Faktencheck Bürgergeldbetrug oder Steuerhinterziehung – was kostet uns mehr?
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03. November 2024, 05:00 Uhr
Steuerhinterziehung ist zur "Rebellion des kleinen Mannes" geworden – auch weil Superreiche legale Steuerlücken so gekonnt nutzen, dass sie es gar nicht nötig haben, Steuern zu hinterziehen. Dem deutschen Staat entgeht so jährlich ein dreistelliger Milliardenbetrag, sowohl durch Steuerhinterziehung als auch durch legale "Steuergestaltung". Was sich ändern müsste, um mehr Gerechtigkeit ins Steuersystem zu bekommen.
- Der deutsche Staat verliert jährlich mehr Geld durch Steuerhinterziehung als durch Bürgergeldbetrug.
- Bei der Steuerhinterziehung entgeht dem Staat das meiste Geld durch Schwarzarbeit.
- "Superreiche" haben es nicht nötig, Steuern zu hinterziehen, weil sie Steuerlücken sehr gut ausnutzen können.
"Steuerhinterziehung von Superreichen kostet den Staat jährlich 100 Milliarden Euro. Könnt ihr mir jetzt noch mal erklären, warum Parteien immer wieder laut jubeln, dass wir gegen den ganzen Hartz-IV-Betrug vorgehen müssen? Ich glaube, hier gibt es einen größeren Fisch zu fangen", sagt die Creatorin jetteniz in einem ihrer TikToks.
Dass sie damit grundsätzlich richtig liegt, darüber ist man sich in Expertenkreisen einig. Florian Köbler, der Bundesvorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft, bestätigte MDR AKTUELL auf Anfrage, Steuerhinterziehung verursache jährlich einen wesentlich größeren finanziellen Schaden als Leistungsmissbrauch beim Bürgergeld.
Bei den genauen Zahlen liegt jetteniz allerdings falsch. Etwa beim Bürgergeldbetrug: Die Bundesagentur für Arbeit teilt auf Anfrage mit, dass für 2022 der durch Leistungsmissbrauch verursachte Vermögensschaden näherungsweise mit etwa 272,5 Millionen Euro benannt werden konnte. Dies seien aber nur die Arbeitsagentur bekannten Fälle.
Steuerhinterziehung kann nur geschätzt werden
Und auch die Höhe der Steuerhinterziehung ist im Grunde eine einzige Blackbox. Das Bundesfinanzministerium etwa, teilte MDR AKTUELL mit, Steuerhinterziehung finde im Verborgenen statt. Der dadurch tatsächlich verursachte Schaden könne deshalb nicht valide beziffert werden. Eine geschätzte Zahl nennt das Ministerium nicht.
Aber es gibt Schätzungen. "100 Milliarden Euro sind es mindestens, unsere Schätzungen zur Steuerhinterziehung gehen noch darüber hinaus", erklärt Köbler. Doch dieses Geld wird nicht allein von "Superreichen" hinterzogen. Der Betrag setze sich aus verschiedenen Delikten zusammen, sagt Köbler.
Schwarzarbeit verursacht jährlich 54 Milliarden Schaden
Tatsächlich entgeht dem Staat das meiste Geld wohl durch Schwarzarbeit. Der Ökonom Friedrich Schneider schätzt, dass der so verursachte Schaden zwischen 2016 und 2022 jährlich bei rund 54 Milliarden Euro lag. Bei der Schwarzarbeit würden zwar meist durch den Einzelnen nur kleine Beträge hinterzogen, das aber von sehr vielen Menschen.
"Das findet vor allem im Bereich der unteren und mittleren Einkommen statt – beim Maurer, der Putzfrau, dem Fliesenleger", sagt Schneider. Dort sehe man diese Art der Steuerhinterziehung oft als die "Rebellion des kleinen Mannes" – ein Ausdruck von Unzufriedenheit mit dem Staat, erklärt der Experte für Schattenwirtschaft. "Die Züge funktionieren nicht, die Schulausstattung ist schlecht – also warum soll ich Steuern zahlen?"
Der Rest der geschätzten fiskalen Finanzlücke entfalle auf "klassische Steuerhinterziehung", erklärt Schneider. "Durch die klassische Steuerhinterziehung – das bedeutet, dass nicht alle verdienten Einkommen beim Finanzamt deklariert werden – entgehen dem Staat jedes Jahr etwa 38,4 Milliarden Euro."
"Superreiche" haben Steuerhinterziehung nicht nötig
Wie viel von diesem Geld "Superreiche" jährlich hinterziehen, sei schwer zu sagen, sagt Christoph Trautvetter, Referent beim "Netzwerk Steuergerechtigkeit". Da gehe es zwar beim Einzelnen schon um Millionenbeträge, die etwa durch Offshore-Konten oder organisierten Umsatzsteuerbetrug hinterzogen würden, dennoch summiere sich das im Jahr wohl "nur" zu einem einstelligen Milliardenbetrag.
Trautvetter erklärt, das liege aber auch daran, dass diese Menschen die Ressourcen hätten, um legale Wege an der Steuer vorbei zu finden. "Sehr viele Superreiche nutzen Steuerlücken und bewegen sich sehr eng an der Grenze zwischen Steuerhinterziehung und sogenannter aggressiver Steuergestaltung." Das führe am Ende dazu, dass Superreiche viel weniger Steuern zahlten als durchschnittliche Angestellte – legal und ohne Steuerhinterziehung.
Gerade da, wo es um sehr viel Geld geht, fehlt es an Transparenz – das ist der wesentliche Unterschied zwischen Steuerhinterziehung und Bürgergeld-Betrug.
Als Beispiel führt Trautvetter Susanne Klatten, die reichste Frau Deutschlands und BMW-Erbin, an. "Wir haben das mal ausgerechnet: Klatten hat 1996 noch 60 Prozent Steuern gezahlt und zahlt jetzt weniger als 30 Prozent." Sie habe also ihren Steuersatz ganz legal halbiert und sei damit auch nicht auf Steuerhinterziehung angewiesen.
"Gerade da, wo es um sehr viel Geld geht, fehlt es an Transparenz – das ist der wesentliche Unterschied zwischen Steuerhinterziehung und Bürgergeld-Betrug", sagt Trautvetter. Superreiche gäben nur sehr wenig und sehr zögerlich Daten über ihre Einkommenssituation an die Steuerbehörden ab und würden auch in letzter Konsequenz nicht dazu gezwungen.
Mehr Steuergerechtigkeit nur durch mehr Transparenz
"Ein Bürgergeld-Empfänger dagegen muss sich ja komplett nackig machen", erklärt Trautvetter. Deswegen hätten die Behörden auch eine viele bessere Handhabe, um sie zu kontrollieren und Betrug aufzudecken, als bei den Superreichen, deren Steuerhinterziehung oft sehr komplex sei.
Ein weiteres Problem sei die Zersplitterung der Finanzverwaltung: 16 Bundesländer, die für die Steuereintreibung zuständig sind, hunderte lokale Finanzämter. "Uns fehlt eine lokale Behörde, die sich mit den Superreichen und ihren oft Ländergrenzen-überschreitenden Vermögensverhältnissen beschäftigt", sagt der Finanzexperte.
Die Hälfte des Problems ist in den letzten Jahren beseitigt worden.
Dennoch habe es in den letzten Jahren eine Verbesserung gegeben, sagt Trautvetter. Durch den automatisierten Informationsaustausch und die Steuer-CDs habe es knapp 100.000 Selbstanzeigen gegeben und sehr viele Menschen hätten anonymes Offshore-Vermögen zurück nach Deutschland gebracht. "Es gibt erste Studien, die sagen, ungefähr die Hälfte des Vermögens sei inzwischen bei den Finanzämtern angekommen. Also die Hälfte des Problems ist in den letzten Jahren beseitigt worden."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 31. Oktober 2024 | 17:18 Uhr