Ampel-Aus Scholz hat der Wirklichkeit zu spät ins Auge gesehen
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07. November 2024, 14:29 Uhr
Den Finanzminister entlassen, damit die Koalition auf Steilvorlage der FDP aufgelöst und Neuwahlen angekündigt: In seiner Rede am Mittwochabend trat Olaf Scholz so entschlossen auf, wie sich viele einen Kanzler vorstellen. Doch hätte er die Realität schon früher anerkennen müssen, meint Christin Bohmann, Redaktionsleiterin von MDR AKTUELL Online.
- Die Entscheidung von Olaf Scholz, Finanzminister Lindner zu entlassen, zeigt, wie tief die Risse innerhalb der Ampel-Koalition gewesen sein müssen.
- Die Führungsstärke, die Scholz beim Beenden der Koalition gezeigt hat, kam zu spät.
- SPD steht nun ein schwieriger, riskanter Wahlkampf ins Haus.
"Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit." Das waren die Worte von Bundeskanzler Olaf Scholz, mit denen er in einer bemerkenswerten – und offenbar gut vorbereiteten – Rede der seit Langem sterbenden Koalition aus SPD, Grünen und FDP den Atem aushauchte.
Ampel war dem Ende geweiht
In Zeiten globaler Unsicherheit, untermauert durch den erneuten Wahlsieg Donald Trumps in den USA, gingen viele hierzulande davon aus, dass Kontinuität und Stabilität in der deutschen Politik von größter Bedeutung sind. Doch das Gegenteil ist offensichtlich der Fall. Scholz' Entscheidung, den Bundesfinanzminister zu entlassen und den Koalitionspartner FDP öffentlich des Vertrauensbruchs zu bezichtigen, war der letzte Beweis für die tiefen Risse innerhalb der Regierung, die nicht mehr zu kitten waren.
Bundeskanzler Olaf Scholz inszeniert mit der Auflösung der Ampelkoalition eine Führungsstärke, die viele in den vergangenen Monaten stark vermissten. Scholz wurden zurecht Zögerlichkeit und mangelnde Durchsetzungskraft vorgeworfen, insbesondere angesichts der Herausforderungen, die die wirtschaftliche Lage Deutschlands, die Klimakrise und die geopolitischen Spannungen mit sich bringen.
Nun jedoch, da Scholz die Koalition beerdigt und die Regierungskrise offen angeht, positioniert er sich als ein Kanzler, der bereit ist, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen, um das Wohl des Landes in den Vordergrund zu stellen. Dahinter steht politisches Kalkül, und das ist verbunden mit einem immensen Risiko sich zu verzocken. Denn diese vermeintliche Führungsstärke kommt nach Wochen und Monaten des Streits zu spät. Und sie kommt zu einem Zeitpunkt, in der die politischen Ränder so stark sind wie kaum zuvor.
Insbesondere in Sachsen und Thüringen, wo die SPD bei den Landtagswahlen 7,3 beziehungsweise 6,1 Prozent der Stimmen holte, ist das aberwitzig. Schon hier hätte Scholz den Blick auf die Wirklichkeit richten müssen.
Schwierige Aussichten für die SPD
Im Bund auf Neuwahlen zu setzen, bei denen nach aktuellen Meinungsumfragen selbst eine Große Koalition kaum auf 50 Prozent der Stimmen kommen dürfte, kann für die SPD kein Silberstreif am Horizont sein.
Dennoch: Indem Olaf Scholz den Oppositionsführer Friedrich Merz auffordert, bei wichtigen Gesetzesvorhaben mitzuwirken, schaltet er bereits in den Wahlkampfmodus. Dieses Angebot an Merz ist auch ein taktisches Manöver, um die Union in die Pflicht zu nehmen. Es setzt die Opposition unter Druck, Stellung zu beziehen und entweder konstruktiv mitzuwirken oder sich dem Vorwurf der Verweigerungshaltung auszusetzen. Und es lenkt ab von den eigentlichen Verfehlungen der Ampelkoalition, deren egozentrische Streitigkeiten jede politische Leistung in den Schatten stellte.
Jetzt kommt es darauf an, wie diese Entscheidung von der Bevölkerung und den politischen Gegnern aufgenommen wird und welche Konsequenzen sie für die zukünftige politische Landschaft Deutschlands haben wird. Doch in einem Punkt hat Scholz recht: Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Er täte gut daran, ebenfalls genau hinzuschauen.
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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 07. November 2024 | 17:35 Uhr