Asylpolitik Juristen: Große Flüchtlingsunterkünfte verstoßen gegen Menschenrechte

16. Juli 2023, 12:36 Uhr

Nach Ansicht des frühreren Richters am Verfassungsgericht Sachsen-Anhalts, Winfried Kluth, verstoßen große Flüchtlingsunterkünfte gegen die Menschenrechte. Kluth schreibt in einem Papier, das der Deutschen Presse-Agenur vorliegt, wenn viele Geflüchtete in großen Gemeinschaftsunterkünften zusammenleben müssten, gehe es ihnen schlechter statt besser. Das widerspreche europarechtlichen Regelungen. Gemeinschaftsunterkünfte seien vor allem dazu da, die Geflüchteten zu kontrollieren.

Die Unterbringung von Geflüchteten in großen Gemeinschaftsunterkünften verstößt nach Ansicht der Halleschen Juristen Winfried Kluth und Jakob Junghans gegen Menschenrechte. "In großen Unterkünften sind Probleme nur ganz begrenzt durch Maßnahmen einschränkbar", sagte Kluth von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Keine Privatsphäre oder Schutz vor Übergriffen

Kommunen verstießen damit gegen grundlegende Menschenrechte und internationale Diskriminierungs- und Missbrauchsverbote. Teilweise seien sehr große Unterkünfte aufgebaut worden, die "sehr problematisch" sind, so Kluth. Wo Hunderte Menschen untergebracht seien, mangele es an Privatsphäre und ausreichendem Schutz vor den Übergriffen anderer, schreiben er und Junghans in einem Papier, dass der dpa vorliegt.

Angaben des Landesinnenministeriums zufolge hat die größte der 37 Gemeinschaftsunterkünfte in Sachsen-Anhalt eine Kapazität von 360 Plätzen. Auch wegen unterschiedlicher Größen von Familien oder Instandsetzungsarbeiten könne diese jedoch nicht voll genutzt werden. In der Spitze seien hier 260 Menschen gemeinsam untergebracht.

Forschung mit Experten weltweit

Die Forderung der Juristen nach kleineren Unterkünften beruht auf 50 qualitativen Interviews mit Geflüchteten und Experten. "Außerdem haben wir uns mit Forschungsgruppen aus Belgien, Italien, Norwegen, Kanada, Uganda und dem Libanon ausgetauscht. Die kommen alle zu dem gleichen Schluss." Auch andere in Deutschland in dem Feld Forschende hätten die Ergebnisse "ausnahmslos bestätigt".

Durch die Unterbringung in großen Unterkünften seien Geflüchtete neuen Gefahren ausgesetzt, was auch dazu führe, dass es ihnen schlechter statt besser gehe. "Das steht im Widerspruch zu europarechtlichen Regelungen", so Kluth. Zwar habe er Verständnis dafür, dass in bestimmten Situationen die Möglichkeiten für die Unterbringung Geflüchteter begrenzt seien. "Aber kleine Unterkünfte sind der einzig gebotene Weg."

Kleine Unterkünfte sind der einzig gebotene Weg.

Winfried Kluth Jurist

Gemeinschaftsunterkunft zum Zweck der Kontrolle

Gemeinschaftsunterkünfte seien vor allem dazu da, die Geflüchteten zu kontrollieren, so Junghans. "Es gibt keinen anderen überzeugenden Grund, viele Menschen ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus und ihrer individuellen Bedürfnisse auf engstem Raum unterzubringen."

Ihre Lage erschwere sich außerdem, weil die Unterkünfte weit entfernt von städtischen Zentren liegen. Die Geflüchteten würden so räumlich und sozial vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Anstelle großer Gemeinschaftsunterkünfte sollten dezentrale, sichere Unterkünfte über möglichst alle Wohngebiete der Städte und Kommunen verteilt eingerichtet werden, forderten Kluth und Junghans.

Zudem sei es sinnvoll, die Wohnpflicht in den Aufnahmeeinrichtungen nach der Anfangsphase des Asylverfahrens aufzuheben. Darüber hinaus müssten Mindeststandards eingeführt und regelmäßig Kontrollen durchgeführt werden.

Reform des Asylrechts geplant

Die Bundesregierung diskutiert derzeit über die geplante Reform des EU-Asylverordnung. Denn diese sieht vor, geltende Standards für die Registrierung und Unterbringung von Asylsuchenden in Ausnahmesituationen abzusenken.

Zudem sollen Schutzsuchende in Krisen-Situationen verpflichtet werden können, sich länger als zwölf Wochen in den Aufnahmeeinrichtungen in Grenznähe aufzuhalten. Als Krisensituation gelte beispielsweise eine Lage, in der ein anderes Land Geflüchtete instrumentalisiert, so wie zuletzt an der belarussisch-polnischen Grenze. Pro Asyl nannte die geplante Verordnung einen "Blankocheck für Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen" der Europäischen Union.

Zahl der Geflüchteten steigt

Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurde nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) für rund 150.000 Menschen erstmalig ein Asylantrag in Deutschland gestellt. Das waren rund 77 Prozent mehr Erstanträge als im Vorjahreszeitraum. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine erhalten gemäß einer EU-Richtlinie Schutz und müssen daher keinen Asylantrag stellen.

MDR AKTUELL (dpa/yvo)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 16. Juli 2023 | 11:00 Uhr

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