Inklusion Fehlende Barrierefreiheit in Rathäusern erschwert politische Teilhabe
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24. April 2024, 10:44 Uhr
Rathäuser sind nicht nur Statussymbole von Städten – hier werden auch wichtige politische Entscheidungen gefällt. Mangelnde Barrierefreiheit erschwert aber immer wieder vielen Menschen die Teilhabe. In Leipzig verzögert sich die Umsetzung von Orientierungshilfen für blinde und sehbehinderte Menschen. Auch in anderen Städten kommt es insbesondere beim Denkmalschutz zu Konflikten mit Barrierefreiheit. Dabei zeigt Dresden, wie digitale Lösungen helfen können.
- Was am Leipziger Rathaus noch fehlt
- Wie eine App in Dresden bei der Orientierung hilft
- Denkmalschutz erschwert häufig barrierefreie Aufrüstung
Am Haupteingang des Neuen Rathauses von Leipzig ist für Susanne Siems erst einmal Schluss. Die Bibliothekarin und Journalistin ist seit Geburt hochgradig sehbehindert, und sie engagiert sich ehrenamtlich als Vorsitzende im Beirat für Menschen mit Behinderungen.
Das Neue Rathaus besucht sie etwa einmal im Monat: für Sitzungen des Beirats oder um in zusätzlichen Terminen Anträge des Beirats den jeweiligen Dezernaten näher vorzustellen und zu begründen. Doch eine eigenständige Orientierung im Rathaus ist für blinde und sehbehinderte Menschen bisher unmöglich.
Die Schwierigkeiten beginnen mit den Treppen vor dem Eingang: Ein Geländer ist zwar inzwischen da, ist aber auf einem Absatz zwischen jeweils vier Stufen unterbrochen. Siems sagt, hier bräuchte es einen durchgehenden Handlauf. Auch die Kontraststreifen auf den untersten und obersten Stufen hält sie nicht für ausreichend kontrastreich – die helleren Streifen im Eingangsbereich seien da schon besser.
Selbstständigkeit geht über Hilfsbereitschaft
"Ich sehe vielleicht einen Meter vor mir und dann ist alles verschwommen", erzählt Siems. Mit zunehmendem Alter habe die Sehbehinderung bei ihr zugenommen, kurz vor der Rente drohe ihr inzwischen die vollständige Erblindung. Gerade große Räume wie die Wandelhalle im Eingangsbereich des Neuen Rathauses sind für sie eine Herausforderung. "Ich weiß, dass irgendwo hier in diesem Raum auch eine Rezeption ist, aber die ist für mich erstmal nicht sichtbar."
Daten zu Blindheit und Sehbehinderung unvollständig
Deutschlandweit gibt es dem Statistischen Bundesamt zufolge 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen, 334.600 von ihnen sind blind oder sehbehindert. Der Anteil steigt dabei mit zunehmendem Alter. Allerdings werden Betroffene erst ab einem Grad der Behinderung von 50 Prozent erfasst.
Die Zahl der blinden und sehbehinderten Menschen wird in Deutschland über die Schwerbehinderten-Statistik des Statistischen Bundesamts erfasst. Ende 2021 gab es demnach 71.260 blinde Menschen, 46.820 hochgradig sehbehinderte Menschen und 440.645 sehbehinderte Menschen.
Der Deutsche Blinden- und Sehbehinderten-Verband (DBSV) betont deshalb auch, die Zahlen seien nur die "gesicherte untere Grenze". So verweist der Verband auf Berechnungen anhand von WHO-Zahlen aus anderen Ländern wie Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden. Demnach dürfte es in Deutschland etwa 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen geben. Allerdings bezieht sich die Zahl auf das Jahr 2002. In den von der WHO untersuchten Ländern stieg die Zahl der sehbehinderten Menschen allein von 1990 bis 2002 um 80 Prozent.
Bei Terminen im Rathaus lassen sich Siems und andere Beiratsmitglieder mit Behinderungen daher von Mitarbeitern der Verwaltung abholen. Sie erlebe viel Hilfsbereitschaft, erzählt sie – aber lieber wäre ihr, gar nicht erst um Hilfe bitten zu müssen, sondern sich eigenständig orientieren zu können.
Die mangelnde Barrierefreiheit verhindere zwar nicht die Mitsprache in der Kommunalpolitik, sagt sie. "Sie wird bloß massiv erschwert." Wie sie seien viele andere Beiratsmitglieder noch berufstätig. Dabei koste eine Behinderung ohnehin ständig zusätzliche Planung und Zeit. "Es sind ja alles Planungen, dass man den anrufen muss, dass man dorthin kommt." Das sei auch eine nervliche Belastung.
Barrierefreiheit kommt in Bewegung
Allgemein bestehe bei der Barrierefreiheit von Gebäuden noch viel Entwicklungsbedarf, sagt Jan Blüher, Vorsitzender der Kreisorganisation Dresden im Blinden- und Sehbehindertenverband Sachsen. Doch es tue sich inzwischen einiges in dem Bereich. Gerade ein Rathaus sei dabei immer auch ein Statussymbol für eine Stadt, betont Blüher, der ebenfalls regelmäßig durch seine Verbandsarbeit im Dresdner Rathaus ist.
Seit 2020 hat das Gebäude neben klassischen Orientierungshilfen für blinde und sehbehinderte Menschen auch ein digitales Navigationssystem. Blüher hat das mit seiner Firma für Softwareentwicklung an den Start gebracht. Barrierefreiheit insgesamt ist ein kleinteiliges Thema. Eine Übersicht zu Barrierefreiheit in repräsentativen Gebäuden der Politik gibt es nicht – auch nicht zu einzelnen Aspekten wie Orientierungshilfen für blinde und sehbehinderte Menschen.
Mit digitalen Lösungen bisherige Orientierungshilfen unterstützen
Insbesondere Handlauf-Beschriftungen und sprechende Aufzüge seien schon vergleichsweise häufig zu finden, beobachtet Blüher. Bodenleitsysteme seien dagegen meist nur rudimentär umgesetzt und stießen zudem an Grenzen: "Ein taktiles Leitsystem sagt mir zwar, ich kann mich hier bewegen. Es sagt mir aber nicht genau, wo es denn hinführt", erklärt der Softwareentwickler.
Ein taktiles Leitsystem sagt mir zwar: Ich kann mich hier bewegen. Es sagt mir aber nicht genau, wo es denn hinführt.
Für das Dresdner Rathaus hat seine Firma daher die kostenlose App blindFind entwickelt – ein Navigationssystem für blinde und sehbehinderte Menschen. Die App lotst Menschen auf Basis von Bluetooth durch das Gebäude, mit akustischen Signalen oder mit einer Ansage. Auch weitere Informationen wie Öffnungszeiten können über die App abgerufen werden.
Neben dem Rathaus haben inzwischen mehrere öffentliche Gebäude in Dresden die App installiert: etwa das Festspielhaus Hellerau, das Japanische Palais, das Projekttheater Dresden und mehrere Schwimmbäder. Auch das Stadtbad Sömmerda in Thüringen bietet Orientierungshilfe durch blindFind.
Konflikte mit Denkmalschutz
Gerade dort, wo Denkmalschutz in Konflikt mit Barrierefreiheit gerate, seien digitale Lösungen eine gute Option, erklärt Bühler. In Rathäusern kommt es immer wieder zu solchen Konflikten. So erklärt Erfurt, für eine Barrierefreiheit in großem Umfang sei eine Generalsanierung notwendig. In den nächsten fünf Jahren sei das nicht geplant. Auch in Magdeburg sind nach Angaben der Stadt keine weiteren Maßnahmen vorgesehen. Der Behindertenbeauftragten Tanja Pasewald zufolge wäre aber unter anderem die Integration eines Blindenleitsystems noch wünschenswert.
In Leipzig hat der Stadtrat bereits 2019 beschlossen, das Neue Rathaus und seine Außenstellen barrierearm aufzurüsten. Die meisten Punkte sind nach einem Zwischenbericht bereits umgesetzt – doch gerade für blinde und sehbehinderte Menschen besteht noch Handlungsbedarf.
Die Verzögerungen bei der Umsetzung erklärt die Stadt insbesondere mit Konflikten beim Denkmalschutz. Der spiele "eine bedeutende Rolle, um historische Gebäude zu bewahren und ihre historische Integrität zu erhalten", heißt es von der Stadtverwaltung. Für die Anforderungen von Barrierefreiheit brauche es da "oft kreative Lösungen".
Beirat hofft auf pragmatische Lösungen
Susanne Siems vom Beirat für Menschen mit Behinderungen übt sich in Geduld. Die Verzögerungen bei der Umsetzung im Neuen Rathaus in Leipzig erklärt sie sich auch mit der Pandemie-Situation. Dennoch würde sie sich schnellere Lösungen wünschen und teils ein pragmatischeres Vorgehen. So hält sie etwa aufklebbare mobile Leitstreifen für vollkommen ausreichend – gerade auch für den Fall, dass Räumlichkeiten anders aufgeteilt werden.
"Jede Barriere, die fällt, erleichtert mir meinen Alltag und macht meinen Alltag schneller", betont sie. Zudem gehe es bei Barrierefreiheit nicht nur um Menschen mit einer definierten Behinderung. Ob ältere Menschen oder Eltern mit Kinderwagen – Einschränkungen in der Mobilität können verschiedenste Gründe haben.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 04. Dezember 2023 | 06:45 Uhr