Eine über 90-jährige Dame nimmt eine mit Medikamenten gefüllte Tablettenbox mit Fächern für die Tageszeiten morgens, mittags, abends und nachts aus einem Wochendispenser.
Viele Bewohner von Pflegeheimen bekommen mehrmals täglich Medikamente. Jeder Partient hat dabei seinen persönlichen Vorrat, der im Todesfall zumeist vernichtet wird. Bildrechte: picture alliance/dpa | Matthias Balk

Arzneimittel im Müll Rest-Medikamente aus Pflegeheimen kein Mittel gegen Lieferengpässe

06. August 2024, 08:23 Uhr

Stirbt ein Mensch im Pflegeheim, landen seine Medikamente meist im Müll. Ärztevertreter ärgert diese Verschwendung in Zeiten von Lieferengpässen für Arzneien. Doch die Rechtslage ist kompliziert und kaum zu ändern. Apotheker sind sich zudem sicher, dass die Restbestände kaum einen Beitrag gegen Lieferengpässe leisten können.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Alexander Laboda
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

Diana Jeschky schmeißt regelmäßig Medikamente in den Müll. Die gesetzlichen Regelungen lassen der Wohnbereichsleiterin im Vamed Senioren- und Pflegeheim in Borna keine andere Wahl. Stirbt ein Bewohner des Heims, dürfen die übrig gebliebenen Medikamente nicht an andere Bewohner ausgegeben werden. Arzneimittel gehören fest zu einer Person und im Todesfall rechtlich zum Erbe. "Es ist Verschwendung, aber wir müssen uns an Vorschriften halten", fasst Jeschky das Dilemma zusammen.

Depot für Bedarfsmedikamente

Das Wegwerfen von Arzneimitteln ärgert auch Ärztinnen und Ärzte. Thomas Dörrer, Vizepräsident der Ärztekammer Sachsen-Anhalt, sagt: "Es gibt unheimlich viele Patienten, gerade im Pflegeheim, die nehmen bedarfsweise ein bestimmtes Schmerzmittel. Und dieses Mittel muss 30 Mal vorliegen, weil es um 30 Menschen geht." Für diese Bedarfsmedikamente – klassischerweise geht es etwa um Mittel bei Fieber, Angstzuständen oder zur Blutdruckregulation – schlägt Dörrer eine Depotlösung vor. Aus diesem Depot würden dann alle Bewohnerinnen und Bewohner versorgt.

Erik Bodendieck, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, stimmt seinem Kollegen zu. Aufgrund von Lieferengpässen bei manchen Arzneien müssten Patienten aus Pflegeheimen bei einem Notfall teilweise ins Krankenhaus eingewiesen werden, weil Medikamente nicht schnell genug verfügbar sind. Und zugleich werden eben manche Medikamente weggeworfen. Auch er befürwortet eine Depotlösung: "Aus meiner Sicht wäre es die einfachste Lösung, wenn Apotheken, die Pflegheime betreuen, Depots anlegen." Allerdings gäbe es viele rechtliche Hürden bei einer solchen Lösung.

Bruch mit Apothekenmonopol

Die zahlreichen praktischen und rechtlichen Probleme betonen auch Apothekerinnen und Apotheker aus Mitteldeutschland. Kathrin Quellmalz vom Sächsischen Apothekerverband sagte im Gespräch mit MDR AKTUELL: "Bei der Depotlösung würde die fachkundige pharmazeutische Beratung durch die Apotheken außen vor bleiben, die eine wichtige Voraussetzung für die Arzneimitteltherapiesicherheit sind." Konkret geht es etwa um die Kontrolle von Wechselwirkungen oder Hinweise zur Einnahme. In Deutschland dürfen aufgrund ihrer besonderen Expertise in diesem Bereich ausschließlich Apotheken Medikamente ausgeben. Dass nun Pflegekräfte in Absprache mit den Ärzten Medikamente austeilen, würde damit brechen.

Doch könnten die Apotheken die Medikamente nicht einfach zurücknehmen und dann erneut ausgeben? Bei dieser Lösung werden die Schwierigkeiten noch komplexer. Denn die Rücknahme von Medikamenten ist in Deutschland schlicht nicht vorgesehen. Ein Medikament wird auf Rezept nur einmalig an eine Person ausgegeben und von dessen Krankenkasse bezahlt. Es existiert kein Prozedere, wie zurückgegebene Medikamente mit der Krankenkasse eines anderen Patienten neu abgerechnet werden können.

Schwierige Haftungsfragen

Selbst wenn dies geändert würde, bliebe die schwierige Frage der Haftung. Anna Lihs betreibt drei Apotheken in Erfurt und beliefert vier Pflegeheime. Sie erklärt: "Wir können bei Medikamenten, die wir aus Heimen oder aus Privathaushalten bekommen, nicht garantieren, dass diese Arzneimittel noch im erforderlichen Zustand sind." Viele Medikamente seien zum Beispiel sehr empfindlich bei Temperaturschwankungen. Ob das Medikament durchgängig richtig gelagert wurde, ließe sich nicht kontrollieren.

Apothekerin Lihs sieht insgesamt kaum Möglichkeiten, wie das Problem abschließend gelöst werden könnte. "Mir blutet oft das Herz. Der normale Menschenverstand würde bei vielen Medikamenten sagen, dass man die durchaus noch verwenden kann. Aber wir haben die strengen Regeln vor allem zum Schutz der Patienten." Es sei allenfalls in Einzelfällen denkbar, Medikamente doch noch weiter zu nutzen. Das ginge aber nur bei bestimmten Arzneien und wenn die Lagerung gut dokumentiert sei.

Kein Mittel gegen Engpässe

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Bildrechte: MDR/Stephan Flad

Die Vertreterinnen der Apothekenverbände sind sich indes einig, dass die übrig gebliebenen Arzneimittel aus Pflegeheimen und Hospizen keinen entscheidenden Beitrag gegen Lieferengpässe bei Medikamenten leisten können. Dazu fallen dort insgesamt zu wenige Medikamente an und die Schnittmenge mit raren Präparaten ist klein. Apothekerin Lihs sagt: "Das sind nur einzelne Medikamente, die da infrage kommen würden. Wir sind da in einem Bereich, wo es dann noch alternative Präparate von anderen Herstellern gibt. Wir kommen nicht in eine Situation, wo wir deswegen andere Patienten nicht versorgen können."

Das für Lieferengpässe zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte betont auf Anfrage von MDR AKTUELL ebenfalls, dass die Versorgung in Deutschland insgesamt stabil sei. Zwar stehen in der Datenbank des Instituts momentan Lieferengpässe für über 400 Arzneimittel. Sprecher Maik Pommer sagt jedoch: "Wir haben nur in sehr seltenen Einzelfällen einen tatsächlichen Versorgungsengpass. Seit 2019 ist das lediglich elf Mal vorgekommen – bei über 100.000 zugelassenen Medikamenten in Deutschland."

Lieferengpass oder Versorgungsmangel? Ein Lieferengpass ist eine über voraussichtlich zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer Auslieferung im üblichen Umfang oder eine deutlich vermehrte Nachfrage, der nicht angemessen nachgekommen werden kann.

Ein Lieferengpass muss nicht gleichzeitig ein Versorgungsengpass sein, da oftmals alternative Arzneimittel zur Verfügung stehen, durch die die Versorgung der Patientinnen und Patienten weiter sichergestellt werden kann.

Beim Versorgungsmangel ist dies nicht mehr unbedingt gegeben. In diesem Fall treten verschiedene Ausnahmeregelungen inkraft, zum Beispiel für den erleichterten Import des Medikaments aus dem Ausland. BfArM

GKV: Bedarfsgerechte Verschreibungsmengen

Auch wenn mutmaßlich keine Mangel-Medikamente in den Müll geworfen werden, bleiben noch die Aspekte Umweltschutz und Wirtschaftlichkeit. Immerhin bezahlen die Krankenkassen mit den Geldern der Beitragszahler letztlich für Medikamente, die dann in der Abfallverwertung landen. Der Spitzenverband der Krankenkassen (GKV) erklärt auf Nachfrage von MDR AKTUELL jedoch ebenfalls lediglich die geltende Rechtslage, an der "umfangreiche gesetzliche Anpassungen vorgenommen" werden müssten.

Außerdem verweist der Verband auf ein Grundsatzpapier für mehr Nachhaltigkeit. Darin heißt es: "Um den Verwurf von Arzneimitteln zu minimieren, sollten gesetzliche Regelungen zu Packungsgrößen so überarbeitet werden, dass diese dem tatsächlichen Bedarf entsprechen, und Aufbrauchfristen evidenzbasiert auf die maximal vertretbare Zeitspanne festgelegt werden." Patientinnen und Patienten sollen darüber hinaus "auf die korrekte Entsorgung von Arzneimitteln hingewiesen werden."

Letzteres ist schnell geschehen. Arzneimittel und Medikamente gehören keinesfalls zur Entsorgung in die Toilette oder Spüle. Denn so gelangen die Wirkstoffe der Medikamente ins Abwasser. Alte oder nicht mehr benötigte Medikamente können vielmehr in der Regel im Hausmüll entsorgt werden, heißt es auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums. Viele Apotheken nehmen die Restbestände zudem kostenlos an. Die Entsorgung liegt rechtlich allerdings bei den Kommunen. Eine Übersicht nach Kreisen und Städten gibt es unter arzneimittelentsorgung.de.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 01. August 2024 | 21:45 Uhr

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