Unter der Lupe Zukunftszentrum Deutsche Einheit: Kein Pilgerort für Ostalgie
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21. Januar 2023, 05:00 Uhr
Bis Mitte Februar will eine Auswahlkommission über den Standort des Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation entscheiden. Fünf Städte aus Mitteldeutschland bewerben sich darum. Gleichzeitig muss geklärt werden, was die Mission dieser neuen Forschungs- und Begegnungsstätte sein soll. Nur die Verletzungen der Ostdeutschen in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung in den Mittelpunkt zu stellen, ist zu wenig, findet Tim Herden.
- Zukunftszentrum kommt 20 Jahre zu spät.
- Die gesamtdeutsche Politik hat keine Antwort auf ostdeutsche Traumata.
- Das Zukunftszentrum könnte einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung leisten.
- Es sollte aber kein Pilgerort für Ostalgiker sein.
Traumata soll man so schnell wie möglich behandeln. Und deshalb kommt das geplante Zukunftszentrum Deutsche Einheit mindestens zwanzig Jahre zu spät. Viele Ostdeutsche erlitten in den ersten Jahren nach 1990 durchaus traumatische Erfahrungen. Eben waren sie mit der friedlichen Revolution noch die Sieger der Geschichte.
Doch nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, den sie selbst gewollt hatten, erlebten sie einen sozialen und wirtschaftlichen Umbruch mit vielen Veränderungen und Verletzungen, die tiefe Spuren in den Seelen der Menschen hinterließen. Plötzlich waren scheinbar die Westdeutschen die Sieger der Geschichte, obwohl sie die friedliche Revolution im Osten nur aus dem Fernsehsessel beobachtet hatten.
Ostdeutsche Erfahrungen wichtig für die anstehende Transformation durch den Klimawandel
Dieses Trauma musste zu Problemen führen. Es brach sich ein Vierteljahrhundert nach der Einheit Bahn mit den Erfolgen der AfD in den ostdeutschen Ländern und in wachsenden Zweifeln an der einst gewollten Demokratie. Bis heute findet die gesamtdeutsche Politik keine wirkliche Therapie dagegen.
Aus der Not der Hilflosigkeit wurde die Idee des Zukunftzentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation geboren. Wenn auch zu spät, ist es trotzdem ein richtiges Vorhaben. Gerade mit Blick auf die bevorstehende wirtschaftliche und soziale Transformation Deutschlands insgesamt durch den Abschied von den fossilen Energieträgern als bisherigem Antriebsmittel nicht nur der Autos auf der Straße oder Heizstoff, sondern als Basis ganzer Industriezweige.
Wie vor über drei Jahrzehnten werden wieder soziale und politische Gewissheiten auf den Prüfstand gestellt und drohen auch verloren zu gehen. Wie damals macht allerdings bisher die Politik den Fehler, eine strahlende Zukunft zu beschreiben, in der drehende Windräder und glänzende Solarpaneele all unsere Energieprobleme lösen, wenn wir nicht mehr Kohle und Gas verfeuern, mit Strom statt mit Benzin und Diesel über die Autobahn brettern. Wie schief das gehen kann, zeigte das bekannte Versprechen Helmut Kohls von den blühenden Landschaften im Osten innerhalb weniger Jahre nach der Einheit. Vielmehr fehlt ein Konzept und auch die Ehrlichkeit, die Menschen im Land auf diesen Umbruch durch die Notwendigkeiten des Klimawandels einzustellen.
Viele Erkenntnisse liegen seit langem in den Schubladen
Da könnte das geplante Zukunftszentrum mit seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Transformationserfahrungen der Ostdeutschen einen wichtigen Beitrag leisten und Handlungsanweisungen erarbeiten. Die Zeit drängt, denn der Umbruch hat schon begonnen. Aber man muss auch nicht bei Null anfangen.
Gerade in den mitteldeutschen Universitäten wurden in den letzten Jahrzehnten viele Daten gesammelt, analysiert, diskutiert und dann wieder in die Schubladen geschoben. Fehlerdiskussionen waren noch nie Stärke der politischen Eliten. Nun muss man den entstandenen Wissensbestand endlich herausholen und auch mal ernst nehmen. Trotzdem wird ein wichtiger Bestandteil der Arbeit des Zukunftszentrums sein, die Ostdeutschen noch einmal auf die Couch zu legen und tief in ihre Seele zu schauen, sowohl die Generationen mit der DDR-Alltagserfahrung als auch die Nachgeborenen, von denen viele immer noch eine ostdeutsche und weniger gesamtdeutsche Identität verspüren.
Statt Ostalgie braucht das Zukunftszentrum gesamtdeutsche Perspektive
Trotzdem sollte das Zukunftszentrum kein Pilgerort für Ostalgiker werden. Selbst wenn der Reiz groß ist, hier nur die ostdeutsche Perspektive in den Blick zu nehmen als eine Art Wiedergutmachung für die Vernachlässigung in den letzten Jahrzehnten. Als Vorbild könnte das Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung gelten. Die Initiatoren widerstanden dem Drängen der Vertriebenen, hier allein das Leid der deutschen Vertriebenen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Mittelpunkt zu stellen und somit auch einer historischen Verklärung zu erliegen. Und dieser Gefahr sollte auch das Zukunftszentrum Deutsche Einheit nicht erliegen.
Denn der Begriff Deutsche Einheit im Namen bedeutet auch, die Sicht der Westdeutschen einzubeziehen. Besonders auch jene, die nach 1990 in die neuen Länder gingen, sollten ihre Einheitserfahrung einbringen. Was ebenfalls kaum eine Rolle spielt, dass es auch im Westen einen Umbruch für alle Regionen entlang der einstigen innerdeutschen Grenze und der Grenze zu Tschechien gab. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entfiel die Zonenrandförderung und führte dort zu einem wirtschaftlichen Aderlass.
Nicht zu vergessen: Gerade in den 90er-Jahren gab es auch in westdeutschen Industrieregionen wie Saarland und Ruhrgebiet mit dem Ausstieg aus der Steinkohle und dem Niedergang der Eisen- und Stahlindustrie einen massiven wirtschaftlichen Wandel, der oft von den Ostdeutschen ausgeblendet wird. Und auch die Europäische Perspektive ist wichtig. Denn der demokratische Umbruch jenseits des Eisernen Vorhangs nahm nicht in der DDR, sondern in Polen und Ungarn seinen Anfang. Diese Perspektive als auch die Ähnlichkeit von demokratiekritischen bis hin zu autoritären Tendenzen sollten wir auch nicht aus dem Blick lassen.
Mitteldeutschland der richtige Standort
Aus Mitteldeutschland bewerben sich fünf Städte um den Standort des Zukunftszentrums: aus Sachsen Leipzig und Plauen gemeinsam, aus Thüringen Jena und Eisenach, aus Sachsen-Anhalt Halle (Saale). Als Hallenser bin ich dabei Lokalpatriot und würde mir wünsche, dass die Wahl auf die Saalestadt fällt. Aber wie auch immer: in dieser großen Region zwischen Erzgebirge und Altmark, Oder und Werra wäre es auch richtig angesiedelt.
Hier sind durch den Niedergang der einst volkseigenen Betriebe, dem Vorgehen der Treuhand, aber auch den schwierigen Neuanfang für die Menschen und Unternehmen die Transformationserfahrungen eines gravierenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbruchs sichtbar und auch noch zu spüren. Die Lehren daraus im Zukunftszentrum aufzuarbeiten und zugänglich zu machen, wären ein guter Kompass für die gesamtdeutsche Zukunft.
Über den Autor Tim Herden, Jahrgang 1965, ist beim MDR seit 1992. Bis November 2022 war er Hauptstadtkorrespondent für MDR AKTUELL und schrieb in dieser Funktion über viele Jahre die politische Kolumne "Unter der Lupe" sowie Kommentare und Analysen über die Bundespolitik. Mittlerweile ist er Direktor des MDR-Landesfunkhauses Sachsen-Anhalt.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT - Das Radio wie wir | 19. Januar 2023 | 09:00 Uhr
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