Zwei Frauen und ein Mann vor einem Gebäude
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Gleiche Chancen auf Karriere? Deutschland ist längst eine Klassengesellschaft

22. Januar 2025, 09:00 Uhr

In Deutschland braucht es sechs Generationen, um aus Armut in die Mitte der Gesellschaft aufzusteigen; in Dänemark sind es nur zwei Generationen. Das Versprechen der alten Bundesrepublik: Streng Dich an und Du kannst alles werden, gilt also so nicht mehr. Das ist gefährlich für die Demokratie, sagt Politikwissenschaftlerin Martyna Linartas. Schriftstellerin Marlen Hobrack sagt: "Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh". Ist Klasse in Deutschland wirklich von Geburt an festgeschrieben?

Marlen Hobrack arbeitet heute als Schriftstellerin und Journalistin. Sie ist in Bautzen aufgewachsen und lebt inzwischen in Leipzig. In der MDR-Dokumentation "Das falsche Versprechen vom Aufstieg" erzählt sie von ihren Eltern: Der Vater ist mit der achten Klasse von der Schule gegangen, die Mutter nach Ende der neunten Klasse. Die Mutter arbeitet immer – zunächst als Fleischereiverkäuferin, dann als Sachbearbeiterin, später lange Jahre als Reinigungskraft. Sie versucht, den Kindern zu Hause alles zu bieten.

Vorurteile und Schubladendenken

Doch als Marlen 13 ist, bricht die bisherige heile Welt zusammen – der Gerichtsvollzieher steht vor der Tür, Mahnungen und ungeöffnete Rechnungen stapeln sich in Wäschekörben. Das Geld fehlt in der Familie, Kleidung kommt nun aus Spenden. Und Marlen Hobrack, die Klassenbeste der Grundschule, beschließt, dass sie mit der Gesellschaft nichts mehr zu tun haben will.

Marlen Hobrack
Marlen Hobrack, Schriftstellerin und Autorin. Sie zahlt bis heute ihren Studienkredit ab. Bildrechte: MDR

Marlen Hobrack verweigert drei Jahre lang den Schulbesuch. "Ich erinnere mich an eine Psychiaterin, die also meiner Mutter, als sie uns verabschiedete, sagte, sie überlasse es jetzt der Intelligenz meiner Mutter, wie sie mich in die Schule bringe. Es war unglaublich herablassend und auch eigentlich niederträchtig aus dieser Position der Psychiaterin heraus, die ja Hilfestellungen bieten soll. Ich glaube, das hat ganz viel mit Klasse zu tun, diese Idee, dass sie auf meine Mutter herabgesehen haben." Marlen macht doch noch das Abitur und studiert. Und ist bis heute verschuldet, wegen ihres Studienkredites, den sie mit einem Zinssatz von acht Prozent nach wie vor abzahlt… Hobrack sagt: "Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh."

Das hat ganz viel mit Klasse zu tun, [...] dass sie auf meine Mutter herabgesehen haben

Deutschland – eine Klassengesellschaft?

Fast 80 Prozent aller Kinder aus Akademiker-Haushalten schaffen es an die Uni, nur 25 Prozent aus nicht-Akademiker-Haushalten. Bildungstrichter nennt man das. Und er gilt nahezu unverändert in Deutschland. Der ehemalige SAP-Personalmanager Cawa Younosi findet diesen Hochschultrichter erschreckend. Denn es sei doch sehr unwahrscheinlich, "dass ausgerechnet die Kinder der Akademiker mit der entsprechenden Intelligenz und Ausstattung zur Welt kommen und die anderen nicht."

Herkunftsscham und Obrigkeitsdenken

Younosi selbst stammt aus Afghanistan, hat seine Herkunft jedoch lange verheimlicht, aus Scham. Und bis heute, sagt Younosi, seien zwei Dinge in seinem Leben fast immer konstant: "Mir wird mit Skepsis begegnet erstmal und dann werde ich unterschätzt." Er findet, es gibt eindeutig ein Problem im Bereich Chancengerechtigkeit – obwohl doch im Gesetz steht, alle haben die gleichen Rechte.

Cawa Younosi
Cawa Younosi, Ex-SAP-Manager. Er kritisiert fehlende Chancengleichheit in Deutschland. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Mir wird mit Skepsis begegnet erstmal und dann werde ich unterschätzt.

Cawa Younosi

Was also läuft falsch in Deutschland? Elitenforscher und Soziologe Michael Hartmann geht in die Geschichte zurück. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Amerikaner versucht, ein neues Schulsystem zu etablieren, mit möglichst langem gemeinsamen Lernen der Kinder. Denn sie waren der Meinung, dass hierarchische deutsche Schulsystem habe dazu geführt, dass das Obrigkeitsdenken in Deutschland tief verwurzelt war. "Und wenn man sich die Berufsgruppen anguckt, den höchsten Anteil an NSDAP und vor allem an SS-Mitgliedern hatten die Ärzte und die Juristen. Also wenn man mal vom Adel absieht, da waren es noch mehr."

Michael Hartmann
Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Sozialistische Einheitsschule, das machen nur die Bolschewiken!

Doch das Establishment in Deutschland habe die Veränderungen hinausgezögert. Und dann bekamen die Eliten zu ihrem Glück politischen Rückenwind, beschreibt Hartmann die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg: "In der sowjetischen Zone ist das System eingeführt worden. Und damit konnte man sagen, sozialistische Einheitsschule, das machen nur die Bolschewiken!"

Keine Chancengleichheit schon in der Schule

Und damit wird Schubladendenken bis heute befördert und Chancengleichheit verhindert. Natalya Nepomnyashcha kommt mit elf Jahren mit ihrer Familie aus Kiew nach Bayern. In Deutschland wird sie in die Hauptschule gesteckt. Will dann aber aufs Gymnasium gehen und bittet mit einem Zensurenschnitt von 1,3 darum, nach den Sommerferien wechseln zu dürfen. "Und der Konrektor hat mir auf jeden Fall gesagt, wenn ich auf Gymnasium gehört hätte, wäre ich ja schon auf einem und das wird ja schon noch einen Grund haben, warum ich auf der Realschule bin. Und dass ich sie in Ruhe fertig machen sollte, die Realschule, weil ich werde mich ja schwer genug damit tun …"

Natalya Nepomnyashcha
Natalya Nepomnyashcha hat das Netzwerk Chancen gegründet. Bildrechte: MDR

Das wird ja schon noch einen Grund haben, warum ich auf der Realschule bin.

Natalya Nepomnyashcha

In Deutschland darf Natalya kein Abitur machen. Und studieren kann sie nur in Großbritannien. Förderung oder Unterstützung durch den deutschen Staat erhält sie keine.

Was kostet es heute in Deutschland aufsteigen zu wollen?

Damit sich etwas ändert, hat Natalya das Netzwerk Chancen gegründet. Die 35-Jährige will jungen Menschen aus finanzschwachen Familien helfen, Kontakte zu knüpfen und Netzwerke zu bilden. Denn die Kluft zwischen den sozialen Schichten wächst in Deutschland wieder.

Der Aufstieg über soziale Grenzen hinweg wird zunehmend schwerer. Es steht die Frage nach fundamentalen Werten und nach Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Denn ein System, das einer Klassengesellschaft immer ähnlicher wird und in dem Leistung und Engagement weniger schwer wiegen als Herkunft und Erbe, das ist demokratiegefährdend, findet Martyna Linartas, die an der FU Berlin zu Ungleichheit forscht.

 Martyna Linartas
Martyna Linartas forscht zum Thema Ungleichheit. Bildrechte: MDR

Ein System, das einer Klassengesellschaft immer ähnlicher wird [...] ist demokratiegefährdend.

Und selbst wer den Bildungs-Aufstieg schafft, stößt immer wieder an weitere gläserne Decken. Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann konnte in einer Studie nachweisen, dass selbst nach Erlangung eines Doktorgrades die Herkunft darüber entscheidet, wer weiter Karriere macht – "die Kinder von Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern haben eine 17-mal so große Chance, eine Vorstandsposition an einem der 400 größten Unternehmen zu kriegen."

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Das falsche Versprechen vom Aufstieg | 22. Januar 2025 | 20:15 Uhr