Inklusion Eltern mit Behinderung von unübersichtlichem Helfersystem oft überfordert
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03. Dezember 2023, 07:02 Uhr
Selbstbestimmte Elternschaft für Menschen mit Behinderungen – das sichert die UN-Menschenrechtskonvention zu, die in Deutschland seit 2009 ratifiziert ist. Doch noch immer ist nicht bei allen angekommen, dass Menschen mit Behinderungen Eltern werden können. Auch das Helfersystem birgt an vielen Stellen noch ganz eigene Herausforderungen für Betroffene.
- Elternschaft wird besonders bei Lernschwierigkeiten schon vor einer Partnerschaft erschwert.
- UN-Konvention stärkt Recht auf selbstbestimmte Elternschaft.
- Unterstützungsangebote müssen bisher meist aufwändig koordiniert werden.
Stefanie Pröhl erinnert sich noch gut an ihre Schwangerschaft. Ein Arzt habe ihr damals gesagt, sie könne keine Kinder bekommen, erzählt die heute 35-jährige Leipzigerin. Sie hat leichte Lernschwierigkeiten und eine Hörbeeinträchtigung. In die Mutterrolle musste sie erst hineinwachsen. "Am Anfang hatte ich Angst, das Kind anzufassen, weil sie so klein war", erinnert sie sich. In einer Mutter-Kind-Einrichtung habe sie dann gelernt, wie sie ihr Kind betreuen kann.
Dass Menschen wie Stefanie Pröhl Eltern werden können, ist zwar inzwischen durch die UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten und in Deutschland etwa über das Bundesteilhabegesetz gesichert. "Aber Gesetze sind nur so gut, wie sie in den Köpfen der Akteure umgesetzt werden", erklärt Marion Michel, Vorsitzende des Vereins Leben mit Handicaps in Leipzig. Sie berät und unterstützt Betroffene über das Kompetenzzentrum für behinderte und chronisch kranke Eltern.
Wie Elternschaft schon vor einer Partnerschaft erschwert wird
Vorurteile und Diskriminierungen zeigten sich noch auf vielen Ebenen, beklagt Michel und verweist beispielsweise auf Sterilisationen von Frauen mit Behinderungen. Besonders Frauen mit Lernschwierigkeiten – die Bezeichnung als geistige Beeinträchtigung lehnen Betroffene meist als diskriminierend ab – seien achtmal häufiger sterilisiert als andere Frauen: "und das häufig nicht auf eigene Einwilligung, sondern sie werden unter Druck gesetzt oder wissen zum Teil gar nicht, was passiert", sagt Michel.
Verlässliche Zahlen zu Elternschaft bei Menschen mit Behinderungen sind kaum vorhanden. Michel hat selbst an einer Studie mitgewirkt, wonach etwa 15 Prozent der Frauen mit Lernschwierigkeiten eigene Kinder haben – weniger als bei anderen Behinderungsarten. Menschen mit schweren Lernschwierigkeiten werden dabei deutlich seltener Eltern, wie auch aus dem 9. Familienbericht der Bundesregierung hervorgeht. Meist sind es Mütter oder Väter mit leichteren geistigen Beeinträchtigungen, etwa im IQ-Berich von 50 bis 69 nach der medizinischen Klassifikationsliste der Weltgesundheitsorganisation.
UN-Konvention: Kinder nicht wegen Behinderung von Eltern trennen
Die Betroffenen haben in jedem Fall rechtlichen Anspruch auf Unterstützung, um ihre Elternschaft selbstbestimmt und zum Wohle des Kindes leben zu können. "In keinem Fall darf das Kind aufgrund einer Behinderung entweder des Kindes oder eines oder beider Elternteile von den Eltern getrennt werden", heißt es in Artikel 23 der UN-BRK. Deutschland hat das 2009 ratifiziert.
Fehlende oder nicht bedarfsgerechte Unterstützung führt noch zu oft zu einer Fremdunterbringung der Kinder.
Darauf verweist auch der Leipziger Stadtrat. In einem Beschluss von 2021 kritisiert das Kommunalparlament, dass "fehlende oder nicht bedarfsgerechte Unterstützung noch zu oft zu einer Fremdunterbringung der Kinder führt". Dabei seien die Kosten für bedarfsgerechte Unterstützung "selbst bei hohem Unterstützungsbedarf unter den Kosten bei einer Fremdbetreuung der Kinder". Um die Teilhabe für Familien mit Behinderungen sicherzustellen, wurde die Stadt unter anderem dazu aufgefordert, ein Rahmenkonzept zu Elternassistenz erarbeiten.
Stadt will Verhandlungen zu Elternassistenz 2024 abschließen
Die Assistenten können etwa blinde und sehbehinderte Eltern mit deren Kindern auf den Spielplatz begleiten; Elternabende besuchen, wenn der Klassenraum für Menschen mit Rollstuhl nicht erreichbar ist oder andere Barrieren bestehen oder sie können Eltern mit Lernschwierigkeiten bei Behördengängen und schulischen Angelegenheiten der Kinder unterstützen.
In Leipzig steht die Umsetzung der anvisierten Pläne aber noch aus. Das Amt für Jugend und Familie erklärt auf Nachfrage, man wolle die Verhandlungen mit dem Sozialamt und dem KSV dazu kommendes Jahr abschließen. "Grundsätzlich erhalten Eltern mit Behinderung dieselben Hilfsangebote hinsichtlich des Wohls ihrer Kinder, wie Eltern ohne Behinderungen", heißt es.
Dennoch gebe es auch Verhandlungen, "um Eltern mit Behinderung spezifisch auf deren Bedürfnisse abgestimmte Hilfestellungen hinsichtlich der erzieherischen Kompetenz aus einer Hand zu ermöglichen."
Selbstständigkeit stärken und Vorurteilen entgegentreten
Stefanie Pröhl erhält seit 2020 Unterstützung durch einen Elternassistenten. Stelios Karachalias kommt 30 Stunden im Monat zu der Mutter und ihrer inzwischen siebenjährigen Tochter. Zudem begleitet er aktuell noch eine andere Mutter mit Kind.
Das stößt mir äußerst sauer auf, wenn eine gebildete Person Frau Pröhl als Fünfjährige bezeichnet.
Für Karachalias ist es vor allem wichtig, auf die Bedürfnisse der Eltern zu schauen – sie dort zu unterstützen, wo die Eltern das selbst wollen und sie zu Selbständigkeit zu animieren, erklärt er.
Immer wieder habe er es dabei mit Erwachsenen zu tun, die von nahestehenden Personen oder auch bei Behörden stark bevormundet werden und deren Selbstbewusstsein zunächst gestärkt werden muss. Karachalias erinnert sich an einen Arztbesuch, zu dem er Stefanie Pröhl begleitete. Der Arzt habe sich zunächst geweigert, mit der Mutter selbst zu sprechen. "Das stößt mir dann äußerst sauer auf, wenn eine gebildete Person Frau Pröhl als Fünfjährige bezeichnet."
Umdenken zu Eltern mit Behinderungen findet langsam statt
Grundsätzlich sei im Umgang mit Eltern mit Behinderungen durchaus ein Umdenken zu beobachten, stellt Marion Michel fest. Die begleitete Elternschaft gebe bereits größere Möglichkeiten, die Eltern so zu unterstützen, dass sie mit ihren Kindern zusammenleben können. Michel macht aber auch noch erhebliche strukturelle Defizite aus. So müssten die Betroffenen häufig verschiedene Unterstützungsangebote aufwändig koordinieren: Elternassistenz, sozialpädagogische Familienhilfe, eine Fachkraft in weiteren, besonderen Wohnformen, eine gesetzliche Betreuerin, manchmal noch wohlmeinende Angehörige und natürlich Schule oder Hort der Kinder.
Die Eltern sind teilweise überfordert mit der Organisation dieses komplexen Helfersystems.
"Jeder will was unterstützend für die Eltern bringen. Aber die Eltern sind teilweise überfordert mit der Organisation dieses komplexen Helfersystems", erklärt Michel. Von dem geplanten Rahmenkonzept zur Elternassistenz erhofft sie sich daher auch, dass die Unterstützung für Eltern mit Behinderungen aus einer Hand geleistet wird.
Zudem sollten Eltern das Wunsch- und Wahlrecht behalten, wer die Hilfe leistet. Es dürfe nicht nur darum gehen, ob die Betroffenen die Unterstützung annehmen, "sondern dass sie wirklich wählen können, mit wem sie zusammenarbeiten möchten". Auch für Elternassistenten stehe das Kindeswohl an erster Stelle betont sie. Doch meist gehe es eher darum, ein Kind zurückzuholen als ein Kind aus einer Familie herauszunehmen.
Dem eigenen Kind ein Schuljahr voraus
Für Stefanie Pröhl hat die Tochter höchste Priorität. Um ihr Kind bestmöglich in schulischen Angelegenheiten unterstützen zu können, belegt die Mutter einen ABC-Kurs. Zur Zeit nehmen sie dort den Stoff einer dritten Klasse durch, erzählt sie. "Ich bin quasi meinem Kind ein Jahr voraus. Wenn sie in der dritten Klasse ist, lerne ich den Stoff von der vierten Klasse." Schwierig werde es ab der fünften Klasse, meint Pröhl – denn Bruchrechnen könne sie nicht. Aber auch da ist sie zuversichtlich, schließlich gibt es Nachhilfelehrer.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 03. Dezember 2023 | 06:22 Uhr