Bundespräsident in der Provinz Doch nicht egal: Was von Steinmeiers "Ortszeiten" bleibt
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06. Dezember 2022, 08:03 Uhr
Bereits viermal hat Bundespräsident Steinmeier in diesem Jahr seinen Amtssitz in eine kleinere, ländlich geprägte Stadt verlegt. Altenburg, Quedlinburg, Neustrelitz und Rottweil: Drei Tage hat er sich jeweils Zeit genommen, um die Menschen vor Ort zu treffen und zu erfahren, was sie "umtreibt". In Freiberg beginnt am Mittwoch seine letzte "Ortszeit" für dieses Jahr. Kann dieses Format tatsächlich eine Brücke zwischen Politik und Bürgern schlagen?
- Bundespräsident Steinmeier hat sich bei den "Ortszeiten" 2022 auf den ländlichen Raum im Osten Deutschlands konzentriert.
- Positiv kam bisher die offene und ruhige Art des Bundespräsidenten und sein Interesse an den Menschen und dem regionalen Handwerk an.
- Die Besuche haben viel Symbolkraft, konkrete Lösungen für die Probleme der Menschen hat Steinmeier aber nicht im Gepäck.
- Nach einer überwiegend positiven Bilanz soll es im kommenden Jahr weitere "Ortszeiten" geben.
"Es gehört zu den grundlegenden Aufgaben des Bundespräsidenten, das Land zusammenzuhalten", sagt Cerstin Gammelin, die Sprecherin des Bundespräsidenten. Aber dafür müsse er wissen, was die Menschen in Deutschland bewegt. Gartenschauen eröffnen, Fabriken besichtigen, einen Vortrag bei einer Stiftung halten – solche Veranstaltungen seien wichtig, aber immer nur Momentaufnahmen.
Deswegen hat man sich im Bundespräsidialamt die "Ortszeiten" einfallen lassen, bei denen sich Bundespräsident Steinmeier mehr als nur ein paar Momente nimmt: Drei Tage führt er seine Amtsgeschäfte aus der Stadt, die er besucht. In dieser Zeit schlendert er durch die Innenstadt, besucht regionale Betriebe und trifft sich mit Bürgern und Bürgerinnen zu Gesprächsrunden bei Kaffee und Kuchen. Gerade dort geht es mitunter heiß her. "Diese Kaffeetafeln sind immer voll mit leckerem Kuchen. Aber davon wird oft höchstens ein Drittel gegessen, weil die ganze Zeit so lebhaft debattiert wird", erzählt Gammelin.
Genau darum scheint es hauptsächlich zu gehen: mit den Bürgern und Bürgerinnen ins Gespräch zu kommen. Und so Antwort zu geben auf Politikverdrossenheit, Demokratieskepsis und dem Gefühl von "denen da oben" vergessen worden zu sein. "Der Bundespräsident will mit seinen Ortszeichen ein Zeichen setzen", sagt Cerstin Gammelin, "er kommt nicht nur an und fährt nach einem Event wieder ab, sondern schaut richtig hin“.
Vier von fünf Stationen in Ostdeutschland
Dieses Zeichen scheint sich besonders an den Osten Deutschlands zu richten. Vier der fünf Städte, in denen 2022 die Ortszeiten stattfanden, liegen in ostdeutschen Bundesländern. Steinmeier ist dorthin gefahren, wo die Skepsis gegenüber dem demokratischen System am höchsten ist, wo die Wohlstandsverhältnisse seit 30 Jahren hinter dem Westen der Republik zurückbleiben. Vor allem aber ist er dorthin gefahren, wo die Menschen sich von der Politik nicht gesehen fühlen.
Und genau das hat Eindruck gemacht. In Altenburg in Thüringen, seiner ersten Station, hat Steinmeier unter anderem die inklusive und integrative Samba-Trommelgruppe Como Vento besucht. Dort kommen junge Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zusammen, um zu musizieren.
Auf die Frage nach seiner Bilanz zum Besuch des Bundespräsidenten betont Janek Rochner-Günther, Leiter der Gruppe, vor allem eines: "Er ist zu uns in einen Stadtteil gekommen, wo es den Leuten nicht so gut geht, hat hingeschaut, wo es weh tut. Das war mutig." Den jungen Menschen in seiner Gruppe hätte das gezeigt, dass sie eben doch nicht egal seien.
Nikolaus Dorsch, Kommunalpolitiker im Stadtrat, teilt diese Perspektive: "Wir haben uns gehört gefühlt", sagt er. Der Besuch sei keine Besichtigungstour gewesen, stattdessen vollgepackt mit persönlichen Begegnungen. Das habe auch bei skeptischen Menschen einen positiven Eindruck gemacht. "Durch solche Besuche werden 'die da oben' greifbarer."
Steinmeier als besonnen und volksnah wahrgenommen
Nicht nur sein Besuch, auch der Bundespräsident selbst kam bei den Menschen gut an, sagt Elke Bachran aus Quedlinburg. "Ich war beeindruckt von seiner Ausstrahlung, seiner Integrität und seiner ruhigen, nahbaren Art." Bachran hat den Bundespräsidenten bei der Kaffeetafel "kontrovers" getroffen und findet, von seiner Art der Gesprächsführung könnte sich so mancher Talkshow-Moderator was abschneiden: "Er hat es geschafft, nicht zu polarisieren, sondern Menschen mit ganz unterschiedlichen Standpunkten näher zusammenzubringen."
Einen ähnlichen Eindruck hatte bei der Gesprächsrunde auch Christian Wendler, Quedlinburger Augenoptik-Meister im Ruhestand: "Ich war überrascht, wie offen, ruhig und besonnen er war. Er hat sich nicht provozieren lassen."
Anerkennung für kleine und mittelständische Betriebe
Auch Johannes Feibig, einer der Geschäftsführer der Quedlinburger Walzengießerei, verliert nur positive Worte über den Besuch des Bundespräsidenten in seinem Unternehmen: "Wir sind eine kleine Firma, 120 Mitarbeitende. Dass er zu uns gekommen ist, war eine Riesenehre. Und es hat auch gezeigt, dass wir nicht so unbedeutend sind, wie wir vielleicht manchmal dachten."
Die Walzengießerei gibt es bereits seit 1865. Nach der Wiedervereinigung hat das Unternehmen die Treuhand überlebt und ist damit heute der älteste Industriebetrieb in Quedlinburg. Diese Geschichte wird auch in Feibigs Worten greifbar: "Es ist ein Zeichen, wenn der Bundespräsident gezielt in den Osten kommt und vielleicht auch ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es darum geht, die Wunden der Wende zu heilen."
Auch Albrecht Reinhold aus Altenburg war stolz, als es den Bundespräsidenten in seinen kleinen Laden verschlug. Der Besitzer der Schnuphase'schen Buchhandlung hat den Politiker als sehr offen und ehrlich interessiert wahrgenommen: "Er hat wirklich zugehört", sagt Reinhold. Auch sein Buchladen ist ein Traditionsbetrieb, seit 222 Jahren gibt es die Schnuphase'sche Buchhandlung inzwischen. Den Namen hat jeder Besitzer beibehalten.
Kritik: Viel Symbolisches, wenig Konkretes
Auch wenn ein Großteil der Reaktionen positiv war, zu den Ortszeiten des Bundespräsidenten gibt es auch kritische und enttäuschte Stimmen. So fand Hardy Seidel, CDU-Politiker im Quedlinburger Stadtrat, die Reaktion des Bundespräsidenten auf die vorgebrachten Sorgen rund um Corona, die Unterbringung Geflüchteter und die aktuelle Preisentwicklung zu schwach: "Ich hätte mir mehr konkretes Handeln gewünscht und vor allem, dass er die Stimmung vor Ort erfasst und mit nach Berlin nimmt." Nach seinem Gefühl sei man mit den Problemen und der Beschreibung der Lage vor Ort nicht richtig durchgedrungen.
In Neustrelitz wies Fischerin Sabine Reimer den Bundespräsidenten auf die Probleme der Fischer mit dem nach ihrer Auffassung überzogenen Naturschutz an der Seenplatte hin. Sie habe 70 ihrer rund 700 Hektar Wasserfläche aufgeben müssen, weil der Müritz-Nationalpark dort keine Fischerei mehr zulassen wolle. Reimers Familienbetrieb arbeitet seit 100 Jahren in der Region. Steinmeier bekundete der Fischerin seinen Respekt vor ihrer Arbeit. Das ist nicht nichts, aber auch nicht viel. Viel mehr lässt sein Amt letztlich nicht zu. Auf konkrete politische Entscheidungen hat der Bundespräsident nur wenig Einfluss. Er kann einem Gesetz höchstens im letzten Schritt seine Unterschrift verweigern.
Proteste gab es jedoch tatsächlich nur während einer Ortszeit: In der baden-württembergischen Stadt Rottweil versammelten sich während des Besuchs des Bundespräsidenten Gegner der Corona-Maßnahmen zu einer Demonstration. Ein Gesprächsangebot Steinmeiers schlugen sie aus.
Bilanz: Ein Format mit Zukunft?
Was bleibt also nach diesen Ortszeiten? Auch wenn der Besuch in Freiberg noch aussteht, die vorläufige Bilanz ist positiv – die meisten Menschen, die den Bundespräsidenten während der Ortszeiten getroffen haben, finden, man sollte das Format fortsetzen, vielleicht sogar ausbauen. "Es wäre schön, wenn nicht nur der Bundespräsident so etwas macht, sondern auch andere Politiker", sagt die Quedlinburgerin Elke Bachran.
Wir wollen ein Zeichen setzen. Wir schauen hin, es ist nicht nur Gerede.
Die Stimmen aus Altenburg und Quedlinburg zeigen dem Bundespräsidenten, dass es richtig ist, in den Osten zu kommen, in kleinere Städte auf dem Land. "Wir, als Kleinstadt im ländlichen Raum, wurden für ein paar Tage besonders hervorgehoben und das war befriedigend zu sehen", sagt Nikolaus Dorsch aus Altenburg.
Dass sich der Bundespräsident Zeit für sie genommen hat, auch wenn ihre Stadt kein Schauplatz politischen Weltgeschehens ist, hat ein positives Gefühl bei den Menschen hinterlassen. Sie fühlen sich gesehen. "Der Bundespräsident hat damit ein Zeichen gegen die AfD und andere gesetzt, die immer gegen die abgehobenen Berliner Eliten wettern", sagt Johannes Feibig von der Walzengießerei Quedlinburg.
Auch, dass sein Besuch ohne viel Pomp auskam, dass der Bundespräsident offen, nahbar und interessiert war, hat Eindruck gemacht. Es ist das ehrliche Zuhören, an das sich die Bürger und Bürgerinnen auch jetzt noch erinnern. Diesen Eindruck hat auch die Sprecherin des Bundespräsidenten: Es sei gut angekommen, dass der Bundespräsident in kleinere Städte kam, nachfragte, sich kümmerte oder auch selbst mal aus der Berliner Politik erzählte. Deswegen werde man die Ortszeiten auch im kommenden Jahr fortsetzen, drei pro Halbjahr soll es geben.
mit dpa
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR EXTRA | 07. Dezember 2022 | 19:50 Uhr