Interview Rente mit 63: Diskussion um Abschaffung ist Geisterdebatte
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20. Januar 2023, 05:00 Uhr
Abschaffung der Rente mit 63, längere Lebensarbeitszeit, das Rentensystem vor dem Kollaps – seit Wochen steht die Rente mal wieder zur Diskussion. Was von dieser Debatte zu halten ist, haben wir Christian Lindner, Rentenberater aus Dresden, gefragt.
Inhalt des Artikels:
- Wie sehen Sie die Debatte, die vorzeitige Altersrente mit 63 abzuschaffen?
- Wie ist es zu dieser Diskussion gekommen?
- Bestünde aus Ihrer Sicht die Notwendigkeit, an den Altersgrenzen für den Rentenbeginn etwas zu ändern?
- Wie ist aktuell die Regel? Wer darf wann in Rente gehen?
- Ab wann ist ein abschlagsfreier Renteneintritt möglich?
Herr Lindner, seit Wochen tobt mal wieder eine Rentendebatte. Angeblich soll die vorzeitige Altersrente mit 63 Jahren abgeschafft werden. Und in anderen Medien ist zu lesen, dass ohnehin das System bald wegen der demnächst in Rente gehenden Baby-Boomer-Generation nicht mehr funktionieren wird. Wie sehen Sie die Lage?
Christian Lindner: Ich halte die ganze Diskussion für eine Gespenster-Diskussion. Aktuell hat niemand die Absicht die Rente mit 63 abzuschaffen. Im Koalitionsvertrag steht kein Wort dazu.
Wie ist es dann zu dieser Diskussion gekommen?
Christian Lindner: Anfang Dezember 2022 hat Bundeskanzler Scholz in einem längeren Gespräch mit der Funke-Mediengruppe zum Thema Fachkräftemangel und Fachkräfteeinwanderung beiläufig geäußert, er halte es für erstrebenswert, den Anteil der Menschen, die bis zur regulären Altersgrenze arbeiten, zu steigern. Aus dieser Äußerung macht die "Bild"-Zeitung die verwegene Behauptung, Scholz wolle die vorzeitige Altersrente mit 63 Jahren abschaffen. Nichts dergleichen hat Scholz gesagt, dennoch schafft es die Erfindung von "Bild" in die Schlagzeilen der meisten Medien und sorgt für maximale Verunsicherung, insbesondere unter den Versicherten der rentennahen Jahrgänge.
Bestünde denn aus Ihrer Sicht überhaupt die Notwendigkeit, an den Altersgrenzen für den Rentenbeginn etwas zu ändern?
Christian Lindner: Derzeit vertreten so gut wie keine seriösen und ernstzunehmenden SozialpolitikerInnen die Forderung nach einer Abschaffung der vorzeitigen Altersrenten. Dazu besteht aktuell auch keine Notwendigkeit. Einerseits ist 2020 und 2021 die Lebenserwartung in Deutschland gesunken – und damit auch die Rentenlaufzeit. Andererseits sind wir noch mittendrin in einem laufenden Prozess der Altersgrenzenanhebung. Dieser wird 2031 mit der neuen Altersgrenze von 67 Jahren erreicht sein. Für die abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte wird die Anhebung der Altersgrenze auf künftig 65 Jahre schon 2029 abgeschlossen sein.
Wie ist denn überhaupt aktuell die Regel? Gibt es die Rente mit 63 überhaupt? Und wer darf wann in Rente gehen?
Christian Lindner: Der Eintritt in die Altersrente für langjährig Versicherte ist mit 63 Jahren möglich, wenn Versicherte eine Wartezeit (Mindestversicherungszeit) von 35 Jahren erreichen. Hierfür werden alle rentenrechtlichen Zeiten angerechnet, also nicht nur Beitragszeiten, sondern zum Beispiel auch Schul- und Studienzeiten ab Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu einer Höchstdauer von acht Jahren. Diese Rente mit 63 gibt es ausnahmslos nur mit Abschlägen. Bei den aktuell das 63. Lebensjahr vollendenden Versicherten des Geburtsjahrgangs 1960 beträgt der Abschlag zwölf Prozent. Geringer ist der Abschlag bei schwerbehinderten Versicherten. Für sie ist auch ein etwas früherer Altersrenteneintritt möglich.
Ab wann ist ein abschlagsfreier Renteneintritt möglich?
Christian Lindner: Die abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte kann beziehen, wer eine Wartezeit von 45 Jahren erfüllt hat. Das ist eine große Hürde, denn es werden nicht nur zehn Jahre mehr verlangt, als bei der Altersrente für langjährig Versicherte, es zählen auch weniger rentenrechtliche Zeiten mit. Angerechnet werden nur Pflichtbeitragszeiten, Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung und Pflege, Anrechnungszeiten wegen Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit (aber nur bei Bezug von Krankengeld oder Arbeitslosengeld) sowie freiwillige Beitragszeiten (wenn mindestens 18 Jahre mit Pflichtbeitragszeiten vorliegen).
Was wird nicht angerechnet?
Christian Lindner: Ausgeschlossen bleiben Zeiten des Bezugs von Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld II, aber auch Schul- und Studienzeiten. Das führt dazu, dass zum Beispiel Versicherte, die ein Direktstudium absolviert haben, oft keine Chance haben, diese lange Wartezeit zu erfüllen. Die Altersgrenze liegt für Versicherte ab Geburtsjahr 1964 bei 65 Jahren. Für ältere Versicherte gilt eine abgestufte Regelung.
Geburtsjahr | Altersgrenze |
---|---|
1958 | 64 Jahre |
1959 | 64 Jahre und 2 Monate |
1960 | 64 Jahre und 4 Monate |
1961 | 64 Jahre und 6 Monate |
1962 | 64 Jahre und 8 Monate |
1963 | 64 Jahre und 10 Monate |
Zusammengefasst heißt das also, ich kann mit 63 in Rente gehen, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen und immer mit Abschlägen. Und nach 45 Jahren quasi nur, wenn ich 45 Jahre Beiträge gezahlt habe?
Christian Lindner: Ja, so in etwa ist die Faustformel. Und wie gesagt, wer ein Direktstudium absolviert hat, kommt in der Regel nicht auf diese Beitragszeit. Anders ist es bei Zeiten der betrieblichen Ausbildung, die zählt, ebenso wie die Berufsausbildung mit Abitur, bei den 45 Jahren mit.
Gehen denn die Leute überhaupt so früh in Rente?
Christian Lindner: Fakt ist, dass das tatsächliche Renteneintrittsalter in den letzten 20 Jahren deutlich angestiegen ist – von 62 auf etwa 64 Jahre. Entsprechend gestiegen ist die Erwerbsbeteiligung der 60- bis 64-Jährigen: Die hat sich in den letzten 20 Jahren etwa verdreifacht. Es besteht also keinerlei Anlass zu rentenpolitischen Schnellschüssen!
Wenn das tatsächliche Renteneintrittsalter 64 ist, dann heißt das ja schon, dass die Mehrheit eben nicht bis zur regulären Altersgrenze arbeitet, sondern früher in Rente geht. Sollte da nicht mit Blick auf den Fachkräftemangel auch nicht dafür gesorgt werden, dass ältere Arbeitnehmer länger arbeiten?
Christian Lindner: Das Ausscheiden von vorzeitigen Altersrentnerinnen und -rentnern aus dem Erwerbsleben war in der Vergangenheit oftmals Folge der strengen Hinzuverdienstgrenzen. Bis Ende 2019 war ein ungekürzter Rentenbezug vor Erreichen der Regelaltersgrenze nur möglich, wenn der Jahresverdienst 6.300,00 Euro nicht überschritten hat. Mehr als ein Minijob war da neben der Rente nicht drin. Als coronabedingte Sonderregelung wurde ab 2020 die Hinzuverdienstgrenze massiv erhöht, erst auf 44.590,00 Euro, später sogar auf 46.060,00 Euro befristet bis Ende 2022. Zunächst war vorgesehen, die Geltung dieser hohen Hinzuverdienstgrenze unbefristet zu verlängern. Letztlich hat sich der Gesetzgeber aber dazu entschlossen, die Hinzuverdienstgrenze für Altersrenten komplett abzuschaffen.
Das heißt was?
Christian Lindner: Seit 2023 können damit vorzeitige Altersrenten und Erwerbseinkommen in unbeschränkter Höhe nebeneinander her bezogen werden, was die Möglichkeit eröffnet, für eine gewisse Zeit ein doppeltes Einkommen zu erzielen. Der Eintritt in die Rente ist nun nicht mehr an das weitgehende Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gekoppelt. Das ist erfreulich für viele Versicherte, aber auch für die Unternehmen, denen nun erfahrene Arbeitskräfte länger zur Verfügung stehen. Und ein Stück weit freut sich noch ein anderer mit: der Finanzminister. Denn dem beschert der steuerpflichtige Teil der Rente zusätzliche Einnahmen.
Zur Person Christian Lindner
Der Diplom Verwaltungswirt studierte von 1985 bis 1988 an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Sozialversicherung bei der damaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) und war danach von 1988 bis 2001 hauptberuflich in der gesetzlichen Unfallversicherung tätig.
Schon seit 1990 arbeitete er nebenberuflich als Rentenberater und übt diese Tätigkeit seit 2002 hauptberuflich aus.
Neben rechtsberatender Tätigkeit zur gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung gehören umfangreiche Lehrtätigkeit im Sozialversicherungsrecht (mit Schwerpunkt Renten- und Unfallversicherung) für öffentliche und private Einrichtungen (z. B. Berufsakademie Dresden, Verwaltungs- und Wirtschaftsakademien Leipzig und Dresden, Institut Arbeit und Gesundheit Dresden der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, Akademie für Weiterbildung Dresden, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Volkshochschule) und publizistische Tätigkeit in der Fach- und Tagespresse zu seinem Tätigkeitsfeld.
Christian Lindner ist Mitglied im Bundesverband der Rentenberater e. V.
Das Interview führte Frank Frenzel.
MDR (cbr)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 10. Januar 2023 | 10:00 Uhr