Wohncontainer für Geflüchtete 3 min
Bildrechte: IMAGO / Sylvio Dittrich
3 min

Eine neue Befragung der Uni Hildesheim zur Unterbringung von Geflüchteten zeigt, ob und in welchen Bereichen die Kommunen am Limit sind. Timur Vorkul berichtet.

MDR AKTUELL Sa 31.08.2024 00:00Uhr 03:19 min

https://www.mdr.de/wissen/audios/unterbringung-kommunen-ueberlastung-gefluechtete-100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Audio

Aufnahme von Geflüchteten Wie überlastet sind die Kommunen? Vergleich von Ost und West

30. August 2024, 16:21 Uhr

Eine neue Befragung der Uni Hildesheim zur Unterbringung von Geflüchteten in den Kommunen liefert wichtige und zum Teil überraschende Einsichten, insbesondere im Ost-West-Vergleich.

Bei der Unterbringung von Schutzsuchenden stoßen die Städte und Gemeinden an ihre Grenzen. "Die Geflüchteten sitzen bei uns in den Gemeinschaftsunterkünften und wir finden einfach keinen Wohnraum in genossenschaftlichen Wohnungen oder privaten Wohnungen, wo die Flüchtlinge hinziehen können und dann mit ihrem Aufenthaltstitel langfristig eine Heimat finden", erklärt Martin Rosenstengel, Sozialdezernent im Thüringer Wartburgkreis, gegenüber dem MDR. Die Aufnahme von Geflüchteten und die Überforderung der Kommunen ist aktuell eines der größten Themen in den Landtagswahlkämpfen. "Kommunen am Limit" heißt es, wenn die Debatte aufflammt wie verstärkt vergangenen Herbst.

Umso mehr lohnt sich ein Blick auf die genauen Zahlen. Eine Befragung der Kommunen liefert nun konkrete Daten, wie es um die Unterbringung von Geflüchteten in den Kommunen steht. Ein Forschungsteam um Boris Kühn von der Universität Hildesheim hat im Mai dieses Jahres rund 800 deutsche Kommunen nach ihrer Einschätzung der tatsächlichen Lage gefragt. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Landrätinnen und Landräte sowie Mitarbeitende von Fachabteilungen für Unterbringung haben für ihre Kommune den Fragebogen ausgefüllt. Das ist bereits die zweite Befragung der Kommunen durch das Forschungsteam. Bei dieser liegen nun umfangreichere Daten aus ostdeutschen Kommunen vor als bei der ersten. Die Ergebnisse zeigen: viele Kommunen sind überlastet, die große Mehrheit schätzt die Lage aber noch als machbar ein. Von einer flächendeckenden Überforderung im Osten kann zudem nicht die Rede sein.

Was den Forscher und sein Team dabei besonders überrascht hat: Mehr als die Hälfte aller Kommunen bringen die meisten Geflüchteten in Wohnungen unter. Kleinere Kommunen greifen zudem wesentlich häufiger auf Wohnungen zurück als größere. Kühn zufolge bedeute das aber keinesfalls, dass Asylsuchende in eigenen privaten Wohnungen leben und in den Genuss eines hohen Wohnkomforts kommen. Oft müssen sich mehrere Familien eine Wohnung teilen. Das kann in der Praxis bedeuten, dass zwei dreiköpfige Familien auf 70 Quadratmetern zusammenleben müssen. Gerade Alleinstehende haben so gut wie keine Chance auf eine separate Wohnung und werden mit anderen fremden Menschen in einem Zimmer untergebracht.

"Etwas überrascht hat uns, dass aus ostdeutschen Kommunen eine etwas entspanntere Lage im Durchschnitt berichtet wurde, als aus Westdeutschland: es wurde deutlich seltener ein Notfallmodus konstatiert". Gegenüber gut einem Viertel der Kommunen im Westen, stellen rund 8 Prozent der Kommunen im Osten einen Notfallmodus fest. Im Osten sieht sogar gut jede fünfte Kommune die Lage "ohne größere Schwierigkeiten". Das häufigste Problem bei der Unterbringung von Geflüchteten ist der sogenannte Auszugsstau.

Auszugsstau: Geflüchtete finden keine Wohnungen

"Es ist einfach nicht klar, wie es weitergeht", sagt Mohanad, ein junger Geflüchteter dem MDR Thüringen. Er ist in einer Halle am Rand von Hermsdorf untergebracht und hat bereits einen gültigen Aufenthaltstitel. Hermsdorf ist neben Eisenberg und der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl ein zentraler Ort für Schutzsuchende in Thüringen. Dort werden Neuankommende registriert und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge interviewt. 

Jenseits der Ankunftszahlen ist der am häufigsten genannte Grund für die schwierige Lage, dass Geflüchtete länger in den Unterkünften bleiben, als das rechtlich notwendig wäre. Grundsätzlich besteht spätestens nach einem positiven Abschluss des Asylverfahrens keine Verpflichtung mehr, in kommunalen Unterkünften zu wohnen. Bei noch laufenden und zum Teil jahrelang andauernden Asylverfahren gilt üblicherweise die Frist von zwei Jahren. Spätestens dann dürfen Schutzsuchende aus der Unterkunft ausziehen. "Die Menschen dürfen ausziehen, wollen ausziehen, finden aber schlicht keine Wohnung", fasst Boris Kühn das Problem zusammen.

Da es keinen Durchlauf gibt, stehen Plätze für Neuankommende nicht zur Verfügung. Ein Auszugsstau entsteht. Den Stau gibt es selbst dann, wenn nicht viele Menschen nachkommen. Denn solang mehr Menschen nachkommen als ausziehen, verschärft sich die Lage. Eine Entlastung ist letztlich nur dann in Sicht, wenn mehr Menschen ausziehen können als nachkommen. Insbesondere in den letzten Jahren, seit der russischen Invasion in der Ukraine und punktuell steigenden Ankunftszahlen von Geflüchteten, hat sich der Auszugstau zu einem nahezu flächendeckenden Phänomen bundesweit verstärkt. Der Auszugsstau hängt mit einem vielerorts angespannten Wohnungsmarkt zusammen. Geflüchtete sind vom Mangel an sozial gefördertem und bezahlbarem Raum unmittelbar betroffen. Denn in der Regel kommt zunächst dieser für sie in Frage.  

In kleineren Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnenden ist der Auszugsstau seltener ein Problem. Auch im Osten ist der längere Verbleib der Auszugsberechtigten mit 60 Prozent im Verhältnis zum Bundesdurchschnitt (87 Prozent) deutlich schwächer ausgeprägt. Der Mangel an verfügbaren Gebäuden oder Grundstücken wird im Osten etwas seltener problematisiert. "Das erklären wir uns im Wesentlichen mit einem im Durchschnitt weniger angespannten Wohnungsmarkt, mit höherem Leerstand und teilweise auch Altbeständen an Sozialwohnungen, über die manche Kommunen im Osten noch verfügen können", sagt der Wissenschaftler. Bis auf wenige Ausnahmen in Großstädten ist der Wohnungsleerstand in den meisten ostdeutschen Regionen vergleichsweise hoch.

Eine Karte zeigt die deutschen Bundesländer, die dem Westen zugeordnet werden und die, die dem Osten zugeordnet werden. In West nutzen durchschnittlich 40 Prozent der Kommunen Notunterkünfte für Geflüchtete, in Ost 12 Prozent
Bildrechte: MDR WISSEN, Uni Hildesheim/Mediendienst Integration

Eine etwas entspanntere Lage im Osten bestätigt sich auch mit Blick auf Notunterkünfte. 40 Prozent der westdeutschen Kommunen geben an Notunterkünfte zu nutzen. Ostdeutsche Kommunen müssen mit zwölf Prozent deutlich seltener auf Notunterkünfte zurückgreifen.

Kommunen bereiten sich langfristig vor

Container in grellem Orange, Gelb, Lila und Rot sind aufeinandergestapelt und ergeben zusammen eine bunte Fassade. In Jedem Container gibt es ein großes Fenster. In drei von vier Fenstern ist der Rollladen runtergelassen.
Wohncontainer, in vielen Fällen die Lösung für neue Unterkünfte. Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Viele Kommunen begreifen die Unterbringung von Geflüchteten nicht mehr nur als eine akute Aufgabe – das ist ein weiteres zentrales Ergebnis der Befragung. Insgesamt rund dreiviertel der Kommunen bereiten sich langfristig auf die Aufnahme möglicher Neuankommender vor, wenn auch mit regionalen und größenbedingten Unterschieden. Im Osten geben deutlich weniger Kommunen als im Westen an, weitere Vorbereitungen zu treffen. Auch größere Kommunen mit über 100.000 Einwohnenden sind deutlich aktiver als kleinere Kommunen bis 5.000 Einwohnenden.

Konkret bedeutet das, dass die Zuständigen permanent nach Wohnraum suchen, Wohnungen und Grundstücke anmieten oder kaufen. Häufig sind Containerunterkünfte im Gespräch oder bereits in Planung. Sollten die Ankunftszahlen erneut steigen, ziehen viele Kommunen in Erwägung, kurzfristig mit Containern zu reagieren. Diese werden als schnelle Lösung betrachtet, wenn der Bau neuer Gebäude über einen längeren Zeitraum nicht realisierbar ist.

Ausländerbehörden und Kitas am stärksten überlastet

Neben der Unterbringung gibt es andere Bereiche, wo sich der Befragung zufolge größere Schwierigkeiten als bei der Unterbringung zeigen. Insbesondere die Ausländerbehörden sind bereits seit einigen Jahren stark überlastet, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung festgestellt hat. Der Fachkräftemangel im öffentlichen Dienst wird hier besonders spürbar. Lange Wartezeiten, nicht bearbeitete Anträge und mangelnde Erreichbarkeit sind hier nicht unüblich. Die Ausländerbehörde ist ist für eine Reihe von bürokratischen Vorgängen zuständig: hier werden Asylverfahren bearbeitet, Einbürgerungen bewilligt und Abschiebungen angeordnet.

In einem Uni-Hörsaal sitzen Menschen in mehreren Reihen dicht nebeneinander und hören zu. Die meisten blicken nach vorne, eine Person mit pinkem Kopftuch in der hinteren Reihe blickt in die Kamera. Es sind Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt anwesend.
Die Ausländerbehörde hatte zu einer Info-Veranstaltung in der Uni Magdeburg eingeladen. Bildrechte: MDR/Max Hensch

"Die Behörde ist die wichtigste Schnittstelle für Menschen aus dem Ausland. Sie steht im Zweifelsfall zwischen ihnen und einem guten Leben. Die Menschen sind absolut auf sie angewiesen", sagte Aram Badr, der Sprecher des Syrisch-Deutschen Kulturvereins in Magdeburg gegenüber dem MDR Sachsen-Anhalt. In der Magdeburger Ausländerbehörde liegen einige Anträge bereits sehr mehreren Jahren zur Bearbeitung vor. Anfang dieses Jahres waren dort 17 von 100 Stellen durch Schwangerschaft, Elternzeit oder Krankheit unbesetzt. Die Leiterin Antje Schirmer gibt an, dass die Mitarbeitenden ihr Möglichstes tun, es aber angesichts des Personalmangels nicht schaffen. Mehr Personal für die Behörde zu finden ist schwierig. Das liegt nicht zuletzt am immer komplexer werdenden Ausländerrecht. "Die häufigen Gesetzesänderungen werden in der Regel kaum auf ihre Wirksamkeit und Praxistauglichkeit evaluiert", erklärt Boris Kühn.

Ein personeller Engpass in der Ausländerbehörde kann die Integration der Schutzsuchenden in den Arbeitsmarkt verzögern oder gar verhindern. Denn: sie müssen die Genehmigung der zuständigen Ausländerbehörde einholen, um eine Arbeit aufzunehmen. Wie viele Geflüchtete erwerbstätig sind, hängt stark von den institutionellen Rahmenbedingungen ab, fand eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung heraus. "So geht die Beschleunigung der Asylverfahren und schrittweise Reduzierung der Fristen für Beschäftigungsverbote mit einem Anstieg der Erwerbstätigenquoten der Geflüchteten einher", sagte der Forschungsbereichsleiter Herbert Brücker. Von den Schutzsuchenden, die zwischen 2013 und 2019 nach Deutschland gezogen sind, arbeiten zwei Drittel der Geflüchteten acht Jahre nach ihrem Zuzug.

Neben den Ausländerbehörden haben die befragten Kommunen auch Kitas und Schulen häufig als stark überlastet eingeschätzt. Ähnlich wie bei der Unterbringung fallen die Rückmeldungen im Osten aber wieder etwas positiver aus. Bei den Kitas ist der der Unterschied sogar sehr merkbar. Insgesamt in knapp jeder zweiten Kommune wird die Kinderbetreuung als überlastet oder im Notfallmodus eingeschätzt. Im Osten ist das nur in etwa jeder sechsten Kommune der Fall.

Mehr Geflüchtete im Osten aufnehmen?

Wenn es also mehr Kapazitäten im Osten gibt, liegt es dann nicht nahe, die meisten Geflüchteten dort unterzubringen? Die Antwort ist nein. Zum einen bietet der Arbeitsmarkt an den Orten, wo es noch verfügbaren und preiswerten Wohnraum gibt, wenig Chancen für Schutzsuchende. Um Arbeit zu finden, ziehen Menschen aus eben diesen Orten in städtische und wirtschaftlich stärkere Regionen. Zum anderen ist die politische Stimmung in den östlichen Bundesländern nicht zu vernachlässigen. "Jeder Vorschlag, mehr Menschen in ostdeutschen Kommunen unterzubringen, ist politisch zum Scheitern verurteilt und vermutlich auch nicht im Sinne der Geflüchteten", sagt Boris Kühn. So wie im Thüringer Dorf Eckolstädt: Dort sind sich der Oberbürgermeister Axel Schörnig und die Schutzsuchenden darin einig, dass die Infrastruktur im Dorf nicht ausreicht. Die Letzteren wünschen sich eine bessere Verkehrsanbindung von Eckolstädt und eine Einkaufsmöglichkeit im Dorf. Der letzte Laden wurde dort aus Altersgründen geschlossen.

Ist eine andere Verteilung denkbar?

Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, die Anspannung des Wohnungsmarktes gänzlich außer Acht zu lassen. Aktuell werden Geflüchtete nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Dieser richtet sich zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl der Länder. Er wird jährlich von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz neu berechnet. Dieser lasse sich differenzierter ausgestalten, sagt der Migrationsforscher Kühn. "Welche Kommunen können oder müssen vielleicht vorübergehend weniger Geflüchtete aufnehmen, weil der Wohnungsmarkt gar nicht mehr aufnahmefähig ist? Wo sind für Familien mit Kindern bessere Chancen auf eine Kita-Infrastruktur?". Ein besseres Matching zwischen den Bedarfen von Geflüchteten und den Bedarfen der Kommunen sei möglich.

Links/Studien

Die Ergebnisse der Befragung von Boris Kühn und Franziska Ziegler von der Universität Hildesheim gibt es hier als pdf.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Thüringen Journal | 16. Juli 2024 | 19:13 Uhr

Mehr zum Thema

Logo MDR 4 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK