen sozialen Medien werden unzählige Fakenews, Halbwahrheiten und Hasskommentare verbreitet. Der Kanal "Nur die Wahrheit" hat zehntausende Follower, die Clips werden hunderttausendfach gesehen. Doch Wahrheiten gibt es eher selten, stattdessen werden rechte Stammtischparolen verbreitet.
- TikTok-Creator behauptet: Jobcenter schickt über Monate weiter Bürgergeld in die Ukraine
- Die Wahrheit ist: Bürgergeldempfänger haben drei Wochen pro Jahr Reisezeit
- Es gibt engmaschige Kontrollen durchs Jobcenter und die Behörden
- Fake-Masche der Influencer erzielt hohe Reichweiten
Der Kanal "NurdieWahrheit" auf TikTok hat mehr als 30.000 Follower. Dort veröffentlicht ein junger Mann seit mehreren Monaten kurze Clips mit seinen Ansichten und Einschätzungen zur politischen Lage. Der Kanal ist überschrieben mit "diewahrheittutleiderweh". Inhaltlich geht es meist um "alternative Fakten".
Die Lüge: Jobcenter schickt weiter Bürgergeld an Rückkehrer in Ukraine
In einem seiner jüngsten Clips empört sich der Creator: "Alle Ukrainer, die bei uns waren und Bürgergeld kassiert haben und wieder zurück in ihr Land gehen, bekommen weiter Bürgergeld." Ohne Quellen oder Belege behauptet er: "Das sind amtliche Fakten, keine Fakenews." Dazu kündigt er einen Link an, der allerdings auch auf Nachfrage von Usern nirgendwo auftaucht.
Der Clip trägt den Titel: "Jobcenter schickt Bürgergeld in Ukraine". Diese zumindest tendenziöse Vereinfachung suggeriert, Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine kassierten vom Jobcenter Bürgergeld, auch wenn sie gar nicht mehr an ihrem gemeldeten Wohnort in Deutschland leben oder schon wieder in die Heimat zurückgekehrt sind. Und überhaupt – so wörtlich – "chillen" die Ukrainer hier nur auf Kosten deutscher Steuerzahler.
Fragwürdiger Einzelfall wird verallgemeinert für Stimmungsmache
Auf Nachfrage verweist der Creator auf einen Bericht von Focus-Online, in dem geschildert wird, wie eine ukrainische Familie in Schleswig-Holstein insgesamt 40.000 Euro Sozialleistungen kassierte, obwohl sie zwischenzeitlich seit Monaten wieder in der Ukraine lebte.
MDR AKTUELL hat bei der Bundesagentur für Arbeit, bei der zuständigen Regionaldirektion Nord und auch beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales nachgefragt, in welchem Jobcenter das passiert sei und ob mögliche Kontrolllücken inzwischen geschlossen seien, doch nirgendwo ist ein solcher Betrugsfall bekannt und dokumentiert worden.
Der Focus-Autor beruft sich auf Nachfrage auf den Quellenschutz und nennt keine Details. Die Focus-Redaktion hat sich auf Nachfrage zum Artikel und möglichen Quellen gar nicht geäußert.
Die Wahrheit: Drei Wochen Reisezeit für Bürgergeldempfänger
Bürgergeldleistungsempfänger müssen ihrem Jobcenter Bescheid geben, wenn sie ihren Wohnort für längere Zeit verlassen – diese Regelung ist eindeutig formuliert. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) teilte MDR AKTUELL mit, "eine Nichterreichbarkeit ohne wichtigen Grund soll die Dauer von insgesamt drei Wochen im Kalenderjahr nicht überschreiten". In dem Zusammenhang betont die BA: "Ein systematischer Leistungsmissbrauch ist für diese Fallgruppe nicht bekannt."
Dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales zufolge sind Leistungsberechtigte verpflichtet, eine längere Ortsabwesenheit anzuzeigen und sich nach Rückkehr beim Jobcenter zu melden. Die Erreichbarkeitsverordnung schreibe Bürgergeldempfängern vor, "Mitteilungen der Jobcenter werktäglich zur Kenntnis zu nehmen". Eine längere Abwesenheit aus der eigenen Wohnung würde zudem über ungewöhnliche Betriebs- und Heizkosten auffallen.
Das amtliche Webportal "Germany4Ukraine" informiert mehrsprachig: "Bis zu einer Reise von drei Wochen wird Bürgergeld weiter gezahlt, darüber hinaus in der Regel nicht." Ausnahmeregelungen gibt es etwa bei einer schweren Erkrankung. Bei einer längeren Abwesenheit aus Deutschland und spätestens nach sechs Monaten erlischt der Schutzstatus als Kriegsflüchtling und damit der Anspruch auf Bürgergeld und Grundleistungen. Diese Frist kann bei besonderen Umständen verlängert werden.
Mögliche Ausnahmen für die 3-Wochen-Regel
Paragraph 7b im SGB II:
Bei der 3-Wochen-Regelung handelt es sich um eine "Soll"-Vorschrift. Besondere Umstände können in Einzelfällen auch mehr als drei Wochen Abwesenheit aus dem sogenannten näheren Umfeld rechtfertigen, soweit die Eingliederung in Arbeit oder Ausbildung nicht wesentlich beeinträchtigt wird. Gründe können sein:
- Teilnahme an einer ärztlich verordneten Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation
- Teilnahme an einer Veranstaltung, die kirchlichen oder gewerkschaftlichen Zwecken dient oder im öffentlichen Interesse liegt
- Aufenthalten außerhalb des näheren Bereichs, die überwiegend der Eingliederung in Ausbildung oder Arbeit dienen
- Ausübung einer ehrenamtlichen Tätigkeit, wenn die Eingliederung in Ausbildung oder Arbeit nicht wesentlich beeinträchtigt wird.
Enge Kontrollen durch Jobcenter und Behörden
Wie bei allen Empfängern von Sozialleistungen, sind auch bei Geflüchteten aus der Ukraine Regelverstöße nicht auszuschließen.
Die Bundesagentur für Arbeit räumt ein, dass die Abmelderegelung nicht zu jedem durchdringe. Doch es gebe verschiedene Kontrollmechanismen und bei Verdacht gebe es Hausbesuche. Ohne Ausnahmeerlaubnis werde in der Regel ab der vierten Abwesenheitswoche das Bürgergeld ausgesetzt.
Das Jobcenter Leipzig erklärte auf Nachfrage, man stehe "engmaschig im Kontakt" zu den Leistungsbeziehenden, schon allein durch regelmäßige persönliche Vermittlungsgespräche und Präsenzveranstaltungen. Ausnahmen von der Drei-Wochen-Erreichbarkeitsregelung würden jeweils von der zuständigen Integrationsfachkraft sowie der Führungskraft im Vermittlungsteam geprüft und einzeln genehmigt. Die Integrationsteams in Leipzig hätten bislang keine besonderen Auffälligkeiten zu Verstößen von Leistungsbeziehenden aus der Ukraine.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verweist auch auf Kontakte bei Sprachkursen, zur Klärung von Betriebs- und Heizkostenrechnungen oder Bildungs- und Teilhabeleistungen. Dafür müssten die Leistungsempfänger im sogenannten näheren Aufenthaltsbereich leben, das könne auch das grenznahe Ausland sein.
Die Fake-Masche rechter Influencer
Die Videos auf dem Account "NurdieWahrheit" sind nach einem simplen Muster gestrickt: Zumeist werden angebliche Skandale und die vermeintlich katastrophale Politik der Bundesregierung angeprangert. Dazu werden Einzelbeispiele oder Aussagen aus dem Gesamtzusammenhang gerissen, gern mit dramatischer Musik unterlegt.
Es geht um wenige Dauerthemen, die in kurzen Abständen immer wieder bearbeitet werden: Niedrige Renten und Löhne, die Hilfe für die Ukraine und hohe Steuerlasten, meist verbunden mit rechten Stammtischparolen. Damit wird Sozialneid geschürt. Lösungsvorschläge für Probleme – Fehlanzeige. Dazu gibt es Kanzler-Bashing und Tipps für die Europawahlen, auch offene Werbung für die AfD. Der Creator echauffiert sich gern kumpelhaft: "Ich raste gleich komplett aus", "mir reicht es jetzt", "ich bin wirklich auf 180", "ich dreh durch". Außerdem animiert er sein Publikum offensiv zum Kommentieren, Liken, Folgen und Teilen des Videos.
Der Clip vom 19. April zu angeblichen Bürgergeldzahlungen an Ukraine-Heimkehrer hatte nach drei Wochen mehr als 100.000 Aufrufe, mehr als 6.300 Likes, wurde mehr als 3.000 Mal geteilt und über 900 Mal kommentiert. Der Creator erreicht mit seinem Kanal mehr als 30.000 Follower und hat mit mehr als 90 Videos zu Politikthemen sowie drei zum Thema vermisste Menschen mehr als 100.000 Likes gesammelt. Sein reichweitenstärkster Clip mit dem Titel "Wir sollen der Ukraine Soli-Steuer zahlen" hat etwa 460.000 Views.
MDR AKTUELL (ans)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 07. Mai 2024 | 14:03 Uhr
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