Befindet sich Deutschland in einem "hybriden Kriegszustand"? Eine TikTok-Creatorin behauptet das auf ihrem Account "patient.deutschland".
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TikTok-Clip im Check Befindet sich Deutschland in einer hybriden Kriegsphase?

18. August 2024, 05:00 Uhr

In einem Video auf einem TikTok-Kanal namens "patient.deutschland" behauptet eine Influencerin, dass Deutschland sich in einem "hybriden Kriegszustand" befinde. Was sie genau damit meint, erklärt sie nicht. Aber die Recherche zeigt: die Influencerin hat nicht ganz Unrecht. Das hat mit sogenannten "hybriden Bedrohungen" zu tun.

Der Kanal "patient-deutschland" hat auf TikTok mehr als 47.000 Follower. Die Creatorin präsentiert sich auch selbst vor der Kamera und veröffentlicht etwa Videos, in denen Sie sich über Feminismus lustig macht, Rassismus verbreitet oder verkürzte und aus dem Kontext gerissene Clips kommentiert.

Ein Video mit dem Titel "Wir befinden uns in einer hybriden Kriegsphase" ist versehen mit der beunruhigenden Caption "Das krasseste Interview vom Generalleutnant der Bundeswehr! Warum sind unsere Truppen an der NATO-Ostflanke? 😳👀 Schaut jetzt!"

Es suggeriert, dass Deutschland sich in einer hybriden Kriegsphase befinde. Was genau das bedeutet, erfahren wir im Video nicht.

Ein Screenshot von einem TikTok Video des Kanals "Patient.Deutschland"
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In das Video selbst steigt die Creatorin ein mit dem Satz "Eins der krassesten Interviews, was ich je gesehen habe, was mich wirklich schlecht schlafen hat lassen". Was dann folgt ist ein Ausschnitt aus einem anderen Video. Darin zu sehen ist Generalleutnant André Bodemann, Befehlshaber Territoriales Führungskommando der Bundeswehr. Die Creatorin gibt nur Teile des Interviews wieder, in denen Bodemann unter anderem davon spricht, dass wesentliche Teile der Bundeswehr sich bereits an der Nato-Ostflanke befinden würden oder auf dem Weg dorthin seien. Die Creatorin fragt, wie das sein kann, Deutschland befinde sich schließlich im Frieden, oder? Was folgt ist wieder ein Ausschnitt aus dem Interview mit Bodemann, nach dessen Auffassung Deutschland täglich hybriden Bedrohungen ausgesetzt sei. Bedeutet das, wie von der Creatorin unterstellt, Deutschland befindet sich im "hybriden Kriegszustand"?

Aussage wird ohne Kontext verbreitet

Eine kurze Recherche zeigt: Die zitierten Passagen des Generalleutnants stammen aus einem etwa 15-minütigen Interview mit ntv. Darin stellt der Bundeswehrvertreter den "Operationsplan Deutschland" vor. Ein Plan, den er im Auftrag der Bundeswehr erstellt hat. Dieser regelt, was konkret im Land zu tun ist, sollte es zu einem Krisen- und Konfliktfall kommen. Die von ihm beschriebene Situation, in der wesentliche Teile der Bundeswehr sich an der Nato-Ostflanke befinden, ist Teil eines fiktiven Szenarios. Darauf gibt die TikTok-Creatorin allerdings in ihrem Video keinen Hinweis.

In den Kommentaren unter dem Video von "patient.deutschland" wird der fehlende Kontext zum Teil bemerkt und kritisiert. Andere Userinnen und User fordern, dass Deutschland endlich aufwachen müsse und schreiben etwa, dass die Politik hierzulande fremdgesteuert sei.

Überspitzt aber wahr: Deutschland ist hybriden Bedrohungen ausgesetzt

Der zweite Teil des TikTok-Video ist zwar überspitzt und im Wording falsch dargestellt, stimmt im Kern aber tatsächlich: Deutschland ist hybriden Bedrohungen ausgesetzt. Wieder wird Generalleutnant André Bodemann zitiert: "Wir befinden uns nicht im Krieg, formaljuristisch. Aber wir befinden uns nach meiner Auffassung schon lange nicht mehr im Frieden, weil wir täglich angegriffen werden." Weiter führt er aus, dass die Angriffe aus sogenannten hybriden Bedrohungen bestehen. Auf Nachfrage von MDR AKTUELL bestätigt ein Sprecher des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr diese Aussage. Es gebe eine konkrete Bedrohung durch hybride Angriffe. Was genau mit diesem Begriff gemeint ist, bleibt im Video der Creatorin offen.

Wir befinden uns nicht im Krieg, formaljuristisch. Aber wir befinden uns nach meiner Auffassung schon lange nicht mehr im Frieden, weil wir täglich angegriffen werden.

André Bodemann, Befehlshaber Territoriales Führungskommando der Bundeswehr ntv

Was genau sind hybride Bedrohungen?

Auf Nachfrage von MDR AKTUELL erklärte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums: "Hybride Bedrohungen bezeichnen verschiedene Formen illegitimer Einflussnahme auf Staaten durch fremde Staaten oder staatlich gesteuerte Akteure. Aktivitäten finden unterhalb der Schwelle bewaffneter Auseinandersetzungen statt." Konkret gibt es demnach vier Arten von hybriden Bedrohungen:

1. Desinformationen und Fake News

Desinformationen und Fake News sind wir in Deutschland laut eines Sprechers des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr täglich ausgesetzt. Zum Beispiel in den Sozialen Medien. Faktenchecks können dabei helfen, Informationen einzuordnen.

2. Cyber Angriffe und Spionage

Cyber-Angriffe sind Angriffe auf die IT-Infrastruktur von Bundesbehörden, Politik und Wirtschaftsunternehmen. Schon seit 2005 gibt es solche zielgerichteten Angriff auf Institutionen. Ziel der Angreifer ist es, laut Bundesnachrichtendienst, IT-Netzwerke zu unterwandern oder zu beschädigen.

Spionage gibt es aber auch außerhalb des digitalen Raums. Wie ein Bundeswehrsprecher MDR AKTUELL mitteilt, gibt es immer wieder Vorfälle: "Wir haben eine starke Steigerung bei Drohnensichtungen über Militäreinrichtungen, aber auch Ausspähversuche durch Fahrzeuge von russischen Konsulaten, die sich teilweise sogar auf Truppenübungsplätzen bewegt haben. Ein russisches Spionageschiff, das für eine Passage in der Ostsee Monate braucht statt zehn Tage."

3. Wirtschaftliche Einflussnahme

Dieser Aspekt beschreibt den Versuch, durch gezielte, systematische Investitionen Einfluss zu erzielen. Zum Beispiel durch Investitionen in Schlüsselindustrien.

4. Sabotage

Zum Beispiel Sabotage von kritischen Infrastrukturen wie etwa die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines und Einflussnahme auf freie Wahlen.

Auch die Einflussnahme auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen in einem Land zählt laut Bundesnachrichtendienst als hybride Bedrohung. Das können bspw. ethnische oder religiöse Minderheiten, politische Parteien oder radikale Gruppierungen sein. Außerdem besteht eine Gefahr durch sogenannte Deepfakes in Form von manipulierten Bild- Video- oder Tonaufnahmen. Ziel von hybriden Angriffen ist es, die Demokratie in einem Land zu schwächen und zu destabilisieren.

gestaltete Collage 21 min
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Kein Krieg - aber Angriffe gibt es

Wie Generalleutnant Bodemann sagt, "formaljuristisch" befinden wir uns nicht im Krieg. Deutschland sei jedoch täglich Angriffen in hybrider Form ausgesetzt und befinde sich seiner Auffassung nach schon lange nicht mehr im Frieden. Seine Einschätzung teilt das Bundesverteidigungsministerium, wie ein Sprecher auf Anfrage von MDR AKTUELL bestätigt.

Stefan Kroll ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Leibniz Institut für Friedens- und Konfliktforschung. Er schreibt MDR AKTUELL, dass die TikTok-Creatorin den Kriegsbegriff überspitzt darstellt: "Der Begriff 'Krieg' verweist neben seinem Verständnis im Alltagsgebrauch, von dem hier auszugehen ist, auch auf einen Rechtszustand, in dem Deutschland sich allerdings nicht befindet." Er teilt allerdings die Meinung des Generalleutnants Bodemann, dass Deutschland sich aufgrund von hybriden Bedrohungen nicht mehr im Frieden befinde.

Richtig ist aber, dass Deutschland sogenannten hybriden Bedrohungen ausgesetzt ist und es ist wichtig, dass hierauf auch in den Medien hingewiesen wird.

Stefan Kroll, Leibniz Institut für Friedens- und Konfliktforschung

TikTok-Algorithmus lebt von Zuspitzung und Übertreibung

In der populistischen Rhetorik ist das Schüren von einem Gefühl der Bedrohung ein wirksames Mittel. Indem die Betreiberin des Kanals "patient.deutschland" aus dem Kontext gerissene Zitate verwendet und die Aussage "Wir befinden uns in einer hybriden Kriegsphase" nicht weiter erklärt, entsteht ein falscher und bedrohlicher Eindruck. Dabei hat sie einen Punkt: Denn hybriden Bedrohungen ist das Land tatsächlich ausgesetzt. Die Verbreitung von Falschinformationen, auch in Form von verkürzten Aussagen, ist aber Teil des Problems. Denn so wird Angst geschürt – und gleichzeitig suggeriert, eine Elite aus Politik und Armee führe im Geheimen einen offenen Krieg an der Nato-Ostflanke, ohne das Volk darüber zu informieren.

Das Video zu Deutschland in einem hybriden Kriegszustand hatte innerhalb von einer Woche (Stand: 11.07.24) knapp 319.900 Aufrufe, etwa 12.100 Likes und wurde mehr als 1.500 Mal kommentiert. Die Creatorin hat insgesamt mehr als 47.000 Follower und mit hunderten Videos insgesamt mehr als 857.500 Likes gesammelt.

Nach der Recherche von MDR AKTUELL in Zusammenarbeit mit dem Funk-Format Fakecheck hat die Creatorin das Video gelöscht. Auf Anfrage schreibt sie, dass ihr die Unterscheidung zum tatsächlichen Kriegszustand klar war. Überspitzt finde sie ihre Aussagen im Video nicht. Aber sie sagt auch: Sie hätte darauf hinweisen sollen, dass es beim Operationsplan Deutschland um ein fiktives Szenario geht. Deshalb habe sie das Video gelöscht. 

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