Sozialer Aufstieg "Kinder aus Nicht-Akademiker-Haushalten sind nicht dümmer oder fauler"
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22. Januar 2025, 16:15 Uhr
In kaum einem anderen Land ist der Erfolg in der Schule so abhängig von der sozialen Herkunft wie in Deutschland. Das ist eine entscheidende Hürde für Kinder, deren Eltern sich wünschen, dass sie es einmal besser haben.
Etwa im Jahr 2000 ist eine Spaltung zwischen Arm und Reich in Deutschland entstanden, die seitdem immer größer wird. Dorothee Spannagel ist Referentin für für Verteilungsanalyse und Verteilungspolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung und beobachtet diese Entwicklung kritisch:
"Die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen in Deutschland öffnet sich seit vielen Jahren. Das bedeutet: Wer schon früher gut verdient hat, verdient heute teilweise wesentlich besser. Für geringe Einkommen gilt umgekehrt, dass es nur sehr geringe Zuwächse gegeben hat. Heißt das aber auch, dass es kaum noch soziale Mobilität gibt? Dass also kaum jemand von einem Niedrigverdiener zu einem Gutverdiener wird und umgekehrt?"
Ein Trend ist die wachsende Auseinanderentwicklung der Einkommen, der um das Jahr 1999 eingesetzt hat. Diese Ungleichheit ist etwa bis 2006 stark angestiegen. Danach hat sich die Entwicklung zunächst abgeflacht, bis sie dann in kleinen Wellen wieder angestiegen ist. Der zweite Trend ist die Verfestigung der Einkommensverteilung. Viele Menschen bleiben jetzt über Jahre hinweg in einer Einkommensposition, wenn sie sich am unteren Rand der Verteilung befinden, sprich: Wer sich einmal in Einkommensarmut befindet, hat es sehr schwer, da wieder herauszukommen. Das Gleiche gilt, soweit man das sagen kann, auch für das obere Ende der Einkommensverteilung. Da muss man aber einschränken, dass die Reichen in den Umfragedaten, auf denen diese Aussagen basieren, nicht so gut abgedeckt sind.
MDR WISSEN: Wie ist das mit der sozialen Mobilität der Kinder: Wie sind ihre Chancen darauf, einmal besser dazustehen, als ihre Eltern?
Dorothee Spannagel: Hier sprechen wir von der sogenannten intergenerationellen sozialen Mobilität, also der Frage, ob es Auf- und Abstiege im Lauf von mehreren Generationen gibt. Da kann man ganz grob sagen, dass diese Form der Mobilität wieder abnimmt. Sie war sehr stark in den 1950er- bis 1970er-Jahren vor allem infolge der Bildungsexpansion. Da haben zum Beispiel Frauen extrem aufgeholt aber auch zuvor bildungsferne Schichten. Etwa die Kinder von Handwerksmeistern haben dann eine Fachhochschulreife erreicht und studiert. Die Mobilität zwischen den Generationen war also sehr hoch. Aber auch das hat Ende der 1990er-Jahre stark nachgelassen.
Warum gab es diesen Einschnitt?
Zum einen würde ich sagen: Die Bildungsexpansion funktioniert nur einmal. Wenn Frauen bei den Bildungsabschlüssen zu den Männern aufgeholt haben und nun teilweise sogar besser dastehen, dann geht das in der darauffolgenden Generation nicht noch einmal. Platt ausgedrückt könnte man sagen: Das Potenzial ist dann abgefrühstückt. Wenn ich bereits einen Hochschulabschluss habe, kann mein Kind keinen höheren Abschluss erreichen. Zum anderen aber fällt die Trendwende in den gleichen Zeitraum, wie das Auseinanderdriften der Einkommen. Und wir können diese Entwicklung in vielen europäischen Ländern sehen.
Was hat sich damals verändert?
Das hat viel mit den Sozialreformen zu tun, die in Deutschland unter dem Schlagwort "Agenda 2010" durchgeführt wurden. Dazu gehören auch die Hartz-Reformen, die den Niedriglohnsektor stark gefördert haben. Hatten viele Menschen zuvor Leistungen bekommen, die ihren Lebensstandard sichern sollten, fielen sie jetzt auf eine Grundsicherung zurück, bekamen also entsprechend weniger. Dieses politische Verständnis finden wir in vielen europäischen Ländern: Das Geld sollte zum Überleben reichen, mehr aber auch nicht. Damit einher geht die Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt. Menschen sollten mobiler zwischen Arbeitsorten werden und auch schlechter bezahlte Jobs annehmen müssen, wenn sie arbeitslos wurden.
Wie sieht es heute mit der Möglichkeit von Kindern aus, durch Bildung sozial aufzusteigen? Sind die Hindernisse für sie größer geworden, wenn die Eltern noch keine Hochschulabschlüsse haben?
Da muss ich auf eine zentrale Erkenntnis der PISA-Studien hinweisen: In Deutschland ist der Bildungserfolg ganz stark abhängig von der sozialen Herkunft und zwar viel stärker, als in den allermeisten westlichen Ländern. Die meisten Kinder erreichen den Bildungsstand, den die Eltern hatten. Natürlich gibt es Aufsteiger. Wir kennen Beispiele unter Menschen, deren Familie als Geflüchtete nach Deutschland eingewandert sind und die für deutsche Verhältnisse ein vergleichsweise niedriges Bildungsniveau mitgebracht haben. Aber auch für diese Menschen gilt: In anderen Ländern ist es für sie leichter, im Bildungssystem erfolgreich zu sein, als in Deutschland.
Studien weisen immer wieder darauf hin, dass dafür die frühe Selektion der Bildungswege entscheidend ist, also dass Kinder in den meisten Bundesländern schon nach der vierten Klasse entscheiden müssen, ob sie einmal Abitur machen und studieren wollen oder ob sie den Weg in einen Ausbildungsberuf wählen. Warum führt diese frühe Selektion dazu, dass Kinder oft den Bildungsweg ihrer Eltern gehen?
Sieht man einmal von Gemeinschafts- oder Gesamtschulen ab, die es in Deutschland ja nicht flächendeckend gibt, dann sieht man, dass es an den weiterführenden Schulen sehr homogene soziale Milieus gibt. Teilweise ist das schon in den Grundschulen so, je nachdem, wie das Einzugsgebiet sozial strukturiert ist. Es gibt etliche Studien, die belegen, dass Kinder von bildungsstarken Haushalten, also aus Akademikerfamilien, häufiger eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen als Kinder, deren Eltern nicht studiert haben – auch wenn die schulische Leistung gleich gut ist. Die Lehrer an den Grundschulen, die die Eltern kennen, denken häufig: Für das Kind aus dem bildungsfernen Haushalt wird das Gymnasium wahrscheinlich zu schwierig. Den Eltern fehlt vielleicht das Geld, um Nachhilfe zu bezahlen oder die Zeit und das Wissen, dem Kind selbst zu helfen. Umgekehrt denken sie: Diese Eltern haben selbst studiert, da wird das schon klappen. Selbstverständlich sind die Kinder aus Nicht-Akademiker-Haushalten keineswegs dümmer oder fauler.
Welche Rolle spielen da Umgangsformen? Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat ja darauf hingewiesen, dass nicht nur Geld den sozialen Unterschied macht, sondern auch soziale Verhaltensweisen, kulturelle Codes, Beziehungen.
Das ist in der Grundschule wahrscheinlich noch nicht so entscheidend, wenn man mal absieht von so Faktoren wie Sprache und Aussprache, dass da Kinder mit einem klaren Hochdeutsch vielleicht bevorzugt werden, im Vergleich zu denen, die starken Dialekt sprechen oder die aus Migrationshaushalten kommen und noch kein flüssiges Deutsch sprechen. Der Habitus, die Umgangsformen, das spielt dann vermutlich eher später eine Rolle, wenn es etwa um Auswahlgespräche an Universitäten geht, um Stipendien und Ähnliches.
Was kann Politik gegen solche Hürden unternehmen?
Man kann sehr viel erreichen, wenn man solche Hürden bewusst macht. Zum Beispiel den Lehrkräften in den Grundschulen deutlich zu machen, dass sie unter Umständen einen gedanklichen Bias haben. Außerdem müsste strukturell viel geändert werden im Bildungssystem. Später ist es schwierig, mit staatlicher Regulation einzugreifen, etwa in die Vergabe von Stipendien. Da müssen sich die Mitglieder von Auswahlkommissionen selbst klarmachen, dass es diese Codes gibt und sie nicht unbedingt etwas aussagen darüber, ob jemand Talent hat oder nicht.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | You can win if you want? Das falsche Versprechen vom Aufstieg | 22. Januar 2025 | 20:15 Uhr
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