Hintergrund zur ZERV-Doku Stasi-Morde - ein Fall für Sonderermittler nach der Wende
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25. Februar 2022, 14:44 Uhr
Der Kriminalhauptkommissar Edzard Kranz lässt sich Anfang der 1990er-Jahre aus Niedersachen in eine Berliner Spezialeinheit versetzen, die DDR-Verbrechen aufklären soll. Ihr Name: ZERV – Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität. Neben Waffenhandel oder Schauprozessen ermitteln Kriminalbeamte wie Kranz dort auch zu den Toten an der innerdeutschen Grenze und den Auftragsmorden der Staatssicherheit.
Was ist die ZERV?
Die ZERV (Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität) ist die größte Sondereinheit der Kriminalpolizei in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie wird 1991 gegründet und nimmt 1992 ihre Arbeit auf. Die meisten Ermittler kommen kurz nach der Wende aus den alten Bundesländern. Sie reisen nach Ost-Berlin, um dort Straftaten aufzuklären, die in den Wendejahren und während der DDR-Zeit begangen wurden. Auch die Bevölkerung wird aufgerufen, Unrecht zu melden.
ZERV-Start im Chaos
In Ost-Berlin finden die ZERV-Ermittler Bedingungen vor, mit denen sie nicht gerechnet hatten: Tausende Kartons mit Akten und Unterlagen, keine Computer, keine Drucker, keine Struktur, Trabis und Barkas als Dienstwagen. Zum Telefonieren gehen sie anfangs in Telefonzellen, aus Sorge, abgehört zu werden. Es dauert lang, bis sie 1994 endlich geeignete Räume am Flughafen Tempelhof beziehen können und nach und nach so ausgestattet sind, dass sie effizient arbeiten können.
Welche Fälle bearbeitete die ZERV?
Die Abteilung ZERV 1 befasst sich mit politischen Fällen wie Waffenhandel und Korruption. Die ZERV 2 nimmt Schicksale von Menschen unter die Lupe, darunter Entführungen, die Verurteilung von Unschuldigen, Auftragsmorde und Dopingopfer.
Was bleibt von der ZERV?
Ab 1998 kommen immer weniger Kriminalbeamte nach Berlin. Die Gelder werden gekürzt. Zum Ende des Jahres 2000 wird die ZERV aufgelöst. Zu diesem Zeitpunkt tritt für zahlreiche Fälle endgültig die Verjährung in Kraft. Insgesamt haben die ZERV-Beamten mehr als 20.000 Fälle bearbeitet, einige Milliarden veruntreuter Gelder zurückgeholt und manchen Kriminellen vor Gericht gebracht. Für die fast 700 Ermittler, die in acht Jahren diese Sonderkommission erlebten, war es eine einmalige Zeit.
Hunderte Menschen starben an der innerdeutschen Grenze, die Ost und West trennte. Sie wurden Opfer von Sprengfallen, Selbstschussanlagen oder wurden von Grenzsoldaten erschossen. Edzard Kranz hat sich zur ZERV versetzen lassen, um die Täter und Hintergründe zu ermitteln.
ZERV-Ermittlungen zu Grenztoten
Zwar ist die DDR Neuland für den jungen Kommissar, doch in Sachen Tatortarbeit und Todesermittlungen ist er Profi. Ein SPIEGEL-Artikel ist Ausgangspunkt für einen mysteriösen Fall, der ihn zwei Jahre lang beschäftigen wird.
Es geht um den Tod eines Westdeutschen: Walter Otte. Beim Versuch, die Grenze nach Osten zu überwinden, wurde er erschossen. Dabei war es für Westdeutsche normalerweise unkompliziert, in den Osten zu reisen. Was war da passiert?
Walter Otte: an der DDR-Grenze erschossen
Kranz wühlt sich durch Aktenberge. Aus dem Militärarchiv Potsdam kommt der erste Hinweis zum Tod von Walter Otte. In den Tagesmeldungen der DDR-Grenztruppen ist haargenau aufgeschrieben, was in der Todesnacht – im Juni 1976 bei Stapelburg – geschah.
Am 10.06.1976 gegen 23.32 Uhr erfolgte im Abschnitt des 1. Grenzregimentes 20 [...] die Festnahme einer Person unter Anwendung der Schusswaffe mit Todesfolge, nach Verletzung der Staatsgrenze BRD/DDR.
Wollte die Stasi einen unbequemen Zeugen ermorden?
Mehr über das Opfer erfährt ZERV-Ermittler Kranz in MfS-Aufzeichnungen, die er von der Stasi-Unterlagenbehörde angefordert hat: Walter Otte strandete 1945 nach der Flucht aus Schlesien in Bad Harzburg. Dort arbeitete er als Kohlenträger. Oft stand er angetrunken am streng bewachten Grenzzaun. Sechs Mal war es ihm sogar gelungen, die Grenze vom Westen in den Osten zu überwinden.
Die Stasi wurde auf ihn aufmerksam und warb ihn an. Doch die Zusammenarbeit hielt nicht lange. Er galt als unzuverlässig, so steht es in den Akten. Man wollte ihn loswerden, vermutet Kranz. Am 10. Juni 1976 wurde Walter Otte an der Grenze erschossen.
Der Tatvorwurf lautete damals, dass man ihn ganz bewusst beim nächsten Grenzübertritt beseitigen wollte.
Doch woher wusste die Stasi, wann Walter Otte vom Westen in den Osten wollte? Und von wem wurde er erschossen?
ZERV-Ermittler laden Ex-Grenzschützer vor
Ermittler Kranz kennt nun den Namen des Opfers und den Tatort. Doch wer war der Todesschütze? Im Wachbuch findet Kranz schließlich heraus, wer am 10. Juni 1976 Dienst hatte. Aus dem abstrakten Todesschützen wird plötzlich ein konkreter Mensch: Fähnrich Erwin G., wohnhaft in Ilsenburg, Sachsen-Anhalt.
Der ehemalige Grenzsoldat hatte nicht damit gerechnet, dass irgendwann einmal die Polizei vor seiner Tür stehen könnte, um ihn als Beschuldigten zu vernehmen. Nun wird er von Kranz verhört – im Winter 1993, 17 Jahre nach dem Vorfall.
Er meinte: Das, was er seinerzeit gemacht hat, da war er im Recht. Er hat konkret gesagt: Man dürfe jeden, der versucht, die Grenze zu durchbrechen, erschießen.
Dazu urteilte der Bundesgerichtshof am 3. November 1992 allerdings grundsätzlich anders: Die Todesschüsse an der Grenze waren durch DDR-Recht nicht gerechtfertigt.
Auftragsmord der Stasi oder Diensterfüllung?
Beim Verhör mit Kranz verwickelt sich der ehemalige Grenzer Erwin G. in Widersprüche: Er gibt an, vom Bahndamm aus geschossen zu haben, aus zehn Metern Entfernung. Kranz lässt ihn eine Skizze anfertigen und beschließt sogar, mit ihm an den Tatort zu fahren, um die Tat vor Ort zu rekonstruieren. Schnell wird dem Ermittler klar: Die Richtung des Schusses kann nicht stimmen, G. lügt.
Wieder und wieder wird G. befragt, schließlich bricht er ein. Er gesteht: Der Auftrag kam von seinem Befehlshaber. Das MfS hatte Otte einbestellt, um ihn beim Grenzübertritt zu "liquidieren".
Gegen 23:30 Uhr erhielt ich über das Grenzmeldenetz den Befehl, mich in Richtung Bahndamm zu begeben, weil dort eine Person von feindwärtiger Seite her ruft und randaliert. Ich kann mich noch erinnern, dass die Person rief: "Hallo! Freunde. Ich bin da. Holt mich rüber."
G. antwortet: "Wir sind hier". Als Otte aus der Deckung kommt, erschießt er ihn.
Inszenierter Suizid soll Stasi-Mord vertuschen
Nach dem Vorfall wird Walter Otte verletzt ins Batallionsgebäude gebracht. Dort verstirbt er an seinen Schussverletzungen. Die Sanitäter bekommen den Befehl, den Leichnam zur Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit zu fahren – an einen Ort, an den normalerweise kein Toter hinkommt. Tage später verbreitet das Fernsehen der DDR diese Meldung: "Am 10. Juni 1976 wurde in Magdeburg eine unbekannte männliche Person tot aufgefunden."
Der Unbekannte ist Walter Otte, abgelegt im Magdeburger Stadtpark, mit einer Pistole neben sich. Es sollte wie Selbstmord aussehen. Walter Otte wird als unbekannter Toter in einem Magdeburger Krematorium verbrannt und auf dem Westfriedhof beigesetzt. Die Personen, die seinen Tod vertuschen, kann Kranz nicht vor Gericht bringen. Den Schützen aber schon.
Mildes Urteil gegen DDR-Grenzschützer
Der damals 57-jährige G. wird zu "lebenslanger Haft wegen Mordes“ verurteilt. Es ist das bislang höchste Strafmaß gegen einen ehemaligen DDR-Grenzsoldaten. Nach einer Revision wird das Urteil jedoch auf drei Jahre Haft wegen Totschlags abgemildert.
Der Auftragsmord an Walter Otte ist nur einer von etlichen Todesfällen, die in Wahrheit vermutlich im Auftrag der Stasi und DDR-Führung begangen wurden – und die Jahre später Ermittler der ZERV beschäftigten.
(me)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | ZERV: Auftragsmord und Waffenhandel | 20. Februar 2022 | 19:50 Uhr