Menschen versammeln sich zum Gedenken an die Opfer und die Folgen der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 auf dem Jüdischen Friedhof in Bautzen
Juden in Deutschland werden deutlich häufiger angefeindet, beleidigt, bedroht und direkt angegriffen. Bildrechte: IMAGO / Steffen Unger

Rias-Jahresbericht Deutlich mehr antisemitische Vorfälle 2023

25. Juni 2024, 12:46 Uhr

Der Bundesverband der Antisemitismus-Meldestellen berichtet von einer Zunahme der Zahl antisemitischer Vorfälle im vergangenen Jahr um fast 83 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – und vor allem seit dem 7. Oktober.

Der Bundesverband Rias hat seinen Jahresbericht 2023 vorgestellt. Demnach war die Zahl der erfassten antisemitischen Vorfälle fast 83 Prozent höher als 2022. Die Hälfte der erfassten Fälle sei auf die Zeit nach dem 7. Oktober gefallen – dem Tag des Angriffs der terroristischen Hamas auf Israel und dem Beginn des noch immer laufenden israelischen Kriegs gegen die Hamas im Gaza-Streifen. Dem Bericht zufolge stieg die Gesamtzahl der von Rias-Meldestellen bundesweit dokumentierten Vorfälle von 2.616 im Jahr 2022 auf 4.782 im Jahr 2023.

Seit dem 7. Oktober bis Ende 2023 wurden Rias zufolge insgesamt 2.787 antisemitische Vorfälle bekannt – 58 Prozent aufs Jahr gesehen und rechnerisch 32 pro Tag. Vor dem 7. Oktober seien es statistisch sieben am Tag gewesen.

Trotzdem rechnet Rias auch 2023 nur knapp drei Prozent davon einem islamischen oder islamistischen Hintergrund zu, von insgesamt 150 Vorfällen dieser Art allerdings 130 nach dem 7. Oktober. Die meisten jedoch hatten demnach, soweit erkennbar und wie schon im Vorjahr, rechtsextreme oder verschwörungsrheoretische Hintergründe.

Die Autoren des Rias-Berichts schreiben jetzt, dass seit dem 7. Oktober der Antisemitismus in Deutschland "in allen gesellschaftlichen Bereichen auf eine bisher nicht bekannte Weise sichtbar" geworden sei. Erfahrungen, die hier jüdische Menschen seit Jahren damit machten, "verstärkten sich enorm und wurden zu einer täglich spürbaren Belastung". Das verändere das private und das organisierte jüdische Leben in Deutschland stark und verschlechtere die objektive Sicherheitslage wie das persönliche Sicherheitsempfinden.

So berichtet der Bundesverband Rias

Die Berichte vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS) basieren auf Angaben regionaler Meldestellen in elf Bundesländern. Vorfälle aus Bremen, Hamburg, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg bearbeitete der Bundesverband 2023 selbst. Er betont, dass die Dokumentation nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit erfasse und es eine große Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle gebe. Zudem werteten die Rias-Meldestellen nur Vorfälle aus, die bestimmten Kriterien entsprechen. Auch deshalb seien die Zahlen der von Rias registrierten Vorfälle statistisch nicht repräsentativ. Sie ließen nicht darauf schließen, wie viele der Menschen in Deutschland wirklich antisemitisch denken oder handeln.

Neben einem Meldeportal im Internet bieten die Rias-Stellen auch Beratungen für betroffene Menschen. Unterstützt werden die Meldestellen und Beratungen zumeist von den Ländern und jüdischen Verbänden.

Von Gewalt bis zu markierten Wohnhäusern

Im Jahresreport berichtet der Rias-Bundesverband von tätlichen Angriffen, direkten persönlichen Drohungen und Beleidigungen oder über Zuschriften sowie über antisemitische Graffiti bis hin zu Markierungen privater Häuser.

Arabische Demonstranten fordern Freiheit für Palästina
Kundgebung in Berlin: "From the River to the Sea" wird als anti-israelisch und antisemitisch gelesen, da in diesem Bild von Palästina ein Staat Israel nicht vorkommt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Demnach richteten sich Aktionen aber auch gegen Gedenkorte, Synagogen und jüdische Einrichtungen und – verglichen mit 2022 – mehr auch gegen andere öffentliche Gebäude.

So seien viele nach dem 7. Oktober etwa an Rathäusern gehisste Israel-Flaggen abgerissen worden. Zu Vorfällen im öffentlichen Raum zählt Rias auch Flugblätter, Plakate oder Aufkleber.

Viele antisemitische Taten richteten sich aber auch unmittelbar gegen Menschen. Nach 331 Fällen 2022 waren es laut Bericht 2023 schon 1.316 – und bei 730 Vorfällen tatsächlich auch Juden oder Israelis betroffen. Bei 454 Fällen im öffentlichen Raum seien Menschen von Angesicht zu Angesicht angegangen worden, häufig an Orten, die sie in ihrem Alltag kaum meiden könnten.

Auch aus Bildungs- und Kultureinrichtungen wurden laut Bericht mehr antisemitische Vorfälle gemeldet, aus Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Museen, Theatern – insgesamt 471 und damit mehr als doppelt so viele wie die 184 Fälle im Vorjahr. Aus Schulen seien schon vor Oktober mehr antisemitische Schmierereien und Äußerungen von Kindern und Erwachsenen bekannt worden als im Vorjahr, zum Teil auch direkt gegen Schüler und Schülerinnen gerichtet. Bis Ende 2023 sei ihre Zahl dann auf insgesamt 233 gestiegen.

Sachsen: Im "Verborgenen gewachsen"

Mit 192 dokumentierten Vorfällen in ihrem ersten Jahresbericht geht auch die Rias in Sachsen von einem weit größeren "Dunkelfeld" aus, das jedoch auch, weil sich die Meldestelle hier noch im Aufbau befinde.

Von 27 Vorfällen, in denen es einzelne Personen getroffen habe, waren dem Bericht zufolge acht Jüdinnen und Juden als solche identifiziert worden. Unter Beispielen auch für pauschale Verunglimpfungen und Bedrohungen aus ganz Sachsen wird etwa eines vom 3. Mai aus Leipzig mit aufgeführt, wo auf einer Schultoilette zu lesen gewesen sei: "Wir müssen die Juden auslöschen".

Thomas Feist, CDU-Politiker und Landesbeauftragter für jüdisches Leben, erklärte zur Pressekonferenz der Rias Sachsen am Montag: "Im Verborgenen gewachsene antisemitische Einstellungen" kämen jetzt offener zum Ausdruck und erzeugten ein gesellschaftliches Klima, in dem es wesentlich schwerer geworden sei, "Judentum öffentlich zu leben". Nach diesem ersten Bericht für Sachsen dürfe man nicht wieder zur Tagesordnung übergehen.

Sachsen-Anhalt: Rias "notwendiger denn je"

Für Sachsen-Anhalt berichtete die Rias bereits vor einigen Tagen von 178 Fällen im vergangenen Jahr. Nach dem ersten Jahresbericht der hier seit 2022 in Halle tätigen Stelle waren das 131 mehr als im Jahr 2022.

Eine Zäsur war demnach auch hier der Terrorangriff der Hamas, mit einem danach "markanten Anstieg der Anzahl antisemitischer Vorfälle". Mehr als 53 Prozent seien 2023 auf das letzte Quartal des Jahres entfallen. Am 8. Oktober schon, ist in dem Bericht zu lesen, störten in Halle etwa 30 bis 40 Männer eine Kundgebung zum Gedenken an die Opfer des Terrorangriffs auf Israel.

Dr. Wolfgang Schneiß, Ansprechpartner für jüdisches Leben in der Staatskanzlei, äußerte sich "dankbar für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Rias". Sie sei auch in Sachsen-Anhalt "leider heute notwendiger denn je" und die Erfassung solcher Vorfälle eine "wichtige Ergänzung zu den Beobachtungen der Sicherheitsbehörden".

Thüringen: Details erst im August

Details zu den 297 aus Thüringen gemeldeten Fällen werden nach Angaben der hier in Jena ansässigen Rias-Meldestelle aus organisatorischen Gründen erst mit ihrem regionalen Jahresbericht am 20. August vorliegen.

MDR AKTUELL (ksc)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 25. Juni 2024 | 19:30 Uhr

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