ÖPNV Blinde fordern bessere Barrierefreiheit in Bus und Bahn
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13. Januar 2024, 11:47 Uhr
Eigentlich soll der öffentliche Nahverkehr bereits seit 2022 barrierefrei sein. So sieht es das Personenbeförderungsgesetz vor. Doch blinde und sehbehinderte Menschen stoßen oft schon bei der Routenplanung auf Probleme. An Haltestellen bräuchte es dringend barrierefreie Informationssysteme, fordert der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband.
- Akustische Ansagen an Haltestellen sind nicht vorgesehen.
- Schwierigkeiten beginnen oft schon bei der digitalen Routenplanung.
- Blinden- und Sehbehindertenverband fordert einheitliches Vorgehen bei Barrierefreiheit.
"Hier wäre es ganz toll, wenn ich über die Akustik alles erfragen könnte", sagt Şeniz. An einer Erfurter Haltestelle greift sie an die Säule, an der oben eine digitale Anzeige über die nächsten Straßenbahnverbindungen informiert. Mit elf Jahren trat bei Şeniz die juvenile Makuladegeneration auf. Auf dem rechten Auge hat sie noch fünf Prozent Sehvermögen, auf dem linken zehn Prozent. Sehr große und kontrastreiche Schrift kann sie lesen – die digitalen Anzeigen an den Fahrzeugen und an den Haltestellen helfen ihr aber nicht weiter.
Wenn sie an einer Haltestelle auf die Straßenbahn wartet, erfährt sie erst beim Öffnen der Fahrzeugtüren durch die Ansage in der Bahn, was da gleich weiterfährt und wohin. Schon oft sei sie deshalb in die falsche Bahn eingestiegen, sagt sie lachend. Von ihren unzähligen Irrfahrten erzählt die 47-jährige Physiotherapeutin zwar mit Humor. Doch tatsächlich muss sie deutlich mehr Zeit einplanen, wenn sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist. Und diese nutzt sie häufig: für den Weg zur Arbeit, im Urlaub oder auf dem Heimweg vom Sportkurs, wie an diesem Vormittag.
Rollstuhlgerecht ist noch nicht barrierefrei
Den Erfurter Verkehrsbetrieben (EVAG) zufolge sind 95 Prozent der Straßenbahnhaltestellen barrierefrei. Bei den Bushaltestellen seien es etwa 51 Prozent, erklärt Pressesprecherin Anja Kümpfel. Auch in diesem Jahr soll der Ausbau weiter vorangehen. Kümpfel verweist unter anderem auf die Haltestelle Domplatz Süd: "Die muss barrierefrei ausgebaut werden." Geplant seien etwa ein Blindenleitsystem und ein entsprechendes Einstiegsfeld.
Akustische Fahrgastinformationen an den Haltestellen seien aber nicht geplant. Kümpfel verweist auf die Ansagen in den Fahrzeugen, die beim Öffnen der Türen darüber informieren, welche Linie gerade da ist und in welche Richtung es geht.
Dabei wäre eine frühzeitige akustische Information über die nächsten Verbindungen schon an den Haltestellen unbedingt notwendig, betont Christiane Möller. Sie ist stellvertretende Geschäftsführerin beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband und verweist auf das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz und die jeweiligen Landesregelungen. Dort sei das sogenannte Mehr-Sinne-Prinzip festgehalten. "Das heißt eben auch, dass die Fahrgastinformation nicht nur optisch, sondern auch akustisch wiedergegeben werden muss", erklärt Möller.
Doch die Informationsbarrieren, die blinde und sehbehinderte Menschen besonders häufig beträfen, "die werden ganz häufig noch nicht mitgesehen", kritisiert sie. Wenn im Nahverkehr von Barrierefreiheit gesprochen werde, heiße das oft, dass ein Fahrzeug einen rollstuhlgerechten Zugang habe. "Aber das ist ja eben nicht alles."
Schwierigkeiten beginnen oft schon bei Routenplanung
Insgesamt macht Möller drei Bereiche aus, in denen blinde und sehbehinderte Menschen bei öffentlichen Verkehrsmitteln auf Probleme stoßen können: Das reiche von den Fahrzeugen selbst über die Haltestellen bis hin zu digitalen Angeboten, um beispielsweise eine Route zu planen. Damit hat auch die 65-jährige Lisa in Leipzig immer wieder Probleme. Die Rentnerin beugt sich über ihr Handy und zeigt, wie die Verbindungssuche in der LeipzigMove-App für sie zur Geduldsprobe wird.
"Jetzt müsste er doch irgendwie eine Auswahl anzeigen", murmelt sie, während eine automatische Stimme regelrecht ein Feuerwerk an Möglichkeiten vorsagt: "Einfügemarke, Start auswählen. Einfügemarke am Ende. Mein Standort. Taste. Start auswählen. Textfeld." Lisa ist sichtlich verloren: "Da kann man verzweifeln dabei."
LVB-Pressesprecher Marc Backhaus kann nicht nachvollziehen, dass es Probleme mit der LeipzigMove-App geben soll. Bei jedem Update nehme man Kontakt mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband auf und hole Feedback von Nutzerinnen und Nutzern ein. "Das ist ein gelebter Prozess und das können Sie mit Frau Mertens auch noch einmal besprechen", sagt er.
Christiane Mertens ist Vorsitzende in der Leipziger Kreisorganisation des Blinden- und Sehbehindertenverbands Sachsen und sie sitzt auch im Fahrgastbeirat der LVB. Insgesamt habe man schon einiges vorangebracht für die Barrierefreiheit, sagt sie. Doch bei der App sieht sie noch Nachbesserungsbedarf: "Sie ist nicht vollständig für uns nutzbar." Mit den Verkehrsbetrieben wolle man darüber weiter im Gespräch bleiben und an einer Verbesserung arbeiten.
Deutschland als großer Flickenteppich
Eine konkrete Bewertung einzelner Mobilitäts-Apps will Christiane Möller vom Bundesverband der Blinden und Sehbehinderten nicht vornehmen. Grundsätzlich sei es aber ein Dauerbrenner, dass Betroffene bei Apps auf Probleme stoßen, selbst wenn diese offiziell barrierefrei seien. "Eine barrierefreie App heißt noch nicht, dass sie auch in der Usability, also der Nutzbarkeit gut ist für die Menschen", betont Möller.
Dabei sei Barrierefreiheit umso einfacher, je früher daran gedacht werde. Wenn man erst nachträglich versuche, etwas barrierefrei zu machen, funktioniere das oft nicht oder nur mit hohem Kostenaufwand. Möller betont daher, wie wichtig es ist, Menschen mit Behinderungen frühzeitig einzubinden und sie als wertvolle Hinweisgeber ernst zu nehmen.
Eine barrierefreie App heißt noch nicht, dass sie auch in der Usability gut ist für die Menschen.
Gerade im Nahverkehr sieht Möller aber auch ein grundsätzliches Problem darin, dass es in den Kommunen sehr unterschiedliche Modelle gebe, wie Barrierefreiheit umgesetzt werde. "Wir haben in Deutschland einen großen Flickenteppich", kritisiert sie. Dabei könne man deutlich besser vorankommen, wenn Kommunen eher mal gute Beispiele übernehmen statt "in jedem Landkreis alles wieder neu zu erfinden".
Solange es an Haltestellen keine akustischen Ansagen gibt, greift Şeniz in Erfurt auch auf andere digitale Hilfsmittel zurück. Mit der App "Be my eyes" kann sie beispielsweise Anzeigetafeln abfotografieren und sich dann ansagen lassen, was darauf steht. Dass auch dabei Geduld gefragt ist, wird aber schnell deutlich. "Das Bild ist auf dem Kopf und schwer zu lesen", sagt die automatische Stimme, "Es scheint, als würde es die Abfahrtszeiten von öffentlichen Verkehrsmitteln anzeigen." Denn ist ein Foto unscharf oder die Lichtverhältnisse ungünstig, kann auch die App keine akustische Ansage ersetzen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 13. Januar 2024 | 07:13 Uhr
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