Mögliche Lieferung an Ukraine Wie schnell könnten neue Taurus-Marschflugkörper für die Bundeswehr produziert werden?
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15. März 2024, 07:41 Uhr
Bundesregierung und Teile der Opposition ringen um eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine. Doch wie schnell könnten eigentlich Marschflugkörper nachproduziert werden? Die Industrie sagt: Die Produktionslinie steht. Doch Probleme könnte es an anderer Stelle geben.
- In dieser Woche soll der Bundestag erneut über eine mögliche Taurus-Lieferung an die Ukraine abstimmen.
- Die Bundeswehr hat rund 600 Taurus im Bestand, aber nur rund die Hälfte ist einsatzbereit.
- Sollten neue Marschflugkörper bestellt werden, würden diese wohl in zwei bis drei Jahren geliefert werden.
Seit Monaten ringen Verteidigungspolitiker und Bundesregierung um eine mögliche Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine. Diese Woche will die Union erneut einen Antrag dazu stellen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat bereits bekräftigt, dass er bei seiner ablehnenden Haltung bleibt. Dennoch wird die Diskussion wohl auch danach weitergehen – auch mit Blick auf die Taurus-Bestände der Bundeswehr.
Insgesamt 600 Marschflugkörper dieses Typs hat die Bundeswehr in ihren Beständen. Nach MDR-Informationen soll bei rund der Hälfte der Marschflugkörper inzwischen die Zertifizierung abgelaufen sein. Heißt also: Sie sind theoretisch einsatzbereit, müssten praktisch aber neu zertifiziert werden.
Das sagt auch Fabian Hoffmann, deutscher Politikwissenschaftler und Doktorand des Oslo Nuclear Project (ONP) an der Universität von Oslo. Ihm zufolge sollen im Moment nur ungefähr 300 Taurus tatsächlich einsatzbereit sein. Diese hätten bis 2018 ein sogenanntes Midlife-Upgrade bekommen, also einfache Instandhaltungsmaßnahmen und Technik-Updates, die gewährleisten sollen, dass diese Marschflugkörpersysteme auch weiterhin einsatzbereit sind. "Die anderen etwa 300 sollen im Moment mit der Industrie gelagert ohne Zertifizierung vorliegen."
Taurus: 500 Kilometer Reichweite
Der Taurus gilt als besonders wirkungsvoll, weil er Ziele in bis zu 500 Kilometer Entfernung mit einer sehr hohen Genauigkeit treffen kann – und dabei durch seinen Tiefflug nur schwer abgewehrt werden kann.
Laut dem Experten Hoffmann unterscheide sich das britische und französische System Storm Shadow/SCALP-EG nicht maßgeblich vom deutschen Taurus, weswegen die beständige Anfrage der Ukraine vor allem praktische Gründe habe. Basierend auf Schätzungen öffentlich zugänglicher Quellen, habe die Ukraine 400 bis 600 Marschflugkörper aus britischen und französischen Arsenalen bekommen, erklärt Hoffmann. "Wenn man jetzt von einer Nutzungsrate von etwa 30 bis 50 Marschflugkörper pro Monat ausgeht, was an sich schon nicht sonderlich hoch ist, kann man davon ausgehen, dass den Ukrainern bis Ende des Jahres die Marschflugkörper-Systeme ausgehen werden." Und dies würde die Effektivität der ukrainischen Kampfkraft durchaus "negativ beeinflussen", wie er schlussfolgert.
Selbst wenn Großbritannien und Frankreich der Ukraine in dieser Situation weitere Marschflugkörper geben wöllten, gehe dies für beide Länder mittlerweile nicht mehr, ohne die eigene Verteidigungsfähigkeit "massiv negativ" zu beeinflussen, wie der Forscher der Universität Oslo resümiert. Er kommt zu einem klaren Schluss: "Deutschland, und das muss man einfach so sagen, ist in Europa der letzte Staat, der ein Arsenal an Marschflugkörpern besitzt, was groß genug ist, damit man eben auch eine Lieferung in substanzieller Anzahl an die Ukraine ermöglichen könnte."
Taurus-Hersteller: Produktionslinie steht, aber Lieferkette müsste eingerichtet werden
Geliefert wurden die Taurus schon ab 2006 an die Bundeswehr – und zwar von MBDA, einer internationalen Rüstungsfirma mit Sitz unter anderem im bayrischen Schrobenhausen. Anteile an dem Unternehmen haben das europäische Luftfahrt- und Rüstungsunternehmen Airbus sowie die Rüstungsunternehmen BAE System aus Großbritannien und Leonardo aus Italien.
Sollte die Bundeswehr neue Taurus bestellen, müsste sie dies also bei MBDA in Bayern machen. Von einem Unternehmenssprecher heißt es auf Nachfrage von MDR Investigativ, man könne die Produktion kurzfristig anschieben. Die Produktionslinie am Standort stehe, allerdings müsse die Lieferkette wieder eingerichtet werden. Denn in Schrobenhausen passiert vor allem die Endmontage. "Es ist wichtig zu wissen, dass das System Taurus aus zahlreichen Komponenten und Subsystemen unterschiedlicher nationaler und internationaler Hersteller besteht", heißt es vom Unternehmen.
Bundeswehr hat Nato Bestand von tausend Stück zugesagt
Produzieren könnte das Unternehmen aus rechtlichen Gründen sowieso erst, wenn die Bundeswehr dies beauftragen würde. Der FDP-Verteidigungspolitiker und Bundestagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt, Marcus Faber, plädiert seit Monaten für eine Taurus-Lieferung an die Ukraine. "Unabhängig von einer möglichen Taurus-Lieferung an die Ukraine hat die Bundeswehr in den kommenden Jahren aber Bedarf, rund 500 neue Taurus für die eigenen Bestände zu bestellen. Denn wir haben eigentlich einen Bestand von 1.000 Stück an die Nato zugesagt", sagte Faber MDR Investigativ. Er geht davon aus, dass neue Taurus 2026/27 geliefert werden könnten.
Grundsätzlich geht auch Fabian Hoffmann davon aus, dass innerhalb der nächsten anderthalb bis zwei Jahre neue Taurus geliefert werden könnten, wenn alle Rahmenbedingungen für die Industrie stimmen. Der Taurus-Hersteller MBDA äußerte sich nicht zu konkreten Zeiträumen. Dort heißt es nur, dies hänge vom konkreten Auftrag ab.
Faber: Taurus-Anschaffungskosten wohl bei unter eine Milliarde Euro
Unklar ist auch, wie hoch die Anschaffungskosten wären. Laut Verteidigungspolitiker Faber seien diese grundsätzlich stark von der bestellten Stückzahl abhängig. "Wenn wir davon ausgehen, dass Deutschland mehrere hundert neue Taurus bestellen würde, würden die Anschaffungskosten bei deutlich unter einer Milliarde Euro liegen", schätzt Faber. Die Anschaffungskosten würden also im Vergleich zu anderen großen Rüstungsprojekten kaum ins Gewicht fallen. In jedem Fall müsste bei einer Anschaffung aber der Bundestag zustimmen.
Taurus: Union will über Lieferung abstimmen lassen
Dieser wird sich diese Woche zumindest wieder mit einer möglichen Taurus-Lieferung an die Ukraine beschäftigen. Die Unionsfraktion hat dazu einen entsprechenden Antrag eingereicht. Der Leipziger CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Lehmann, der für seine Partei im Verteidigungsausschuss sitzt, sagte dazu MDR Investigativ: "Wer Taurus nicht liefert, der bestellt keine nach. Da die Bundesregierung auch im zweiten Jahr Zeitenwende keine Ansätze zeigt, unsere Munitionsdepots ernsthaft mit Artilleriemunition oder auch mit Taurus-Marschflugkörpern aufzufüllen, sehe ich keine Wiederaufnahme der Produktion."
Die Industrie wäre bereit, sagte Lehmann, aber sie brauche das politische Signal. "Und das müsste bei zwei bis drei Jahren Produktionszeit heute statt morgen kommen, um unsere gemeldeten NATO-Forderungen zu erfüllen, die wir heute im Übrigen nicht erreichen."
Unternehmen will sich nicht zu möglichen Gesprächen äußern
Dass der Bundestag in dieser Woche eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine beschließt, ist indes sehr unwahrscheinlich – auch wenn wohl einige Mitglieder der Regierungsfraktionen dem Unionsantrag zustimmen werden. Ob es konkrete Gespräche zu möglichen Neuproduktionen von Taurus gibt, will das Unternehmen MBDA nicht sagen. Vom Unternehmenssprecher heißt es lediglich: "Generell gilt: Wir stehen im regelmäßigen Austausch mit Vertretern der Bundeswehr und Politik. Wir äußern uns nicht zu Inhalten dieser Gespräche."
Eigenständig für die Ukraine zu produzieren und zu liefern, wäre der Firma nicht erlaubt. Bei der Frage, ob die Ukraine die Marschflugkörper auch ohne direkte Hilfe von Bundeswehrangehörigen bedienen könnte, heißt es vom Unternehmen, Taurus-Exportländer wie Spanien oder Südkorea könnten die Marschflugkörper eigenständig einsetzen. "Eine Entscheidung, ob und wie Taurus in der Ukraine eingesetzt würde, liegt bei der Regierung, nicht beim Unternehmen."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 09. März 2024 | 20:08 Uhr