Kriminalfälle der Einheit
Kriminalität: in der DDR eine Randerscheinung, nach Mauerfall und Wiedervereinigung nahm sie erschreckend zu. Bildrechte: Hoferichter & Jacobs

Kriminalfälle der Einheit Der Osten nach 1989: ein Eldorado für Kriminelle

30. September 2022, 18:39 Uhr

Im Zuge der politischen Wende 1989/90 hatten die neuen Bundesländer mit einer beispiellosen Verbrechenswelle zu kämpfen. Vorbereitet war darauf wohl niemand und die Antwort des Staates ließ erstaunlich lange auf sich warten.

Bis heute fremdeln viele Ostdeutsche mit dem System, in dem sie seit 1990 leben und das, obwohl es den meisten relativ gut geht. Einer Umfrage zum 30. Mauerfalljubiläum zufolge beurteilen 72 Prozent der Ostdeutschen die Wiedervereinigung positiv, 61 Prozent glauben, dass es den Ostdeutschen . Eine Mehrheit der Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung auch materiell besser geht (Umfrage von Kantar/Emnid im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung, Herbst 2019). Gleichzeitig ist aber nach wie vor die Vorstellung weit verbreitet, dass das bestehende System nicht gerecht sei.

Nach dem Mauerfall: Zeit der Extreme

Auf den ersten Blick ist das ein erstaunlicher Widerspruch. Hinterfragt man ihn, liegt der Grund häufig in Erlebnissen und Eindrücken aus den Jahren von Umbruch und Neuordnung nach 1989, die bis heute prägend sind. Die Abwicklung von Betrieben, Organisationen und sogar Vereinen ging häufig mit der kompletten Infragestellung der eigenen Lebensperspektive einher, aber auch mit einer scheinbaren oder tatsächlichen Missachtung dessen, was bis dahin wichtig war.

Die Wende brachte eine Zeit der Extreme. Im Schatten der Umbrüche und gesellschaftlichen Neuordnung entstand ein Vakuum, das sich einige zu Nutze machten. Plötzlich hatten die Bürger der ehemaligen DDR mit kriminellen Machenschaften bislang unbekannten Ausmaßes zu tun.

Sprunghaft nahm die Kriminalität im Osten zu: fast täglich ereigneten sich Banküberfälle, Gemäldediebstähle und Einbrüche. Und nicht zuletzt die großen Wirtschaftsdelikte der Nachwendezeit hielten die Menschen von der Ostsee bis zum Thüringer Wald in Atem.

Rechtsfreie Räume in Ostdeutschland

Die Zeit im "wilden Osten" der 1990er-Jahre bot mit ihren rechtsfreien Räumen, mangelnder Kontrolle bei Privatisierungen und der öffentlichen Hand geradezu den Nährboden für kriminelle Energien. Denn tatsächlich dauerte es ein gutes Jahr, bis im Zuge der Deutschen Einheit die neuen Grundlagen des gesamten öffentlichen Lebens umgesetzt werden konnten: neue Gesetze, neue Beamte und neue Strukturen. Der Föderalismus machte dieses Prozedere in den fünf neuen Bundesländern nicht eben einfacher. Auf dem Land dauerte dieser Prozess noch länger, hier waren z.B. Polizeistationen auch 1991 noch nicht auf dem neuesten Stand.

Anstieg Kriminalität / Anzeigen 1989 zu 1990
Strafanzeigen 1989 und 1990: Insgesamt haben die Anzeigen in Ostdeutschland um 30,3 Prozent zugenommen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ein besonders eindrucksvolles Kapitel ist die Umwandlung dessen, was die DDR als "Volkseigentum" deklariert hatte und was neben Investoren und echten Interessenten auch Glücksritter und Betrüger anzog. Subventionsgelder wurden veruntreut, gutgläubige Kommunen ließen sich von großspurigen Versprechungen blenden und alte Seilschaften nutzten komplizierte Firmengeflechte, um sich auf Kosten der Steuerzahler zu bereichern.

Nachwende-Chaos bringt Milliarden-Schäden

1998 schätzte der Untersuchungsausschuss, den der Bundestag zum Verbleib des DDR-Vermögens eingerichtet hatte, den Schaden, der durch Veruntreuung, Betrug und andere kriminelle Handlungen im Zusammenhang mit der Privatisierung der DDR-Volkswirtschaft verursacht wurde, auf drei bis zehn Milliarden D-Mark. Dass keine genauere Zahl vorliegt, legt den Verdacht nahe, dass die Dunkelziffer höher liegt und viele Fälle niemals ans Tageslicht gekommen sind. Die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) bearbeitete bis zum Jahr 2000 insgesamt 20.327 Ermittlungsverfahren, 4.004 allein wegen "vereinigungsbedingter Wirtschaftskriminalität". Sie schätzte den Schaden sogar auf 26 Milliarden D-Mark. Herausgekommen ist bei allen Bemühungen der Aufklärung aber wenig. Geblieben ist oft das Gefühl des "Betrogenwordenseins" im Osten.

Die Kriminalfälle der Einheit haben ihre Spuren hinterlassen und zählen zu den Phänomenen der Nachwendezeit, die unser Land und unseren Blick auf die Zeit bis heute prägen. So blieb etwa von Europas einst größter Spezialreederei in Rostock, der "Bagger-, Bugsier- und Bergungsreederei", nach nicht einmal zwei Jahren nur noch ein wirtschaftlicher Scherbenhaufen übrig. Insgesamt kassierten vermeintliche Investoren mehr als 40 Millionen Mark Subventionsgelder. Auch die dubiosen Geschäfte um die Deponie Schönberg zeigen die verheerenden Auswirkungen von Wirtschaftsdelikten.

Banküberfälle nehmen zu

Doch nicht die Wirtschaftskriminalität nahm zu. Schlecht ausgestattete Bankfilialen, die nur über unzureichende Sicherungssysteme verfügten, wurden quasi über Nacht zum Ziel von Bankräubern. Zu Beginn der 1990er-Jahre nahmen Banküberfälle merklich zu. Als die D-Mark am 1. Juli 1990 eingeführt wurde, registrierte die Polizei durchschnittlich vier Überfälle auf Geldinstitute am Tag. Bis dahin, so erinnert sich der ehemalige Kriminalbeamte Gerhard Rogalla, kannte man diese Art der Kriminalität eigentlich nicht.

Eine Bande von Bankräubern blieb besonders im Gedächtnis: Innerhalb von fünf Jahren erbeuteten die Täter von Rügen bis Thüringen rund zehn Millionen D-Mark. Die Haupttäter konnten erst 1997 gefasst werden. Der Großteil der Beute ist bis heute verschwunden.

Geschichte

Die Polizei wird auch mit Verbrechen konfrontiert, die sie aus DDR-Zeiten kaum kannte, wie etwa Banküberfälle. Die D-Mark und die schlecht gesicherten Filialen locken Täter an.
Die Polizei wird auch mit Verbrechen konfrontiert, die sie aus DDR-Zeiten kaum kannte, wie etwa Banküberfälle. Die D-Mark und die schlecht gesicherten Filialen locken Täter an. Bildrechte: ©MDR/Hoferichter & Jacobs

Schlecht gesicherte Kunstwerke

Neben Sparkassen und Banken standen auch Museen und Gemäldegalerien bei Kriminellen in der Nachwendezeit hoch im Kurs. Denn sowohl dort als auch in vielen Kirchen, Schlössern und Universitäten hingen wertvolle Kunstwerke – häufig schlecht gesichert und schlecht bewacht.

Die Grenzen waren offen und es gab einen weltweiten Markt für das Diebesgut. So wurden beispielsweise 1992 in Weimar acht Gemälde mit einem geschätzten Wert von 63 Millionen D-Mark gestohlen.

Der Artikel wurde erstmalig 2018 veröffentlicht und 2022 aktualisiert.
(IB)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR ZEITREISE | 13. September 2020 | 22:00 Uhr

Mehr zur Wiedervereinigung