Zivilschutz Im Ernstfall nur Notlösungen

20. April 2024, 09:00 Uhr

Der Krieg in der Ukraine hat vieles verändert: Lange Zeit war es etwa nicht nötig über Schutzräume für die Bevölkerung nachzudenken. Das hat sich spätestens vor zwei Jahren geändert. Doch wie steht es inzwischen um den Zivilschutz in Deutschland - also Notfallinfrastruktur, Fahrzeuge oder Bunker?

Der schwere Hebel klonkt beim Umlegen. Mit viel Kraft kann Lutz Voigt die Verriegelung der olivfarbenen Metalltür lockern. Langsam schiebt der Mann von der Sächsischen Wohnungsgenossenschaft (SWG) Chemnitz den Bunker auf. Die alte Anlage befindet sich unterhalb eines Wohnblocks in Chemnitz. Es ist ein Relikt des Kalten Krieges, doch inzwischen rücken solche Schutzräume wieder in den Focus.

Nach dem Angriff von Russland auf die Ukraine hat es in Chemnitz eine Bestandsaufnahme gegeben. Die Überlegung: Sollen für die Bevölkerung wieder Schutzräume vorgehalten werden? Doch bislang ist etwa unklar, wie diese ausgestattet sein müssten. Rund 20 alte Bunker gibt es Chemnitz noch – doch teils in desolatem Zustand, berichtet Uwe Schulz von der Berufsfeuerwehr Chemnitz.

Ein Bunker
Ein Blick in den alten Bunker. Bildrechte: MDR exakt

An den staubbedeckten, weißen Wänden sind noch schwarze Kippschalter aus dem vergangenen Jahrtausend. Auf dem Prüfstempel einer Gasflasche steht: 1961. "Dann kommt man hier zu den Toilettenanlagen, im Originalzustand noch", sagt Lutz Voigt und zeigt auf eine weitere Metalltür. Die damaligen Hausbewohner hätten hier vor Bombenangriffen Schutz finden können. Ob das noch funktionieren würde, ist fraglich.

Was macht man mit den alten Anlagen, und was braucht man für den Schutz der Bevölkerung? "Das hängt natürlich davon ab, was muss man eigentlich alles errichten, wovor sollen sie schützen", sagt Feuerwehrmann Schulz, der auch Abteilungsleiter des Zivil- und Katastrophenschutzes Chemnitz ist.

Zivilschutz in Deutschland am Nullpunkt

Seit 2007 gibt es in Deutschland keine einsatzbereiten öffentlichen Schutzräume mehr. Der Bund prüft derzeit, ob man alte Anlagen wieder funktionstüchtig machen kann und erarbeitet die Grundlage für ein modernes Schutzraumkonzept.

Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat deutlich gemacht, warum Zivilschutz so wichtig ist. Neben der Verfügbarkeit von Schutzräumen geht es vor allem darum, die Infrastruktur aufrechtzuerhalten: Strom, Trinkwasser, Gesundheitsversorgung.

Weil der Konflikt die Bedrohungslage auch für Deutschland verschärft, sieht der Bund, zuständig für den Zivilschutz, Nachholbedarf. "Wir müssen für die Zukunft widerstandsfähiger werden, was unsere zivilen Strukturen, Ressourcen und Dienste angeht", hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erst Ende März im Bundestag erklärt. "Das bedeutet: Auch finanziell mehr in die zivile Verteidigung unseres Landes zu investieren."

Dass der Bund nun nachbessern will, ist dringend notwendig: "Wir haben im Grunde genommen keinen Zivilschutz. Nichts, was man so benennen sollte", kritisiert der Professor für Krisen- und Katastrophenforschung an der Freien Universität Berlin, Martin Voss.

Der Sozialwissenschaftler erklärt: "Seit dem Ende des Kalten Krieges haben wir das, was wir bis dato vorgehalten hatten an Schutzkapazitäten, an Waren-Infrastruktur etwa, auch an Reserven, an Lagern und an Krankenhauskapazitäten - also alles das, was wir mal hatten, haben wir abgebaut." Deshalb stehe Deutschland im Zivilschutz am Nullpunkt. "Wir müssen das neu erfinden."

Fehlende Fahrzeuge bei Medizinischer Task Force in Leipzig

Zum Zivilschutz des Bundes gehört auch die "Medizinische Task Force". Einer ihrer 61 Standorte befindet sich in Leipzig. Diese Einheit, die von den Johannitern und drei anderen Hilfsorganisationen betrieben wird, ist spezialisiert auf Szenarien mit vielen Verletzten. Die Technik ist hochmodern. Einige Fahrzeuge haben Militärstandards. Im Katastrophenschutzfall kommen sie teilweise jetzt schon zum Einsatz - wie beim Hochwasser im Ahrtal.

Wir wären nicht in der Lage, großflächig Patienten zu dekontaminieren, was ein Hauptauftrag der Medizinischen Task Force ist.

Mario Preller Zuständig für Zivilschutz in Leipzig

Doch die Medizinische Task Force hat ein Problem. Von eigentlich 27 Fahrzeugen fehlen 11. "Wir wären nicht in der Lage, großflächig Patienten zu dekontaminieren, was ein Hauptauftrag der Medizinischen Task Force ist", erklärt Mario Preller, der in Leipzig für den Zivilschutz zuständig ist. "Weil diese Technik noch nicht ausgeliefert wurde." Doch genau diese würde bei einem Angriff mit chemischen Waffen gebraucht.

Es ist ein Vorwurf an den Bund, der die Fahrzeuge seit Jahren schuldig bleibt. Auf Anfrage dazu von MDR Investigativ schreibt das Bundesinnenministerium (BMI): "Die angesprochenen Fahrzeuge […] befinden sich derzeit in Beschaffung und sollen zum Teil in diesem Jahr und zum Teil in den kommenden Jahren (2025-2026) den […] Standorten zugeliefert werden."

THW muss sich auf neue Bedrohungen vorbereiten

Auch das im Jahr 1950 gegründete Technische Hilfswerk (THW) soll die zivile Bevölkerung schützen. In Friedenszeiten sind die Helfer etwa bei Naturkatastrophen im Einsatz, jetzt bereiten sie sich auch auf eine militärische Bedrohung vor.

In Sachsen und Thüringen entwickelt Martin Wolter für die THW-Ortsverbände entsprechende Einsatzstrategien: "Wir können es ähnlich vielleicht machen wie mit dem Einsatz im Ahr-Tal." Da hat es eine großflächige Zerstörung bis hin zur Infrastruktur gegeben. Dort habe das THW etwa Brücken wiederaufgebaut. "Das ist eine Fähigkeit, die gerade im Bereich des Zivilschutzes sehr gefragt ist", sagt Wolter. "Also das Wiederherstellen der Infrastruktur, um die Zivilbevölkerung zu unterstützen oder auch gegebenenfalls sogar die Beweglichkeit der Bevölkerung und von Truppenteilen wieder zu ermöglichen."

Das THW profitierte in den vergangenen Jahren von Sonderprogrammen, zum Beispiel für die Beschaffung von Einsatzfahrzeugen. Diese sind nun ausgelaufen. "Wir konnten den bisherigen Status quo einmal etwas modernisieren und auch mit den aktuellen finanziellen Mitteln halten", sagt Wolter. "Wenn noch zusätzliche Aufgaben oder erweiterte Aufgaben an uns gestellt werden, braucht man auch da mehr Finanzmittel.” Das BMI teilt dazu mit, dass man das THW weiterhin stärken wolle, doch der Haushalt für 2025 stehe noch nicht fest.

Sachsen: Innenminister fordert mehr Geld für Zivilschutz

Politiker Armin Schuster.
Sachsen Innenminister Armin Schuster. Bildrechte: MDR exakt

Auch der sächsische Innenminister Armin Schuster hält den Zivilschutzes für mangelhaft: "Die Fähigkeit mit chemisch-biologisch-radioaktiv-nuklearen-Gefahren umzugehen, Trinkwasser-Notversorgung und vor allem die Notstrom-Versorgung. Das sind alles Aufgaben des Bundes", kritisiert der CDU-Politiker. "Schutzräume, zivilschutzfähige Hubschrauber. Das alles müsste der Bund bereithalten, beziehungsweise in den Ländern bereithalten, sodass wir auch darauf zugreifen könnten. Da bleibt er aber einiges schuldig oder alles."

Trinkwasser-Notversorgung, Notstrom, Schutzräume. Das alles müsste der Bund bereithalten. Da bleibt er aber einiges schuldig oder alles.

Armin Schuster Innenminister in Sachsen

Schuster fordert, dass der Bund für angemessenen Zivilschutz mehr Gelder bereitstellen müsse. Das BMI schreibt auf MDR-Anfrage dazu, man habe die Haushaltsmittel dafür in den letzten Jahren deutlich erhöht: "Der Bund leistet Beträchtliches im Bevölkerungsschutz und wird sich auf dieser Basis für weitere Mittelsteigerungen einsetzen."

Im Ernstfall nur Notlösungen

Chemnitz hat rund 250.000 Einwohner. Im Ernstfall hätten sie derzeit keine einsatzbereiten Schutzräume. "Dann müssten wir wirklich aus der Situation heraus, Tiefgaragen nutzen oder Gebäude, die Keller haben, die groß genug sind", sagt Feuerwehrmann Schulz im ausgedienten Bunker.

Neben ihm steht Lutz Voigt. Der SWG-Vorstand sagt: "Wie viele Jahre haben wir jetzt positive Entwicklung gehabt." Nun würden die Auseinandersetzungen weltweit zunehmen. "Und man kann momentan nicht einschätzen, wo das Ende ist. Und deswegen macht einem das einfach Angst.”

Der Bunker aus den Sechzigerjahren war nie in Benutzung. Jetzt verfällt er zusehends. Bei den Schutzräumen gibt es in Chemnitz derzeit nur Notlösungen. Insgesamt ist Deutschland in Sachen Zivilschutz nicht ausreichend vorbereitet.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 17. April 2024 | 20:15 Uhr

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