Schwarz-weiß-Bild bon Kohlekraftwerk Lippendorf mit hohen Kühltürmen mit aufsteigendem Dampf, Vordergrund Feld
Der dritte Teil des aktuellen IPCC-Berichts ist auch ein Abgesang auf fossile Energiegewinnung – wie hier im westsächsischen Kohlekraftwerk Lippendorf. Bildrechte: imago images/STAR-MEDIA

6. Sachstandsbericht des IPCC Weltklimabericht: Jo, wir schaffen das!

Forschende drängen auf massives Engagement im Klimaschutz

04. April 2022, 18:59 Uhr

Jetzt bitte nicht den Kopf in den Sand stecken – die Erde ist noch zu retten. Das ist das Ergebnis, nach einer Debatte mit Überlänge zum dritten Teil des aktuellen IPCC-Weltklimaberichts. Unser Leben wird sich rapide ändern müssen. Aber das ist gar nicht mal so schwierig und ungemütlich. Außer für fossile Energieträger – für die darf es keine Schonfrist geben.

  • Klimawandel kann jetzt abgemildert werden, bei schnellem Verzicht auf fossile Energieträger
  • 1,5-Grad-Ziel ist kurzfristig kaum zu halten, langfristig bestehen aber noch Chancen
  • neue Technologien schneller günstig verfügbar als gedacht


Wenn Sie einen größeren Appetit nach einem Toastbrot mit Honig verspüren und noch eine halbe Scheibe auf Vorrat haben, dann ist diese Ausgangssituation besser, als wenn sie gar kein Toastbrot mehr hätten. Sie kommen aber trotzdem nicht drum herum, schon bald Mantel und Schuhe anzuziehen und neues Toastbrot zu kaufen – damit aus der halben eine ganze Scheibe wird und sie für künftigen Heißhunger gewappnet sind.

Industrieanlage: Direct Air Capture von der Rückseite. 24 Lüftungsventilatoren aufgereiht an einem Block, Rohre, darunter zwei Männer die sich mit Händen in den Taschen unterhalten. 4 min
Bildrechte: imago images/Cover-Images

Der sechste Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC ist mit dem am Montagnachmittag veröffentlichten dritten Teil komplett. Nach dem Ist-Zustand und den Auswirkungen stand nun das nach wissenschaftlichem Goldstandard folgerichtige Handeln im Fokus. Und auch das, was bereits geschafft ist – ein halbes Toastbrot nämlich: Der Mitte des vergangenen Jahrzehnts veröffentlichte Vorgängerbericht konnte noch nicht ahnen, wie schnell günstige Wind- und Sonnenenergie zu erzeugen sind. Und welche Fortschritte in der Batterietechnik erzielt würden. Oder dass man ja auch CO2 aus der Luft saugen könne und dann im Boden speichern – als letzte Maßnahme hin zur Klimaneutralität.

Wirklich Schluss mit fossiler Energie

Ein Lobgesang ist der Bericht freilich nicht. Dafür einer, der eine eindeutige Sprache spricht: Das fossile Zeitalter ist vorbei, ein für alle Mal. Für diese Dekade gilt es, endlich das Ruder rumzureißen und Kohle, Öl und Gas den Rücken zu kehren. 2019 hat deren Verbrennung Rekordwerte erzielt. Die Dekarbonisierung lässt viel zulange auf sich warten. Darauf weist Jan Christoph Minx hin, der am Berliner Mercator-Institut forscht und sich als ein Koordinierender Leitautor mit diesem Thema im neuen IPCC-Bericht auseinandergesetzt hat. Aber selbst hier gebe es Anzeichen für Fortschritte: Die Zunahme fossiler Energieträger habe sich verlangsamt.

vier Diagramme zeigen deutlichen Preisrückgang pro Megawattstunde bei Photovoltaik, Onshore-Wind und Offshorewind sowie pro Kilowattstunde bei Lithium-Ionen-Batterien pro Kilowattstunde.
Klimafreundliche Technik: Im Vergleich zu den Preisen vor zwanzig Jahren gibt es die heute für nen Appel und ein Ei. Bildrechte: IPCC, MDR/Florian Zinner

Was der Bericht auch deutlich macht: Das ambitionierte 1,5-Grad-Ziel wird mehr und mehr zu einer theoretischen Herausforderung, deren Erreichbarkeit Zweifel aufkommen lässt. Um das 2-Grad-Ziel steht es nicht viel besser: "Das würde ab 2030 Dekarbonisierungsraten jenseits jeglicher Präzedenzfälle verlangen" – sprich: ein noch nie gesehenes Engagement. Das sagt Volker Krey in einem Briefing des Science Media Centers. Krey ist Energie- und Umweltforscher am IIASA im österreichischen Laxenburg und ebenfalls Leitautor für den neuen IPCC-Bericht.

Krey weist auf einen doppelten Misstand hin, was die kurzfristigen Maßnahmen zur klimatischen Schadensbegrenzungen betrifft: Die bisher implementierten Politikmaßnahmen würden nicht mal reichen, um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Geschweige denn die, die eigentlich notwendig sind. Immerhin: Maßnahmen nicht-nationaler Akteure (wie z.B. Unternehmen) haben das Potenzial, diese Lücke zu schließen.

Die positive Nachricht ist: Es gibt noch 1,5-Grad-Pfade.

Jan Christoph Minx Klima- und Nachhaltigkeitsforscher

Trotzdem sind jetzt Maßnahmen angesagt, die jeden einzelnen Menschen betreffen werden. Die sozialen Aspekte im Wettlauf gegen die Klimakrise sind zum ersten Mal Teil des IPCC-Berichts. Dabei geht es zum einen um Verhaltensänderungen an sich: Zum Beispiel, wie es gelingen kann, dass Menschen weniger Fleisch verzehren. Außerdem behandelt dieser Teil relevante Infrastrukturanpassungen – also etwa neue Fahrradwege oder Sammeltaxiangebote. Schließlich geht es noch um Endnutzungstechnologien: Wärmepumpen in Neubauten zum Beispiel.

Überschreiten des 1,5-Grad-Ziel (zumindest vorerst) wahrscheinlich

Der Teilbericht zeigt Methoden auf, Treibhausgas-Emissionen zu verhindern und zu begrenzen – und richtet sich damit an politische Entscheidungsträgerinnen und -träger. Das ist kein Freifahrtschein für jede Einzelne und jeden Einzelnen, denn schließlich obliegt es allen, diese menschgemachte Katastrophe zu verhindern. Ohne die politischen Weichenstellungen wird es aber nicht funktionieren. Ein Grund, warum die Finalisierung des Papiers diesmal besonders lang gedauert hat. Zwar haben die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Vorrecht zu entscheiden, was im Bericht steht und was nicht. Den Wunsch, ihre Interessen vertreten zu wissen, verspüren die Länder dieser Welt natürlich trotzdem. Auch im Klimaschutz bereits ambitionierte Nationen.

Ambitioniert erscheint es ebenfalls, nach wie vor am 1,5-Grad-Ziel festzuhalten – angesichts der Tatsache, dass von Dekarbonisierung nicht viel zu merken ist. Ist zwei Grad das neue Einskommafünf? "Die positive Nachricht ist: Es gibt noch 1,5-Grad-Pfade", betont Jan Christoph Minx. Was die betrifft, stünden wir vor einem entscheidenden Jahrzehnt, das nicht noch einmal so aussehen darf wie das vergangene. Klar sein muss auch: selbst bei optimistischen Szenarien ist ein Überschreiten des 1,5-Grad-Ziels wahrscheinlich: Overshooting, also übers Ziel hinausschießen, nennt man das, nur eben im negativen Sinne.

Grafik zeigt verschiedene Wege im Stil von Pfaden mit Stellschrauben, wie durch Maßnahmen eine Erholung des Klimas bis 2100 erreicht werden können. Einige Wege sind schon verpasst. Bei zu spätem Handeln kann sich das Klima immer schlechter erholen. Störfaktoren wie Klimaereignisse oder Pandemien können die Wege beeinflussen.
Je weiter die Zeit voranschreitet und je weniger Stellschrauben für eine nachhaltige Erwärmung gedreht werden, desto weniger kann sich das Klima erholen. Bildrechte: IPCC/MDR WISSEN

Langfristig sollte es aber keinen Abgesang auf die ambitionierten 1,5 Grad geben, in der Hoffnung, dass man es "schon irgendwie wieder hinbekommt". Moderne Technologien wie Direct Air Capture – also das Herausfiltern von Treibhausgasen in der Luft – und das Speichern im Boden können hier unterstützen, zumindest wenn sonst nichts hilft. Klassische Emissionsreduktionen und natürliche Neutralisierung – Stichwort Aufforstung – sollten aber den Vorrang haben.

Der mühselige Umstand, ein neues Toastbrot kaufen gehen zu müssen, hat auch sein Gutes: Sie können endlich mal die Marke wechseln, vielleicht eine neue Sorte ausprobieren. Und auf den Weg zum Laden fallen Ihnen möglicherweise noch gute Dinge ein, die sie gleich mit besorgen können. Felix Creutzer, ebenfalls vom Mercator-Institut und Koordinierender Leitautor im IPCC-Bericht, findet, die Abkehr der Klimakrise sei "machbar, ohne in die Steinzeit zurückzufallen". Sondern vielmehr in ein System zu fallen, "indem wir eine bessere Lebensqualität haben." Also: Architektur mit grünen Fassaden, weniger schlechter Luft in Innenstädten, spannende neue Gerichte auf dem Teller – der Umwandlungsprozess zu einer klimapositiven Gesellschaft kann aufregend sein. Und die Zukunft spannender als ein Weiter-wie-bisher.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 04. April 2022 | 18:00 Uhr

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